Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin Singer
Pferd betreute, liegt im Krankenhaus. Ich kenne das einsame Junggesellendasein zur Genüge, das können Sie mir glauben. Darum freue ich mich für Ihren Großvater. Schön, dass Sie zu ihm halten. Er ist ein prachtvoller Mensch. Ich mag ihn – und er mich glücklicherweise auch, wie es scheint.«
»Ja, er hat einen Narren an Ihnen gefressen. Genau wie mein Kater.«
»Das stimmt mich optimistisch. Vielleicht liegt die gegenseitige Sympathie irgendwie in der Familie. Sagen Sie, haben Sie und Prinz sich schon ein wenig beschnuppert?«
Bettina schüttelte verwirrt den Kopf.
Da ergriff Ulrich spontan ihre Hand. »Kommen Sie! Bitte!« Er zog sie über den Hof, öffnete die Stalltür und schaltete das Licht ein.
Der Schimmelhengst begrüßte seinen Herrn mit einem freudigen Wiehern. Ulrich Warner zog ein Stückchen Würfelzucker aus der Jackentasche, wickelte es aus und reichte es seinem vierbeinigen Freund auf der flachen Hand. Dann streichelte und tätschelte er das Tier so zärtlich, dass Bettina ganz gerührt war.
Er steckte ihr verstohlen ein Stück Zucker zu, zwinkerte und meinte: »Eine kleine Freundschaftsgabe kann nicht schaden, was meinen Sie?«
Bettina nickte mit schimmernden Augen. Sie, das Kind des Waldes, spürte ganz deutlich, dass Ulrich Warner und sein Pferd wirkliche Freunde waren. Die Schranken, die die Menschen aufbauten, um sich von den anderen Geschöpfen abzusondern, waren zerbrochen.
»Wir wollen gleich Nägel mit Köpfen machen«, sagte Ulrich leise, aber eindringlich. »Lassen Sie uns mit Prinz ein Stückchen in den Wald hinausziehen. Erst wenn Sie ihn geritten haben, ist der Bund besiegelt.«
»O ja, gern!« Die Nähe des herrlichen Tieres wirkte auf Bettina unwiderstehlich. Sie gab ihre spöttische Zurückhaltung auf.
Sie sattelten und zäumten den Hengst, der dem neuen Abenteuer mit froher Erwartung und nur mühsam gebändigtem Temperament entgegensah.
Der Waldweg lag im bleichen Licht des Mondes deutlich sichtbar vor ihnen – eine silberne Schneise zwischen den schwarzen hohen Fichten.
»Bitte.« Ulrich drückte dem Mädchen die Zügel in die Hand.
»Danke.« Sie setzte den linken Fuß in den Steigbügel, spürte einen Augenblick lang die helfenden Hände des Mannes, und schon saß sie im Sattel. Weit beugte sie sich über den Hals des edlen Tieres, flüsterte ihm beruhigende, freundschaftliche Worte ins Ohr, tätschelte den glatten warmen Hals.
Wie im Traum ritt Bettina den Weg entlang, der sich in den Tiefen des Waldes verlor. Der Mond schien ihr ins Gesicht und zauberte silberne Glanzlichter auf ihr blondes Haar. Das Pferd bewegte sich so leicht, so schwebend, als fliege es durch ein Märchenland, als habe es gemeinsam mit seiner Reiterin die schwere Erde längst hinter sich gelassen.
Wie lange war sie schon unterwegs? Minuten? Eine Viertelstunde?
Die Zeit war nur noch ein Augenblick der Ewigkeit. Bettina glitt aus dem Sattel und führte das Pferd auf eine Waldwiese, die geheimnisvoll leuchtete. Glühwürmchen in den hohen Gräsern wetteiferten mit dem Silberschein des Mondes.
»Danke, mein Prinz.« Bettina hauchte einen Kuss auf die weichen Nüstern des Tieres. »Danke, dass du deine Kraft und Wildheit nicht ausgenutzt hast.«
Sie ließ sich auf einen meterdicken Baumstumpf sinken. Der weite weiße Rock bauschte sich wie ein Feengewand.
Da hörte sie Schritte. Auf dem Weg tauchte die Silhouette des Mannes auf, hoch und kraftvoll. Bettina erhob sich erschrocken. »Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie warten lassen. Aber schauen Sie nur, haben Sie schon einmal so etwas Schönes gesehen?«
Mit einer leichten Handbewegung wies sie zu Prinz hinüber.
»Nein«, hörte sie ihn antworten. »Noch nie in meinem Leben.«
Etwas in seiner Stimme ließ Bettina aufhorchen. Langsam wandte sie den Kopf, und sie bemerkte, dass er nicht zu seinem Pferd hinüberblickte, sondern sie unverwandt ansah.
»Nein, so etwas Schönes wie dich habe ich noch nie gesehen«, murmelte er.
Langsam hob er beide Hände. Unendlich behutsam berührte er ihre Taille, so vorsichtig, als wolle er prüfen, ob sie eine Erscheinung aus Mondlicht sei oder eine Gestalt aus Fleisch und Blut.
Mit einem einzigen Schritt hätte Bettina sich seinen zärtlichen Händen entziehen können. Doch diesen Schritt vermochte sie in dieser Nacht nicht zu tun. Sie waren beide gefangen in einem unirdischen Zauber, der alle Bedenken wesenlos werden ließ.
Bettina spürte eine Sehnsucht, die aus ihrem Herzen brach und in jede Pore ihres Körpers drang. Eine Sehnsucht, die wie eine heiße Flamme um ihre Lippen zuckte. Eine Sehnsucht, die ihre Seele weit und empfänglich für das Du machte, das sie so lange vergeblich gesucht hatte, auf unendlichen Irrwegen, und das jetzt vor ihr stand.
Sie sanken einander in die Arme, zwei Menschen von Anbeginn der Welt füreinander geschaffen.
Sie küssten sich, und in diesem Kuss verschmolzen nicht nur ihre Lippen, sondern auch ihre Herzen und die Seelen.
Später pfiff Ulrich seinem Pferd. Augenblicklich trabte Prinz elegant über die Lichtung. Der Mann hob Bettina so leicht und mühelos auf den Rücken seines treuen Gefährten, als habe die Schwerkraft der Erde all ihre Wirkung verloren. Dann schwang auch er sich in die Höhe und nahm das geliebte Mädchen in die Arme.
Bettina lehnte sich an seine Brust und während seine Lippen zärtlich durch ihr Haar glitten, ihre Schläfen und Wangen küssten, als der Hengst gleichmäßig und ruhig den mondhellen Weg entlangschritt, erlebte Bettina ein vollkommenes Glück.
*
So einen Sonntag hatte Bettina noch nie erlebt! Die Sonne vergoldete den Wald, als gelte es, die Erde für tausend trübe Novembertage zu entschädigen. Die Blumen leuchteten in einer Farbenpracht, wie Bettina sie noch niemals wahrgenommen hatte!
Ihr Großvater wirkte um zehn Jahre verjüngt, und er strahlte, als habe er das Große Los gezogen. Schnubbelchen, ihr spröder Kater, sprang nicht nur zu Ulrich auf den Schoß, sondern kam anschließend auch schnurrend zu ihr, als wollte er sagen: »Brauchst nicht eifersüchtig zu sein, ich hab dich lieb.«
Nach dem Mittagessen – es hatte einen köstlichen, von Bettina mit besonderer Liebe zubereiteten Sauerbraten gegeben verließen sie Hand in Hand das Forsthaus, der dunkelhaarige Mann und das blonde Mädchen. Der pensionierte Forstmeister stand zufrieden schmunzelnd hinter der Gardine.
Bettina fühlte sich so leicht und froh wie der Sommerwind, der sie zärtlich umschmeichelte und mit ihrem Haar spielte.
»Sag mal«, begann sie nach einer Weile, »wie bist du eigentlich in unser Dorf gekommen?«
Ulrich zögerte einen Moment lang. »Ich hatte vom Heideblütenfest in der Zeitung gelesen.«
»Und das musstest du dir unbedingt anschauen? Du, der überforderte, abgehetzte Manager?«
»Warum nicht? Hin und wieder muss jeder ausspannen. Warum also nicht bei einem lustigen Volksfest?«
»Hattest du derartige Anwandlungen schon öfter?«
»Nein, eigentlich nicht. Diesmal ergab sich eben die Gelegenheit. Ich war vielleicht gespannt, wie die neue Heidekönigin wohl aussehen mochte, das kann ich dir sagen!«
Bettinas Augen wurden schmal. »Wieso warst du gespannt? Das verstehe ich nicht.«
Zuckte er nicht unmerklich zusammen? Geriet er in Verlegenheit?
»Weil ich von der bevorstehenden Krönung in der Zeitung gelesen hatte!«, erklärte er betont forsch. »Ich fragte mich, was ist das wohl für ein Mädchen, das man zur Königin ausruft? Ist sie ländlich-sittlich? Ist sie schön? Ist sie stolz? Ist sie nett?«
Bettina blieb stehen und musterte ihn misstrauisch.
»Sag mal, du hattest doch nicht etwa vor, mit der neuen Heidekönigin Reklame für deine Marmeladen zu machen?«