Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin Singer
keiner mehr findet!«, stieß der Achtjährige entschlossen und mit finsterem Gesichtchen hervor.
»Und ich komme mit!«, erklärte Ulrich spontan. »Dann sind wir eben beide verschwunden und werden in Kanada oder Australien Trapper.«
Da leuchteten die blauen Augen des Kindes auf. »Das würdest du wirklich tun? Mann, Ulrich, du bist Klasse! Prima! Jetzt habe ich keine Angst mehr.«
Ulrich zauste die Haare seines kleinen Freundes. »Als Trapper brauchen wir zwar keine Frau, müssen aber alles alleine machen, sogar kochen und abwaschen.«
»Das macht nichts! Aber …« Tobias senkte den Kopf. »Eine Mami, weißt du, eine richtig nette, die hätte ich doch ganz gerne.«
»Du sollst sie haben! Es wäre doch verhext, wenn wir für so einen Prachtburschen wie dich keine Mami finden. Aber jetzt muss ich wirklich verduften, und es ist besser, wenn wir erst einmal jeden Ärger vermeiden. Tschüs, Tobias.«
Tobias wich den Kindern, die durch den Garten tobten, aus und schlich sich verstohlen, ins Gebäude. Die Tür zum Büro stand halb offen. Der Heimleiter, der am Schreibtisch saß, blickte kurz auf.
»Ach, Tobias, komm doch bitte einen Moment zu mir.«
Tobias stellte die Marmeladengläser rasch hinter eine Topfpflanze und betrat zögernd das Büro.
»Setz dich.«
Voller Unbehagen hockte Tobias sich auf eine Stuhlkante.
»Tja, mein lieber Tobias, deine zukünftigen Eltern haben sich wieder einmal über dich beschwert. Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass du dir deine ganze Zukunft kaputtmachst, wenn du nicht wenigstens ein bisschen guten Willen zeigst?«
»Ich brauche keine Zukunft!«, stieß der blonde Junge trotzig hervor. »Ulrich holt mich bald raus!«
Olaf Neumann musterte seinen Schützling spöttisch. »Wenn du dein Vertrauen in Ulrich Warner setzt, kannst du mir leid tun. Ulrich ist doch nichts anderes als ein großer Junge, der den Kopf voller Flausen und Rosinen hat.«
»Ulrich ist prima!«, protestierte Tobias empört. »Wenn uns keine Frau heiraten will, wandern wir nach Kanada aus und werden Trapper, jawohl!«
Der Heimleiter seufzte und verdrehte komisch die Augen. »Typisch. Daran erkennst du, dass dein Freund Ulrich nichts anderes als ein Spinner ist, als Adoptivvater absolut ungeeignet.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Tobias wütend. »Ulrich ist der beste Vati, den es gibt! Und außerdem halten wir zusammen, das hat er versprochen!«
Olaf Neumann schüttelte missbilligend den Kopf. »Schlimm, sehr schlimm, wenn ein Erwachsener unvernünftiger ist als ein Kind. Nimm doch Vernunft an, Tobias. Höre endlich auf, dich an Ulrich Warner zu orientieren. In unserer Zeit können nur die Realisten bestehen, nicht die Träumer.«
Tobias schwieg und senkte den Kopf.
»Du kannst jetzt gehen«, entließ ihn der Heimleiter. Eilig verließ der Junge das Büro und schloss die Tür hinter sich. Als er sich nach seinen Marmeladengläsern bücken wollte, erschrak er. Die Gläser waren verschwunden! Jemand hatte sie ihm geklaut. Vor Wut und Enttäuschung stiegen Tobias die Tränen in die Augen.
Die Welt war so trostlos …
*
Bettina fühlte sich zutiefst deprimiert. Zum ersten Mal kam ihr das Leben schrecklich sinnlos vor.
Noch kurz vor dem Gang zum Notar begann sie erneut: »Opa, müssen wir denn wirklich verkaufen? Ich arbeite jetzt nur halbtags. Wenn ich mir nun einen Ganztagsjob suchen würde?«
»Wo denn, Betti?«, seufzte der pensionierte Forstmeister. »Hier in der Gegend findest du so eine Stellung bestimmt nicht. Und was soll werden, wenn ich eines Tages nicht mehr bin? Dann würde die ganze finanzielle Last allein auf dir liegen, und du müsstest sowieso verkaufen, dir bliebe gar keine andere Wahl. Das Haus ist im Grunde viel zu groß für uns. Außerdem hat dein Vater mehr Renovierungskosten hineingesteckt, als es seinerzeit kostete. Wir haben einfach über unsere Verhältnisse gewirtschaftet.«
Bettina kämpfte mit den Tränen. »Vati konnte ja nicht ahnen, dass er so plötzlich …« Sie presste die Faust an die Lippen.
»Nein, er konnte es nicht ahnen. Obwohl wir uns eigentlich immer vor Augen halten sollten, dass jeder Tag der letzte sein kann.« Der Alte legte tröstend seine grobe Faust auf die schlanke Hand seiner Enkelin. »Betti, es ist doch alles gut. Wir bekommen es schriftlich, dass wir hier wohnen dürfen, solange wir wollen. Nicht nur ich, auch du.«
»Das könnte dem hohen Herrn so passen!«, fuhr Bettina zornig auf. »Ach, Opa. Zum ersten Mal wünschte ich mir, ich wäre schon verheiratet, und zwar mit einem reichen Mann, dann brauchten wir uns nicht zu erniedrigen.«
»Kind, was redest du da?« Der alte Forstmeister schüttelte den eisgrauen Kopf.
»Entschuldige. Was ist dieser Herr Warner eigentlich? Wer ist er, dass er sich so ganz nebenbei ein Landhaus kaufen kann, wie unsereiner Tüte Bonbons?«
»Herr Warner besitzt eine Marmeladen-Fabrik. Die Früchtegold-Marmelade. Bei uns im Supermarkt steht sie auch im Regal.«
Bettina lachte auf. »Eine Marmeladenfabrik?«
»Was ist daran so komisch?«
»Meine Güte, bei seinem Auftreten hätte ich eher erwartet, er wäre der Inhaber eines Bankhauses oder so etwas Ähnliches! Die Früchtegold-Marmelade! Das ist ja zum Totlachen!«
Rudolf Lühr schüttelte abermals verständnislos den Kopf.
Während der folgenden Tage bewegte sich Bettina wie eine Schlafwandlerin durch die Welt. Ihr Chef, Zahnarzt Dr. Meyer, der sie sonst als äußerst zuverlässige Mitarbeiterin kannte, musste sie mehrere Male ermahnen, weil sie ihm verkehrte Zahnfüllungen und Ins-trumente reichte.
Am Wochenende war es dann so weit. Der neue Besitzer des einsamen Forsthauses erschien – und zwar hoch zu Ross.
Bettina stand am Fenster ihres Zimmers und sah ihn kommen. Der Anblick verschlug ihr den Atem. Ihr Großvater eilte ihm entgegen und begrüßte ihn wie einen alten Freund. Gemeinsam führten sie den Schimmelhengst in den Stall, in dem Rudolf Lühr bereits alles vorbereitet hatte, die Wände geweißt und Futter besorgt. Später hörte Bettina die Stimmen der Männer unten im Haus. Sie hockte wie festgewurzelt auf der Bettkante, die Hände im Schoß, den Kopf steif erhoben.
Schließlich rief ihr Großvater: »Betti, wo steckst du denn? Gibt es heute keinen Kaffee?«
»Ja, ja, ich komme!« Sie schnellte in die Höhe und warf einen fahrigen Blick in den Spiegel. Ihre Augen glänzten fiebrig. Nervös strich sie mit beiden Händen ihr wellig fallendes Haar zurück.
»Opa, Opa, du weißt ja gar nicht, was du da von mir verlangst«, murmelte sie vor sich hin.
Ginge es nicht um ihren Großvater, um seinen Seelenfrieden und seine Betreuung, sie wäre geflüchtet.
Der Rock des weißen blaugetupften Kleides schwang wie eine Glocke um ihre Beine, als sie in königlicher Haltung die hölzerne Treppe hinunterschritt.
Ulrich Warner, der in der offenen Küchentür stand, bemerkte sie. Mit einer raschen Bewegung nahm er einen Blumenstrauß von der Garderobe. Es waren herrliche zartrosa Rosen – eine Farbe, die Bettina besonders liebte.
Er überreichte ihr den Strauß mit den Worten: »Auf dass wir uns gut miteinander vertragen – unter einem Dach.«
»Danke. An mir soll es nicht liegen«, erwiderte Bettina kühl, obwohl ihr Herz stürmisch pochte. Mehr noch als die wundervollen Blumen verwirrten sie die zärtlichen Blicke des Mannes. Seine Augen machten ihr eine unverhüllte Liebeserklärung. Sie eilte in die Küche, um den Strauß ins Wasser zu stellen.
»Ah, da bist du ja!«, empfing ihr Großvater sie erleichtert. »Wollen wir das gute Geschirr nehmen?«
»Klar, für ihn nur das Beste – wie