Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Danny diese besondere Geste durch und durch. Sein Magen begann zu kribbeln, und er wünschte sich, dieser Augenblick würde niemals enden. Doch die Zeit drängte. Wenn er nicht zu spät in die Praxis kommen wollte, musste er sich beeilen. So beugte er sich vor und küsste Tatjana sanft auf die Lippen.
Sie spürte seine innere Unruhe.
»Du hast keine Zeit«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Außerdem bist du aufgeregt. Liegt es daran, dass du heute zum ersten Mal mit deinem Vater in der Praxis arbeitest?« Durch die Behinderung waren Tatjanas übrigen Sinne geschult. Mit ihrer Sensibilität hatte sie Danny schon mehr als einmal überrascht und erstaunte ihn auch an diesem Morgen wieder.
»Dad fährt zuerst noch in die Klinik. Einer von Jennys Rettungsfahrern hatte einen Unfall, und er will nach dem Rechten sehen und ihr nach Möglichkeit zur Seite stehen.«
»Dein Vater ist so ein guter Mensch.« Tiefe Bewunderung lag in Tatjanas Stimme. Sie wandte den Kopf in Richtung des Tisches, an dem ein Mann saß, der nach ihr gerufen hatte, um sein Frühstück zu bezahlen und gab ihm ein Zeichen, ehe sie fortfuhr. »Immer ist er für andere da. Ihm ist keine Mühe zu groß.« Rasch beugte sie sich vor und küsste Danny wieder. »Du kannst stolz darauf sein, dass du mit ihm arbeiten darfst. Und keine Angst, er wird dir ein toller Lehrer sein.«
Danny teilte ihre Meinung.
»Muss ich eifersüchtig sein?«, erkundigte er sich scherzhaft und sah Tatjana nach, wie sie trotz ihrer Sehbehinderung mit sicheren Schritten an den Tischen vorbei in Richtung des Gastes ging, der schon sein Portemonnaie gezückt hatte.
Auf halbem Weg blieb sie stehen und drehte sich noch einmal nach Danny um.
»Es wäre ein Fehler, dir meiner zu sicher zu sein!«, mahnte sie ihn mit erhobenem Zeigefinger.
Dabei lächelte sie unwiderstehlich und entließ den jungen Arzt mit einer vagen Sorge im Herzen und dem Vorsatz, Tatjana so schnell wie möglich wiederzusehen, um ihr nur ja keine Gelegenheit zu geben, ihn zu vergessen.
*
Wie jeden Morgen war Annemarie Wendel, von allen nur liebevoll Wendy genannt, zeitig in der Praxis. Sie liebte diese Stunde der Ruhe vor dem unweigerlichen Sturm. Es gab immer etwas zu tun. So nutzte sie die Gelegenheit, um Blumen zu gießen, gründlich zu lüften, die Zeitschriften im Wartezimmer zu sortieren, frische Wasserflaschen und Gläser für die Patienten bereitzustellen und Kaffee zu kochen.
Der aromatische Duft zog durch die Praxisräume, als sie hörte, wie sich jemand räusperte.
Es war ein herrlicher Morgen, und sie hatte die Tür zur Praxis weit offen stehen lassen, um die klare, noch kühle Luft hereinzulassen. Ein wenig ungehalten über den zu frühen Gast kam sie an den Tresen.
»Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte sie der Mann im fortgeschrittenen Alter, der dort stand und sie interessiert musterte.
»Danke gleichfalls«, erwiderte Wendy den Gruß und wollte ihn eben darauf aufmerksam machen, dass die Praxis noch nicht geöffnet war, als er schon weitersprach.
»Ach, mein Morgen ist leider nicht besonders«, erklärte der Patient und setzte eine Leidensmiene auf. »Seit meiner letzten Erkältung habe ich ständig Schmerzen. Mal mehr, mal weniger. Aber weh tut es eigentlich immer«, seufzte er. »Diese Beschwerden habe ich jetzt schon zum dritten Mal in diesem Jahr. Bisher bin ich sie jedes Mal mit Nasenspray und Dampfbädern losgeworden. Aber diesmal schlägt meine Therapie einfach nicht an.« Er legte die Hand an die Stirn und schloss gequält die Augen.
Schon immer hatte Wendy ein weiches Herz gehabt, weshalb sie bei den Patienten der Praxis Dr. Norden außerordentlich beliebt war. Und auch diesmal blieb es nicht stumm.
»Das tut mir wirklich sehr leid«, bedauerte sie den Fremden aufrichtig und hatte schon vergessen, dass sie sich gestört gefühlt hatte. Sie musterte ihn heimlich, als sie um den Tresen herumging und den Computer einschaltete. Der Herr mochte ein paar Jahre älter sein als sie. Doch die grauen Schläfen und die Fältchen hinter der Brille standen ihm gut zu Gesicht. Außerdem wirkte er angenehm seriös in seinem anthrazitfarbenen Anzug. »Leider ist der Doktor noch nicht im Haus. Die Sprechstunde beginnt erst in einer halben Stunde.« Nachdem sie die Termine im Computer geprüft hatte, warf sie einen Blick auf die Karten der für den Vormittag angemeldeten Patienten, die sie schon herausgesucht hatte.
»Bitte schicken Sie mich nicht fort«, bat der Mann eindringlich und sah Wendy mit schmelzendem Blick an.
»Ich könnte Sie zwischen den ersten und zweiten Patienten schieben«, überlegte sie laut, während sie durch die Patientenkarte von Katharina Hasselt blätterte. Die junge Frau hatte sich den Zehennagel eingerissen und das Nagelbett hatte sich böse entzündet. Dr. Norden kümmerte sich intensiv darum, damit die Infektion nicht fortschritt. »Allerdings müssen Sie sich auf eine Wartezeit von einer guten Stunde einrichten.«
»In so charmanter Gesellschaft ist das doch ein Vergnügen.« Schlagartig verschwand das Leid aus dem attraktiven Gesicht des Mannes, und er blinzelte Dr. Nordens treuer Assistentin verschworen zu. Mit Genugtuung stellte er fest, dass sie errötete. »Aber ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Edgar von Platen.« Er reichte ihr die Hand.
»Ich heiße Wendy«, stammelte sie verlegen. Als sie ihre Hand in die seine legte, zog er sie überraschend an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss auf ihren Handrücken.
»Wendy?«, wiederholte Edgar von Platen versonnen. »Was für ein gewöhnlicher Name für eine so besondere Frau.« Missbilligend schüttelte er den Kopf. »Wie heißen Sie wirklich?«
Augenblicklich schlug Wendys Herz schneller.
Seit ihrer unglücklichen Ehe und Scheidung war sie zufriedener Single und genoss ihre Freiheit, ihr Leben in vollen Zügen. Der turbulente, quirlige Alltag in der Praxis bot ihr genügend Abwechslung, und sie pflegte einige gute Freundschaften, sodass sie nichts vermisste. Dennoch genoss sie die ungewohnte Aufmerksamkeit des gut aussehenden, überaus charmanten Mannes in vollen Zügen. Es war schon eine Weile her, dass ein Mann mit ihr geflirtet hatte. Noch dazu so gekonnt.
»Mein richtiger Name ist Annemarie Wendel«, gestand sie und hoffte, dass er das leise Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte.
Edgar strahlte sie an und lächelte.
»Anna-Maria!«, deklamierte er mit betörendem Augenaufschlag und unterstrich diese beiden Worte mit einer weit ausgreifenden Geste.
Um ein Haar hätte er dabei die Vase mit frischen Blumen von der Theke gewischt, die Wendy an diesem Morgen mitgebracht hatte. »Na bitte, das ist doch ein Name, der Ihrer würdig ist.« Er ließ die Arme sinken und lächelte sie strahlend an. »Wissen Sie, als selbstständiger Geschäftsmann komme ich viel herum in der Welt und treffe eine Menge Menschen. Darunter natürlich auch viele Frauen«, berichtete er leichthin und nahm von Wendy das Formular in Empfang, das neue Patienten ausfüllen mussten. Während er weitersprach, warf er einen Blick auf das Papier. »Aber mir ist schon lange keine Frau mehr begegnet mit einer Ausstrahlung, wie Sie sie haben.« Über den Rand seiner Brille schickte er ihr einen bedeutungsvollen Blick und stellte mit Genugtuung fest, wie sehr er die Assistentin beeindruckt hatte.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, stammelte Wendy über die Maßen verwirrt und versuchte sich zu erinnern, wie ihre Frisur an diesem Morgen ausgesehen hatte.
Wie immer hatte sie sich mechanisch geschminkt – ein bisschen Wimperntusche, etwas Rouge – und war sich mit der Bürste durch den unkomplizierten Haarschnitt gefahren. Wenigstens hatte sie sich an diesem Tag für das neue Sommerkleid entschieden, das ihrer Figur so schmeichelte. Ansonsten konnte sie sich nicht erklären, wie der charmante Herr von Platen zu diesem Eindruck ihrer Person kam.
»Das ist nur die Wahrheit!«, versicherte er, ehe er sich mit einem verschworenen Zwinkern ins Wartezimmer an den Tisch zurückzog, um das Formular auszufüllen.
Edgar von Platen ließ eine Wendy zurück, deren Herz so schnell schlug wie schon lange nicht mehr und der immer noch ein verklärtes Lächeln auf den Lippen lag, als Danny pünktlich vor Beginn der Sprechstunde mit der Tüte Rosinenschnecken