Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
die Schreibtischunterlage, als gäbe es dort Interessantes zu sehen. »Ihr Sohn hat schon einen OP-Termin in der Klinik vereinbart, möchte sich aber vorher unbedingt noch mit Ihnen absprechen.«
»Und wo ist das Problem?« Wendys seltsames Benehmen verwirrte Daniel. So hatte er sie noch nie zuvor erlebt. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern.
Endlich hatte sich ihr Gesicht ein wenig abgekühlt, und sie konnte ihrem Chef wieder in die Augen sehen.
»Es gibt kein Problem.« Wendy lachte ein wenig künstlich. »Davon hat doch kein Mensch gesprochen.«
Nachdenklich legte Daniel Norden den Kopf schief.
»Mir können Sie nichts vormachen«, sagte er ihr ins Gesicht. »Irgendwie wirken Sie anders als sonst.«
»Sie kennen mich wirklich gut. Aber diesmal täuschen Sie sich«, wiedersprach Wendy und schämte sich, ihrem verehrten Doktor nicht die Wahrheit zu sagen.
Doch sie hätte ihm unmöglich gestehen können, dass ihre Gedanken seit dem Besuch von Edgar von Platen nur um den gut aussehenden Herrn kreisten, der sie beim Abschied um einen Besuch am Krankenbett gebeten hatte.
Daniel haderte mit sich. Zu gerne hätte er Wendy ihr offensichtliches Geheimnis entlockt. Doch schließlich entschied er, sich zuerst um die Patientin im Wartezimmer zu kümmern.
»Was führt Sie zu mir, Frau Maschnick?«, erkundigte er sich, als sie in einem der kleineren Behandlungszimmer auf einem Stuhl Platz genommen hatte. Er saß ihr auf einem Hocker gegenüber und lächelte ihr ermutigend zu.
»Ach, nur eine Kleinigkeit«, erklärte sie scheu und streckte ihm die schmale Hand mit der faltigen Haut entgegen. Auf dem Handrücken war ein Stück Mullbinde mit einem Pflaster provisorisch festgeklebt.
»Sie haben sich verletzt?« Behutsam entfernte Daniel das Klebeband. Als er aber den Verband ablösen wollte, stellte er fest, dass er am Wundsekret angeklebt sein musste.
Helene Maschnick winkte freundlich lächelnd ab.
»Meine Katze hat sich vor ein paar Tagen in der Gardine verfangen und ist in Panik geraten. Als ich ihr helfen wollte, hat sie mich gebissen.« Sie sah dem Arzt dabei zu, wie er den Verband befeuchtete, um ihn – ohne die Wunde aufzureißen – abnehmen zu können. »Es sind nur ein paar Kratzer. Aber heute Nacht konnte ich nicht schlafen vor Schmerzen. Die ganze Hand pocht. Und malen kann ich auch nicht mehr. Deshalb dachte ich, ich gehe doch lieber mal zu Ihnen.«
Als Daniel einen Blick auf die kleinen Bisswunden warf, erschrak er. Die umgebende Haut war rot und glänzend, das Gewebe rund um die Bisse deutlich geschwollen. Eitriges Sekret floss aus den Wunden, und die Beweglichkeit der Fingergelenke war bereits eingeschränkt.
»Das wurde aber höchste Zeit!«, erklärte er sehr ernst.
Auch Helene wirkte erschrocken.
»Ich hab den Verband gar nicht mehr abgemacht«, gestand sie fast verlegen.
»Wie sieht es mit Ihrem Tetanus-Schutz aus?«
»Ich hab schon Jahre keine Spritze mehr bekommen.«
Daniel stand auf und suchte aus den Schränken in einer Ecke des Behandlungszimmers Spritze und Nadel heraus. Einem kleinen Kühlschrank entnahm er den Impfstoff und verabreichte Frau Maschnick schließlich die Injektion.
»Mit Bissen von Hunden und Katzen ist nicht zu spaßen. In ihrem Maul befinden sich Keime, die bei einem Biss mit den spitzen Zähnen tief ins Gewebe befördert werden?«, erläuterte Dr. Norden, als er sich wieder der Verletzung zuwandte und die Wunden behutsam reinigte. »Besonders leicht infizieren sich Bisse im Bereich von Hand und Handgelenk. Zum einen befinden sich hier viele Sehnen dicht unter der Hautoberfläche und können schmerzhaft verletzt werden. Zum anderen ist das Gewebe an diesen Stellen schlechter durchblutet, so dass sich Bakterien vermehren können, bevor das Immunsystem eine Chance hat, einzugreifen.«
»Oje«, seufzte Frau Maschnick und wirkte so schuldbewusst, als hätte sie dem Arzt persönlich wehgetan. »Das habe ich wirklich nicht gewusst. Mein Sohn wirft mir immer vor, dass ich so wehleidig bin. Deshalb hab ich mich diesmal extra zusammengerissen. Ich wollte ihm seinen Golfurlaub nicht verderben.«
»Richten Sie Ihrem Sohn einen schönen Gruß von mir aus«, erwiderte Daniel ungehalten. Natürlich gab es ältere Menschen, die sich einsam fühlten und aus diesem Grund Zipperlein vorschützten, um die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung zu erregen. Aber er kannte Helene Maschnick lange genug, um zu wissen, dass diese stille, bescheidene Frau nicht zu dieser Kategorie Menschen zählte. »Seine Vorwürfe hätten Sie das Leben kosten können.«
Erschrocken riss Helene die wasserblauen Augen auf.
»Das hat Helmut bestimmt nicht gewusst«, nahm sie ihren egoistischen Sohn in Schutz.
Nur mit Mühe konnte sich Dr. Norden einen weiteren kritischen Kommentar verkneifen. Da er seiner Patientin das Leben nicht zusätzlich schwer machen wollte, verzichtete er darauf.
»Ich verschreibe Ihnen jetzt ein hochdosiertes Antibiotikum, um die Entzündung zu stoppen«, erklärte er und legte einen ordentlichen Verband an, nachdem er die Wunde versorgt hatte. »Über die Sehnen können die Bakterien in andere Körperregionen wandern und im schlimmsten Fall zu einer Blutvergiftung führen. Dieses Risiko wollen wir keinesfalls eingehen.«
»Natürlich nicht.« Froh über die Fürsorge, die Daniel Norden ihr angedeihen ließ, fügte sich Helene Maschnick in ihr Schicksal. »Ich werde alles tun, was Sie mir sagen. Schließlich brauche ich meine Hand doch noch zum Malen.«
Daniel Norden erinnerte sich gut an die hübschen Landschaftsaquarelle, die Frau Maschnick seit Jahren aufs Papier zauberte.
»Ich weiß. Das Bild, das Sie mir damals geschenkt haben, hängt bei uns im Flur. Mir gefällt das Motiv – die Isarauen – so gut. Meine Frau hingegen schwärmt von der Farbzusammenstellung.«
»Das haben Sie noch?«, staunte Helene. »Aber meine Blinddarmentzündung ist doch bestimmt schon zehn Jahre her.« Erst jetzt kam ihr die dramatische Situation wieder in den Sinn.
Damals war Dr. Norden derjenige gewesen, der ihre Übelkeit und die Bauchschmerzen richtig eingeordnet und sofort gehandelt hatte.
»Ihr Bild ist zeitlos schön und hat nichts von seiner Anziehungskraft verloren«, erklärte Daniel innig.
Die Behandlung war inzwischen abgeschlossen. Er druckte das Rezept für das Antibiotikum aus und sah seine Patientin fragend an.
»Sind Sie mobil, dass Sie das Medikament selbst holen können?«, erkundigte er sich vorsorglich.
Doch diesmal lachte Helene schelmisch.
»Helmut wollte mir neulich mein Auto abknöpfen. Aber dagegen habe ich mich dann doch gewehrt. So alt bin ich mit meinen 62 Jahren nun auch wieder nicht.« Ein widerwilliger Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ich glaube, er wollte es für meine Enkelin haben, weil ihm sein Wagen für Experimente zu schade ist. Aber da hat er sich geschnitten. Nicht mit mir.«
Daniel nickte zustimmend und lächelte grimmig.
»So ist recht. Verteidigen Sie Ihr selbstbestimmtes Leben! Und wenn Sie Unterstützung brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Mal abgesehen davon, dass wir uns bitte in drei Tagen noch einmal zur Kontrolle sehen.«
»Ich freue mich schon.« Frau Maschnick wirkte wesentlich selbstsicherer und zufriedener, als sie sich von Daniel Norden verabschiedete.
Er sah ihr kurz nach, wie sie an den Tresen zu Wendy trat, um einen neuen Termin zu vereinbaren, als er die Stimme seines Sohnes hörte. Danny verabschiedete sich auch gerade von seinem letzten Patienten des Vormittags.
*
»Sehen Sie sie an, die beiden!« Felicitas Norden stand in der Küche am Fenster und deutete lächelnd auf Vater und Sohn, die, in eine angeregte Diskussion vertieft, Seite an Seite den Gartenweg heraufkamen.
»Sieht so aus, als hätten sich da zwei gesucht und gefunden«, bemerkte