Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Selbstbeherrschung, der gnädigen Bewusstlosigkeit zu widerstehen, die ihn übermannen wollte. »Oh verdammt, ich kann mich nicht mehr bewegen.« Am liebsten hätte sich Sebastian vor Schmerzen gekrümmt. Aber es ging nicht. Unfähig, sich weiter zu bücken oder gar aufzurichten, stand er halb eingeknickt da und keuchte gegen den rasenden Schmerz an.
»Bleib du stehen und rühr dich nicht vom Fleck«, beschloss ein weiterer Kollege, der dazugekommen war. »Wir bringen den Patienten rein und holen Hilfe.«
»Du machst Witze!«, versuchte Sebastian Keinath, zur Regungslosigkeit verdammt, zu scherzen.
Schon als Daniel Norden seinen Wagen auf dem Parkplatz unweit der Notaufnahme abstellte, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Der gekrümmte Mann am Krankenwagen vor der Ambulanz war ihm aufgefallen.
»Was ist denn hier los?«, rief er, als er im Laufschritt herbeieilte.
Gequält drehte Sebastian den Kopf.
»Herr Dr. Norden?« Er wusste nicht, ob die entsetzlichen Schmerzen seinem Bewusstsein einen bösen Streich spielten. »Was machen Sie denn hier?«
»Ich bin gekommen, um vor der Sprechstunde nach meinen Patienten zu sehen.« Dass das nur ein Teil der Wahrheit war, spielte im Augenblick keine Rolle. »Aber das kann noch warten. Was ist passiert?« Mit einem Blick umriss Daniel die Situation, als auch schon zwei Kollegen mit einer Krankenliege herbeieilten.
»Mein Rücken. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen. Nicht mehr vor und nicht mehr zurück.« Es kostete Sebastian alle Mühe, die Worte halbwegs verständlich hervorzupressen.
Daniel Norden half ihm, sich in dieser gekrümmten Haltung seitlich auf die Liege zu legen.
»Sieht nach einem erstklassigen Bandscheibenvorfall aus«, wagte er eine erste Diagnose und bot sich an, die Liege in die Notaufnahme zu schieben. »Wie sieht es mit dem Gefühl in den Extremitäten aus?«
»Hatte ich mal Beine?«, versuchte Sebastian, sich mit Galgenhumor über Wasser zu halten.
Diese Worte entsetzten Daniel genauso wie der dunkle Fleck, der sich zwischen den Beinen des Rettungsfahrers ausbreitete. Er wusste sofort, was das bedeutete.
»Verdacht auf Caudasyndrom«, informierte er die Schwester am Empfang der Ambulanz. »Rufen Sie einen Orthopäden! Herr Keinath muss sofort operiert werden.«
»In Ordnung«, reagierte Schwester Sandra sofort und blätterte in der Telefonliste.
»Caudasyndrom?«, erkundigte sich Sebastian matt. »Sind das nicht Nerven am Ende des Rückenmarks?«
»Die Cauda equina ist ein Nervenfaserbündel am Ende des Rückenmarks, das durch einen Bandscheibenvorfall gequetscht werden kann«, erklärte Daniel in der Kürze der Zeit das, was er über diese akute und sehr gefährliche Verletzung wusste. »Erstes Warnsignal sind heftige Schmerzen, gefolgt von einer Lähmung der Beine. Außerdem sind die Blasen- und Mastdarmfunktion gestört. Wenn Sie nicht schnellstmöglich operiert werden, laufen Sie Gefahr, dass diese Nerven dauerhaft geschädigt werden.«
Diese Nachricht raubte Sebastian schließlich doch noch den letzten Rest an Humor, den er noch übrig gehabt hatte.
»Können Sie mir einen Gefallen tun, Herr Dr. Norden?«, fragte er, sichtlich erschöpft von den großen Schmerzen.
»Natürlich!«
»Rufen Sie bitte meine Frau an? Mein Handy ist in meiner Jackentasche.« Sein Blick wanderte auf seiner rechten Seite hinunter und verharrte in Höhe der Außentasche. »Sie ist unter ›Melina‹ eingespeichert.«
Daniel nickte und betätigte die entsprechenden Tasten des Apparates.
Das Gespräch dauerte nicht lange und das, was Dr. Norden dem leidenden Mann mitzuteilen hatte, war alles andere als erfreulich. Er hätte die Wahrheit gerne beschönigt. Aber Lügen gehörten nun mal nicht in sein Repertoire.
»Ich soll Ihnen schöne Grüße bestellen. Ihre Frau wünscht Ihnen alles Gute. Sie wäre gerne nach Hause gekommen«, erklärte Daniel mit rauer Stimme. »Aber im Augenblick ist es leider unmöglich.« Er versuchte sein Entsetzen so gut es ging zu verbergen.
Sebastian lag mit geschlossenen Augen auf der Liege. Sein Mund verzog sich zu einem gequälten Lächeln.
»Oh, natürlich, das verstehe ich doch. Meine Frau wird gebraucht«, presste er mühsam hervor. »Sie muss die einmalige Chance nutzen und ihre Möbel vermarkten und nebenbei in ganz Europa als Fotomodell zur Verfügung stehen. Zürich, Mailand, Paris, Rom. Rastlos, von einer Stadt zur nächsten.« Er atmete schwer und Daniel wurde einen Moment von der Schwester abgelenkt, die ihm mitteilte, dass der Professor so schnell wie möglich ein Operationsteam zusammenstellen würde. Es konnte nicht mehr lange dauern. Daniel nickte Sandra dankbar zu, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder dem bedauernswerten Sebastian widmete.
»Wenn das so weitergeht, ist unsere Ehe bald am Ende. Melina weiß es, ich weiß es. Aber sie unternimmt nichts, um uns zu retten. Und ich allein kann es nicht.« Wenigstens lenkten diese Gedanken Sebastian von den mörderischen Schmerzen ab. Dr. Norden ermunterte ihn, fortzufahren. »Unsere Kommunikation besteht in erster Linie aus ein paar Haftnotizen am Kühlschrank, aus ein paar hastigen Worten am Telefon. Damit wir wissen, dass es den anderen noch gibt. Aber recht viel mehr ist da nicht mehr. Dabei liebe ich Melina doch.« Sebastian Keinaths Gesicht verzog sich. Ob vor seelischen oder körperlichen Qualen konnte Daniel nicht beurteilen. Es blieb ihm auch keine Zeit, denn Sebastian fuhr mit sarkastischer Stimme fort. »Wissen Sie, es ist ein richtiges Privileg, mit einer so erfolgreichen Frau verheiratet zu sein. Melina erlaubt mir, mich in ihrem Glanz zu sonnen und alle Welt beneidet mich. Dabei weiß niemand, wie das wirklich ist, nach der anstrengenden und auch mitunter belastenden Arbeit nach Hause zu kommen in der Sicherheit, wieder allein zu sein mit den kleinen Zetteln am Kühlschrank. Meine Ehe besteht aus den Aufträgen, die ich für meine Frau erledigen darf. Damit muss ich mich zufriedengeben. Ob ich will oder nicht.« Seine Stimme war immer leiser geworden und am Ende musste sich Daniel zu ihm hinunterbeugen, um ihn überhaupt verstehen zu können.
Dr. Norden war zutiefst betroffen. All das erklärte natürlich, warum Jennys bester Sanitäter in letzter Zeit so unkonzentriert war. Warum er Fehler machte. Sebastian Keinath litt echte Seelenqualen, fühlte sich nicht mehr gut genug für seine Frau und musste obendrein fürchten, sie an ihren Beruf, ihre Karriere zu verlieren.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Daniel erleichtert, wie der Orthopäde Professor Hartung mit wehendem Kittel herbeieilte. Fieberhaft suchte Dr. Norden nach ermutigenden Worten, mit denen er Sebastian in den Operationssaal entlassen konnte. Der Erfolg des Eingriffes hing auch von der seelischen Stabilität des Patienten ab.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er kurzerhand.
Ohne die Augen zu öffnen, lachte Sebastian bitter.
»Mir ist nicht zu helfen.«
»Soll ich mit Ihrer Frau sprechen?«, bot Daniel das Einzige an, das ihm in dieser fatalen Situation einfiel.
Sebastian Keinath antwortete nicht sofort. An diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht. Aber natürlich musste Melina informiert werden. Noch war sie ja seine Frau. Er atmete schwer.
»Wenn Sie das wirklich für mich tun wollen …«, presste er schließlich mit letzter Kraft hervor.
Im selben Augenblick trat Professor Hartung an die Krankenliege. Er begrüßte den Kollegen Norden und wechselte ein paar Worte mit ihm, ehe er sich um den leidenden Sanitäter kümmerte.
Bevor Sebastian in den Operationssaal gebracht wurde, drückte Daniel fest und tröstend seine Hand.
»Ich spreche mit Melina und werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit Sie zu Ihnen kommt und Ihnen beisteht«, versprach er innig. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Doch Sebastian hörte ihn ohnehin nicht mehr.
*
Wie Danny Norden vorausgesagt und sein Vater bestätigt hatte, litt Edgar von Platen unter Nasenpolypen, die in einem unkomplizierten Eingriff entfernt werden konnten.