Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
bringe, denn nun wird alles gut.«
Und wieder begann das Mütterchen zu betteln, zu bitten, daß Wera doch einsteigen möchte. Aber Wera blieb hartnäckig; sie müßte zu Fuße gehen! Da wollte auch das Mütterchen zu Fuße gehen, und schrie, daß Mischka ihr aus der Kibitka heraushelfe. Wera verbot es dem Knecht und ging fort. Nun ließ das Mütterchen den Wagen im Schritt neben Wera herfahren, fortwährend plaudernd und schwatzend; bald jammerte und seufzte es, bald freute es sich und kicherte vor sich hin. Endlich ward es still und begann im Geiste sich auszumalen, was ihr Grischa wohl sagen und tun würde, wenn er plötzlich das Täubchen sah. O weh und Anuschka! Aber der Jubel behielt doch über alle Furcht und Sorge die Oberhand. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie schrie Mischka an, daß er schnell zufahren sollte; so schnell die Pferde laufen könnten.
Kaum daß sie sich Zeit nahm, Wera einige geheimnisvolle Pantomimen zu machen. Im Trab fuhr die Kibitka davon.
Wera ging langsam weiter. Jetzt fährt sie voraus und sagt es ihrem Sohn; ich käme! Und der gute Grischa freut sich und – – Was war nur das?
Sie sprach so wunderlich von ihrem Sohne. Er sei krank, aber nun ich käme, wäre alles gut. Sie wollte nach Moskau, um mich zu holen. Heimlich hatte sie sich auf den Weg gemacht. Was bedeutet das alles? Gott sei mir gnädig!
Es war also wirklich wahr, Grigor Michailitsch liebte sie!
Sie war so erschrocken, so fassungslos, so außer sich, daß sie stehenblieb, die Hände rang und in Tränen ausbrach.
Der Unglückliche! Er liebt mich, und ich komme, um seine Bauern gegen ihn aufzuwiegeln! Er freut sich, er wird jubeln, daß ich wieder da bin, und ich komme, um ihn zu verderben! Ich komme, um ihn und sein Mütterchen ins Unglück zu stürzen. Gott sei mir gnädig.
Plötzlich fiel ihr ein: Er hat mir versprochen, kein Land mehr zu verteilen; denn er hatte bereits genug gegeben, mehr als genug, und wäre durch seine Bauern zugrunde gerichtet worden. Und nun soll ich seine Bauern veranlassen, sich gegen ihn zu erheben, weil er ihnen nicht mehr Land geben will, weil er es mir versprochen, weil er sein Versprechen gehalten hat. Durch mich wird er zugrunde gerichtet, durch mich vielleicht getötet; und – er liebt mich.
»Schrecklich! Schrecklich!«
Sie überlegte weiter: Natalia Arkadiewna hat vom Exekutivkomitee den Befehl erhalten, die Bauern von Dawidkowo zur Empörung aufzuwiegeln, und ich habe es statt ihrer übernommen. Das mußte ich. Nicht allein aus Sühne und Buße für mich, sondern auch aus Mitleid und Erbarmen gegen ihn, der so gut, so herrlich gut ist! Vielleicht, daß ich meine Aufgabe erfüllen und dennoch sein Leben zu retten vermag – was Natalia Arkadiewna wohl nicht getan haben würde. Deshalb mußte ich kommen, und deshalb darf ich nicht wieder umkehren. Gott sei uns allen gnädig!
Dann sah sie Dawidkowo vor sich liegen, von der Morgensonne beleuchtet, so freundlich, traulich und friedlich, recht geschaffen, um die Heimat glücklicher Menschen zu sein.
Sie blieb stehen und betrachtete das liebliche Bild, prägte es ihrem Herzen ein und nahm zugleich Abschied davon. Es war vielleicht der letzte Morgen, wo die Sonne auf das grüne Haus scheinen würde. Wera hatte von vielen Gutshöfen gehört, die von den rebellischen Bauern zerstört und in Brand gesteckt worden waren. Dergleichen geschah jetzt in Rußland jeden Tag zu allen Stunden. Vielleicht schon morgen beleuchtete die Morgensonne einen Schutthaufen und eine graue Rauchwolke stieg in die blaue Luft: Ihr Werk!
Sie stand noch und schaute hinüber, als sie auf der Landstraße einen Mann erblickte, der ihr entgegengelaufen kam, ohne Mütze, in höchster Aufregung mit beiden Armen ihr zuwinkend.
Wera erkannte ihn schon von weitem; langsam, langsam ging sie ihm entgegen.
Gott im Himmel, wie er aussah! Welches strahlende Gesicht!
Nun stand er vor ihr. Aber er konnte nicht reden, die Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Aber, Grigor Michailitsch, so beruhigen Sie sich doch! Mein Gott, was ist Ihnen? Ich bitte Sie, weinen Sie nicht.«
»Verzeihen Sie,« stammelte Grischa. »Was müssen Sie von mir denken? Aber Sie sind so lange fort gewesen, ich habe so lange gewartet, hatte gar keine Hoffnung mehr, glaubte bereits, ich würde Sie nie mehr wiedersehen. Und da kommt heute mein Mütterchen angefahren (ich fürchtete schon, ihr wäre ein Unglück zugestoßen) und weint und lacht in einem Atem, daß ich denke, sie hat den Verstand verloren. Und Anuschka fängt schon an zu jammern und nach dem Popen zu schreien. Da sagt mir mein Mütterchen, Sie kämen! Wera Iwanowna käme aus Moskau, wäre den weiten Weg zu Fuß gegangen, die ganze Nacht durch, wäre meinem Mütterchen begegnet und wollte nicht fahren, käme zu Fuß! Und da – sehen Sie, Wera Iwanowna, da bin ich – da mußte ich – – Mein Gott, verzeihen Sie nur! Ich bin so glücklich, Sie wiederzusehen. Aber das können Sie nicht verstehen, ganz und gar nicht! Übrigens – wie befindet sich Natalia Arkadiewna?«
So sprach er alles durcheinander, in einem unbeschreiblichen Zustande von Verwirrung und Glückseligkeit.
Wera hörte alles, was er hervorstammelte, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden; sie kam sich vor, als ob jeden Augenblick etwas Ungeheures mit ihr vorgehen, sie vor diesem reinen, herrlichen Menschen plötzlich als Mörderin und Brandstifterin dastehen müßte.
»Aber kommen Sie, kommen Sie!« drängte Grischa. »Mein Mütterchen stirbt sonst vor Ungeduld oder überwirft sich wohl gar mit Anuschka. Gewiß läßt sie zu Ihrem Willkommen sämtliche Blumen abreißen, und Anuschka muß sämtliches Mehl, sämtliche Eier und sämtlichen Honig zu Kuchen einrühren. Sie glauben nicht, wie mein Mütterchen sich freut, denn Sie wissen nicht, wie sie sich gesorgt und gegrämt hat – über mich natürlich. Aber nun sind Sie wieder da, und nun gehen Sie nicht wieder fort, nie wieder! Nun bleiben Sie bei uns, immer, immer, immer! Als meines Mütterchens liebstes Kind, als ihre Tochter, ihr Augapfel, ihr Herzblatt, Wera Iwanowna, als mein Weib.«
Er stand vor ihr, der mächtige Mann, zitternd, wie ein Kind, voller Todesangst ihrer Antwort harrend und doch wieder voller Zuversicht; denn sie war ja zu ihm gekommen, zu Fuß von Moskau her, die ganze Nacht durch, mutterseelenallein.
Aber sie sagte nichts.
»Wera Iwanowna, ich wäre gestorben, wenn Sie nicht gekommen wären, und ich werde sterben, wenn Sie mich nicht lieben und wieder von mir gehen.«
Aber sie sagte noch immer nichts, sie tat keinen Laut! Regungslos stand sie vor ihm, mit einem Gesicht wie entgeistert.
»Ich liebe Sie!«
Ohne zu sprechen, erhob sie beide Hände.
»Hören Sie mich, um Gottes willen hören Sie mich! Sagen Sie mir ein Wort!« stieß der unglückliche Grischa hervor. »Wera Iwanowna, ich liebe Sie!«
Da kam es von ihren Lippen mit einem Ton wie ein Stöhnen: »Sie dürfen nicht!«
»Ich dürfte nicht – –«
Wahrscheinlich wußte er gar nicht, was sie gesagt hatte, noch was er selbst sagte.
Wera sprach weiter, mühsam jedes Wort suchend, mit Anstrengung hervorstoßend, mit ersticktem Jammer in der Stimme: »Denn ich bin nicht würdig, von Ihnen geliebt zu werden, von Ihnen, einem so prächtigen Mann, einem so herrlichen Menschen, der nur ein gutes, reines Weib lieben darf, der des höchsten Glückes wert ist – –«
»Sie kein gutes, reines Weib, Sie nicht, Sie nicht – –«
Er stammelte, lallte, die Stimme brach ihm.
»Nein, Grigor Michailitsch, ich bin Ihrer nicht würdig. Sie müssen alles vergessen. Ich darf Sie nicht belügen und betrügen, Sie müssen alles wissen, damit Sie aufhören mich zu lieben, damit Sie beginnen, mich zu verachten und zu hassen.«
»Ich Sie verachten – hassen – vergessen? Ich Sie?«
»Ach, mein armer Grischa, das müssen Sie. Es wird Ihnen wehe tun, es wird Ihnen das Herz zermalmen und alle Freude am Leben nehmen; aber es muß sein.«
Wera schwieg. Sie wollte ihm Zeit geben, sich zu fassen, doch mit schwerer Stimme