Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
Tania wurde aus der Ferne von frechen Blicken gemustert, aber Wladimirs blasses, finsteres Gesicht, das wieder einmal seinen »Mörderausdruck« hatte, hielt Wache bei ihr.
Noch eine Nummer und die Reihe sollte an Tania kommen. Herr Sassinow in eigner Person teilte es der Debütantin mit, sie auffordernd, ihm zu folgen. Wladimir und Natalia erhoben sich; auch Tania stand auf. Sie war halb bewußtlos und klammerte sich an Wladimir. Wieder richteten sich aller Augen auf sie, wieder gab es ein Zischeln und Flüstern. Als die drei hinaus waren, brach man hinter ihnen in ein Gelächter aus; die meisten begaben sich bald darauf gleichfalls auf die Bühne, um dem Auftauchen des neuen Sterns beizuwohnen.
»Denke an mich, daß du mich liebst, daß du es mir zuliebe tust, daß ich dich liebe, von ganzem Herzen, meine arme Tania, mein geliebtes Weib.«
Diese Worte, die Wladimir Tania zuraunte, als alle drei hinter einer Kulisse standen, wirkten wie ein Zauber auf sie. Sie belebte sich und erwiderte: »Du bist so gut! Habe keine Sorge um mich. Ich werde nur an dich und an das Kind denken. Gewiß, ich fürchte mich gar nicht mehr. Wenn mein Gesang ihnen nur gefällt; ich kann es mir nicht denken.«
»Dein Gesang gefällt mir! Du hast eine solch süße Stimme. Wenn du singst, könnte ich immer stehen und dir zuhören.«
Nun hatte sie Mut.
Herr Dimitri Sassinow war ein schlauer Herr, ein Herr, der sein Geschäft verstand, der in der Tat würdig war, einem verehrlichen Publikum die ersten Spezialitäten der Welt vorzufühlen. Die Nummer vor Tania war eine französische Chansonettensängerin, eine ältliche, stark geschminkte, tief dekolletierte Dame, die mit heiserer Stimme Pariser Gassenhauer absang; die Stimme war auch bei dieser Künstlerin gänzlich Nebensache; Hauptsache waren die Bewegungen und Pantomimen, womit die Dame ihren Gesang begleitete und welche von einer Art waren, daß das Publikum außer sich vor Entzücken geriet. Mindestens sechs Piecen mußte die Sängerin zugeben; Tania schien für den Abend gar nicht mehr an die Reihe zu kommen.
Endlich hatte das Publikum genug gerast, es trat Stille ein, Tania erschien auf der Bühne. Es blieb still, keine Hand regte sich, die Debütantin zu empfangen. Das war in dem Kunstinstitut des Herrn Sassinow etwas durchaus Ungewöhnliches; aber Herr Sassinow hatte es gar nicht anders erwartet. Als Tania schwankend von Wladimir hinwegtrat, ergriff Natalia Wladimirs Hand, die feucht und eiskalt war. Wahrend der ganzen Zeit, die Tania auf der Bühne stand, ließ Natalia die Hand ihres Freundes nicht los.
Tania begann zu singen; ein Wiegenlied. Im Publikum wurde gelacht, einige zischten, andere schrien »lauter«. Dann wurde Stille geboten. Und es wurde still, so still, wie es noch niemals in dem Kunsttempel des Herrn Sassinow gewesen war.
Und es blieb still.
Tania beendete ihr Lied und begann ein zweites, ohne daß eine Hand sich geregt hätte. Sie stand mitten auf der Bühne, ziemlich im Hintergrund, sah vor sich nieder und sang, nicht lauter als sonst, sang, was ihr gerade einfiel. Sie dachte, daß Wladimir sie hörte und daß ihr Gesang Wladimir gefiel, ihn entzückte! Tränen standen in ihren Augen, aber sie war ruhig, und fast glücklich.
Sie sang ein fünftes, ein sechstes Lied. Dann trat Herr Sassinow in eigner Person auf die Bühne, um die Sängerin fortzuführen. Aber da erhob sich ein wahrer Sturm gegen ihn: Tania sollte bleiben, Tania sollte weitersingen. Und Tania sang.
Einen solchen Erfolg hatte Herr Sassinow nicht erlebt, solange er mit seinen Spezialitäten Moskau beglückte, doch es überraschte ihn gar nicht.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Das Mütterchen und Anuschka waren von Wera verlassen worden, aber die Wirtin Marja Carlowna hatte sich der beiden einsamen Frauen angenommen; doch hörte das Mütterchen nicht auf, nach Wera zu jammern. Es wurde allmählich stumpfsinnig, das gute Mütterchen. Da es Wera nicht mehr sah, bildete es sich ein, diese wäre zu Grischa gegangen und war nun böse mit ihr, daß sie Grischas Mütterchen nicht mitgenommen hatte. Vor Marja Carlowna zeigte es große Furcht, trotzdem diese sehr gut gegen die arme, alte Frau war, ihr einen Samowar schenkte, darin das Mütterchen fortan den ganzen Tag Tee bereitete, vor dem es den ganzen Tag saß, in der Erwartung, Wera werde zurückkommen und Grischa mitbringen. Anuschka mußte Ingwerkuchen backen, das Mütterchen nach Möglichkeit herausputzen, sich selbst festlich ankleiden und dann Geschichten erzählen, jeden Tag dieselbe Geschichte: Die Legende von Christus, dem Anarchisten. Aber sie gefiel dem Mütterchen gar nicht. Denn daß man seine Salzgurken, seine Himbeermarmelade und sein Quittenmus unter das Volk verteilen mußte, war doch recht jammervoll. Anuschka hatte viel zu beruhigen und zu trösten.
Daß Wera das Mütterchen verlassen hatte, war folgendermaßen geschehen.
Nachdem Wladimir seiner Geliebten diese Tätigkeit für die Sache gefunden, ging er mit verstärktem Eifer daran, den großen Putsch, der anläßlich der Reise des Zaren nach Moskau geplant war, ins Werk zu setzen. Zuerst erhielt Sascha vom Exekutivkomitee bestimmte Instruktionen und gleich darauf auch Wera. Eines Tages trat Wladimir zu Wera ins Zimmer und kündigte ihr an, auf was sie sich vorzubereiten hätte; und obgleich dies etwas geradezu Ungeheuerliches war, stieß er auf keinen Widerstand. Als Wera von Sascha gefragt worden war, ob sie es tun würde, hatte Wera mit einem festen »Ja« erwidert; und dieselbe Antwort gab sie Wladimir: »Ja, ich will es tun.«
Gemäß der ihr erteilten Verhaltungsmaßregel, entfernte sie sich am Abend von ihrer Wohnung und begab sich in einen Teil der Stadt, welcher im übelsten Rufe stand. In einer bestimmten Gasse ging sie langsam auf und ab. Halbtot vor Scham, mußte sie es dulden, daß sie angeredet wurde, mußte sie sich die Schmach antun, den Fragestellern zu erwidern. Sie hatte stets dieselbe Antwort, die sie tonlos hervorstieß, sie hätte für den Abend bereits ein Abkommen getroffen und warte nur auf jemand.
Als Wera am Morgen von Wladimir instruiert worden war, hatte sie ihn flehentlich gebeten, sie nicht zu lange in jener entsetzlichen Straße bleiben und das, was unumgänglich notwendig war, bald geschehen zu lassen. Wladimir hatte es ihr auch versprochen; aber sie mußte ihre Lage beinahe zwei Stunden ertragen, bis sie von einem Beamten der Sittenpolizei aufgefordert wurde, ihn zu begleiten.
Dann der Transport zusammen mit gemeinen Weibern, das Verhör vor einem hohen Tribunal, dem die Konstatierung folgte, daß sie einen schändlichen Lebenswandel führe, ohne dazu die Befugnis zu haben; endlich die Überführung in jene Besserungsanstalt für sittlich verwahrloste Mädchen, die dem Palast Petrowsky gegenüber lag und zu deren Protektorinnen Anna Pawlowna gehörte. Welch ein Aufenthalt für eine Frauennatur wie die Weras! Sie, die Allerreinste und Keuscheste, gleichgestellt den Verworfensten ihres Geschlechts; die in dergleichen Dingen gänzlich Unwissende Gefährtin von Geschöpfen, deren natürlicher Beruf die Prostitution war, welche die Natur selbst zu Dirnen geschaffen. Was half es ihr, daß ihre Erscheinung und ihr Wesen sogar auf diese Verlorenen Eindruck machte, daß keine wagte, sie vertraulich kollegialisch zu behandeln, daß in ihrer Gegenwart die Gemeinheit verstummte, und eine jede unwillkürlich für kurze Zeit den Schein von Gesittung annahm – sie war doch für alle immerhin eine von ihnen. Die Oberin wollte ihre Verderbtheit nicht glauben, schielte nach ihr, ließ sie kommen, sprach ihr gütig zu, Vertrauen zu ihr zu haben. Aber Wera mußte stumm bleiben, mußte schweigend eingestehen: Ich bin schlecht und schändlich! mußte sich wieder abführen, sich wieder zu ihresgleichen zurückbringen lassen. Welche schrecklichen Stunden, wenn sie nachts schlaflos lag und mitanhören mußte, was ihre Nachbarinnen sich leise erzählten.
Sie lebte erst wieder auf, als sie, gleichfalls durch die Vermittlung Wladimirs, aus dem Saal entfernt wurde und ein Zimmer angewiesen erhielt, welches sie nur noch mit einer anderen aus der Anstalt teilte. Die Kammer, welche die beiden Mädchen bewohnten, hatte ein einziges Fenster, nach der Straße hinaus. Von dem Fenster aus konnte man den ganzen Palast Petrowsky überblicken und tief in den Speisesaal hineinsehen. Von diesem Fenster aus hatte Wera den Verbündeten das Zeichen zum Aufgehen der Mine zu geben.
Damit durch Weras Gefährtin nicht etwa eine Entdeckung herbeigeführt werden könnte, erhielt Wera den Auftrag, dieselbe für die Sache zu