Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

Die wichtigsten Werke von Richard Voß - Richard Voß


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      Aber diese Bücher sind mir von seiner Hand hingelegt worden. Wenn ich sie aufschlage, lese ich mit ihm zusammen: Goethes Lieder, Byrons Kain, die Odyssee. Aber welche andere Hand hat mir meine lieben Meister genommen, meine herrliche Penthesilea, meine süße Julia – Faust.

      Sollen das auch lauter verklungene Namen für mich sein? Soll ich nie wieder erleben, was ich doch geschaffen habe, was ich doch bin? Sind alle Saiten gesprungen, als in meinem Kopf etwas zerriß, als die fürchterliche Nacht mich umfing?! O mein Arzt, wie soll deine Gerettete leben mit ihrer toten Kunst in der Seele?!

      Heute stellte Fernow mir den Pfarrer vor. Er ist ganz so, wie ich ihn mir dachte: ein prächtiger Mensch! Er ist noch jung. Die Falten seines geistlichen Gewandes können nicht verbergen, daß in diesem Kleide ein Sohn der Berge steckt. Kräftig und edel wie seine Gestalt ist sein Gesicht, sind seine Bewegungen, seine Worte, seine Gedanken. Er hat des Tirolers hellblondes, reichgelocktes Haar, darin ich mit immer neuem Erstaunen die geschorene Stelle betrachten mußte. Gleich bei unserm ersten Gespräch bemerkte ich, wie seine hellen, blauen Augen leidenschaftlich, in fast düsterem Feuer aufleuchten können. Doch ist das nur ein Augenblick.

      Er trat mir auf das unbefangenste entgegen wie ein alter Bekannter und bewegte sich in den ihm ungewohnten Räumen in einer Weise, die ich vornehm nennen möchte. Nach einigen Augenblicken saßen wir schon in eifrigem Gespräch zusammen, darin sogleich das erörtert wurde, was uns allen dreien gleich sehr am Herzen lag. Einfach und klar setzte Pfarrer Andreas mir die Verhältnisse des Tales auseinander, wie Fernow sie vorgefunden, wie sie jetzt waren, wie sie werden konnten und mußten. Es war viel getan worden, aber nicht genug. Zahlreiche Schwierigkeiten mußten überwunden werden, bevor man von einem großen Resultate sprechen durfte. Doch das war ja eben die Arbeit! Ernster erschienen andere Hindernisse, die sich unserer gemeinsamen Tätigkeit entgegenstellten. Mit den Ausbrüchen einer wilden Natur hofften wir den Kampf aufnehmen zu können, weniger sicher durften wir unserer Sache bei den Menschen sein und das gerade bei denen, welchen wir Hilfe leisten wollten. Seltsam! Kahle Felsen in Wiese und Wald zu verwandeln, Moor und Sumpf in Acker und Garten – so viel Wunderbares ließ sich durch starkes Wollen vollbringen. Aber das trotzige Gemüt eines in Unwissenheit und Aberglauben verwilderten Bauernstammes für eine höhere Kultur zu gewinnen, für solches Werk war aller guter Wille zu schwach. Wir konnten neue Flußbette graben, Ströme zwischen Dämme einzwängen, über Wildwasser Brücken schlagen, jedoch zu den Herzen des Volkes, für welches alles dies geschah, zu gelangen, seinem Fanatismus Grenzen zu setzen, seinen trotzigen Sinn für Verbesserungen seiner elenden Lage zu beugen, das stand nicht in unserer Gewalt.

      Ich erkannte die Seelenqual des Mannes, der mir das von einem Volke sagen mußte, dem er selbst angehörte. So sehr er sich auch bezwang, sah ich's in ihm wühlen und verstand sofort, dah dieser Schmerz um sein Volk, das Erkennen seiner Hilflosigkeit, das große Unglück sei, dem dieses starke Gemüt keinen Bibeltrost entgegensetzen konnte. Und aus welcher Quelle kam dieses Unheil? Mit bebenden Lippen mußte er selbst es uns gestehen: aus der Religion, aus derselben Religion, deren gläubiger Sohn und begeisterter Priester er war. Der Born, daraus er schöpfte und für andere schöpfen wollte, Heilsfluten, die so rein sein mußten wie das Wasser seiner Bergquelle dieser Brunnen aller Gnade war von der Kirche zu einem Pfuhl verwandelt worden, der Gift aushauchte. Ich erwähnte des Jesuitenpaters, der als offenkundiger Feind des Pfarrers in dessen Hause lebte. Bei der Nennung dieses Mannes war es, wo ich die hellen Augen so wild aufleuchten sah.

      Natürlich war Fernow dem wackeren Mann schuldig gewesen, ihn gleich am Anfang seiner Bekanntschaft über seinen religiösen Standpunkt aufzuklären. Einen Christen konnte der geistliche Herr den Freund wohl kaum nennen, wohl aber einen Menschen. Das einfache Wort, das alles sagt, genügte diesem katholischen Bergpfarrer des Menschen Freund zu werden.

      Mir mußte auffallen, daß Pfarrer Andreas sehr zurückhaltend gewesen, als ich seiner Schwester und das mit Worten erwähnte, die meine aufrichtige Freude ausdrückten, dieselben kennen zu lernen.

      »Sie wird sicher nicht herkommen,« meinte Fernow. »Dann gehe ich zu ihr. In der Öde muß der Mensch zusammenleben, sonst verödet er. Ich hoffe, mir eine Tochter dieses seltsamen, mißtrauischen Volkes zur Freundin zu erwerben.« – »Die anderen sind scheu,« erklärte er mir den Charakter des Mädchens. »Dieses seltsame Geschöpf aber ist stolz.«

      Es war mein erster einsamer Ausgang, der mich über die Grenze des Schloßgartens hinausführte. Mir war ganz feierlich zumute. Fortan würde ich wieder dahin wandeln können, ein Mensch unter Menschen.

      Ich ging die Landstraße, die ich von meinem Fenster aus sah, auf der meine wirren Gedanken so oft dahin gewandert waren: ziellos in die Ferne hinaus, die für meinen gestörten Sinn keine Grenzen hatte. Jetzt war es Hochsommer; aber kaum, daß am Weg einige kümmerliche Blumen standen. Ich pflückte sie. Aus ihren duftlosen Kelchen strömte mir die ganze Poesie meiner Kindheit entgegen. Gar zu gern hätte ich mich auf den schmalen Wiesenrand niedergesetzt und mir aus den großen gelben Butterblumen eine Krone gewunden. Es gab auch Schmetterlinge, sogar ein Hänfling zwitscherte sein bescheidenes Lied. Ach, wie war die Welt so schön!

      Im Sonnenglanz lagen die Alpen vor mir, eine Schar grauer Felsenwiesen, die sich weiße Königsmäntel über die Schulter geworfen und auf die greisen Häupter leuchtende Kronen gesetzt. Trotzig standen sie da und rissen sich den Himmel auf ihre Stirnen nieder, daß es wie silberne Flocken von ihnen herabhing. Drunten war der Boden purpurfarbener Moorgrund, durch den der Strom sich wälzte. Freilich war es einsam und öde; aber diese Öde war Erhabenheit.

      Und an dieser stolzen, starren Schönheit hatten seine Blicke gehangen. War's ein Wunder, daß mir die Welt so verklärt erschien?

      Ich gelangte zum Dorf. Es lag zwischen dem Strom und einem Felsen eng eingezwängt, fast baumlos da. Hier waren Ableitungen und Dämmungen am notwendigsten und deswegen auch schon in Angriff genommen. Die Arbeit mußte liegenbleiben, bis fremde Arbeiter kamen: der Jesuitenpater hatte den Dorfleuten streng das Mitarbeiten untersagt. Nur einige Anhänger des Pfarrers wagten nicht zu gehorchen.

      Die Dorfstraße bestand aus einer einzigen langen, schmalen Gasse, auf beiden Seiten mit niedrigen Häusern besetzt, die mit ihren ungetünchten Mauern und kleinen Fensteröffnungen einen wahrhaft trostlosen Eindruck machten. Die Straße war ungepflastert und kaum fahrbar. Zerlumpte, lärmende Kinder trieben sich zusammen mit Federvieh und kleinen schwarzen Schweinen vor den Türen umher und verstummten, sobald sie mich sahen. Auch Erwachsene faulenzten auf der Gasse. Sie sahen nicht besser aus als die Kinder, starrten mich feindselig an und dankten meinem Gruß kaum oder gar nicht. Hinter mir her entstand sofort ein Zusammenlauf von Weibern. Ich hörte sie mich die Verrückte nennen. Ein kleines Mädchen lief vor mir fort, stolperte und fiel hin. Ich hob das schreiende Kind auf und wollte es freundlich beruhigen, aber seine Mutter entriß es mir.

      Ja, die Arbeit würde schwer sein.

      Die Kirche mit dem Pfarrhaus befand sich mitten im Dorf. Ich trat zuerst in das Gotteshaus.

      Um den großen, kahlen Raum mit Flittern und ärmlichem Prunk ausstatten zu können, mußten die Leute in ihrer Armut Mangel gelitten haben, übrigens war die Kirche ganz leer. Erschöpft setzte ich mich auf eine der schmalen, braunen Bänke und saß da eine Weile, als ich ganz in der Nähe hinter mir eine unterdrückte Männerstimme heftig und eindringlich reden hörte. Eine Frauenstimme antwortete. Ich horchte hoch auf. Welch ein Klang, welch eine Kraft und Leidenschaft in diesen unterdrückten Tönen! Unwillkürlich hörte ich darauf hin, ohne die Beichtende – denn eine solche war es – sehen zu können.

      »Ich bin unglücklich! Alles, was ihr mir sagt, hilft mir nichts. Ich soll mich ganz darein versenken, nichts anderes denken, nichts anderes fühlen, nichts anderes lieben – das kann ich nicht! Es ist auch nicht das Rechte; denn es ist nicht das Leben. Gebt mir etwas zu tun, anstatt zu beten. Ich kann euch nicht glauben, daß ich dafür geschaffen sein soll; ich will es nicht glauben! Es liegt etwas in mir, das ich nicht nennen kann. Aber es ist da, es will ausgesprochen werden, will leben. Was ist es? Sind wir denn so stumme Geschöpfe, daß wir nicht einmal nennen können, was doch unsere Seele ist? Was bedeutet dieses Sichängstigen und -quälen, dieses Suchen und Hasten? Kein Mensch hilft mir und Gott sieht auch ruhig zu! Ich fühle wie ich verderbe, wie ich schlecht


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