Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
die das Volk kennen und lieben, es das Volk lehren.«
Wieder vernahm Sascha jenes dreimalige feierliche, gelobende Ja! Er tat einen tiefen Atemzug und fuhr fort: »Denn ist es einst ein starkes Volk gewesen, so kann es das auch wieder werden. Und das bezweckt ja wohl auch die Regierung. Aber die Regierung kennt das Volk nicht. Wie sollte sie auch? Deshalb müssen Männer und Frauen aus dem Volk es vollbringen, indem sie zum Volke reden in der Sprache, die das Volk versteht. Denn noch immer ist es ein junges, starkes Volk, was es dadurch beweist, daß es noch immer wartet, immer noch hofft. Es ist ein kindliches Volk. Und Jugend hat unverwüstliche Lebenskraft. Laßt uns nur erst wissen, daß auch wir Geschöpfe sind, gleichberechtigt mit anderen Geschöpfen, Menschen, geschaffen nach dem Ebenbilde Gottes. Laßt es das Volk nur erst wissen, und es wird seinen gebeugten Rücken wieder aufrichten. Seine Augen werden zum Himmel sehen. Es wird nicht mehr vor den Augen seines Herrn zittern und kriechen, um hinter dem Rücken seiner Feinde zu knirschen und Rache zu schwören; sondern es wird lieben und glauben und vertrauen. Es wird an sich selber erfahren, daß ein Volk etwas Großes und Starkes sein kann. Wir müssen das Volk mit seinen natürlichen Feinden versöhnen; wir müssen zwischen Volk und Gesellschaft vermitteln, die einen zu den anderen führen, die einen lehren, die anderen zu verstehen und zu würdigen. Wir müssen im Volke das Gefühl seiner Würde wecken, damit Gesellschaft und Regierung vergessen zu verachten und lernen zu achten. Alle, die wir vom Volke sind, müssen zusammentreten, müssen es unterrichten und erheben, damit nicht wahr werde, was sie sagen, daß Rußland, wie es keine Vergangenheit und keine Gegenwart habe, so auch keine Zukunft haben werde. Das Volk muß unserem Lande seine Zukunft bringen und wir alle müssen dabei helfen.«
Er schwieg erschöpft. Seine Lippen zuckten, Tränen standen in seinen Augen.
»Daß du so reden kannst!« war alles, was Wera zu erwidern vermochte. Und leise setzte sie hinzu: »Daß ich dich verstehen kann!«
»Was verstündest du nicht? Das sagte ich auch den anderen, in Moskau. Ich sagte ihnen: Wera Iwanowna ist ein kluges Mädchen, klug und stark.«
»Wem sagtest du das in Moskau von mir?«
Sie war stehengeblieben. Sascha fühlte ihren Blick, der in seiner Seele zu lesen schien; es war ein Blick, vor dem keine Lüge bestand.
Er antwortete langsam und mühsam: »Wem ich das in Moskau von dir gesagt habe? Nun, eben den anderen. Wera Iwanowna ist stark, sagte ich ihnen. Sie kann alles, was sie will, und sie will alles. Ich kenne sie. Dann geh und hole sie, befahlen sie mir. Wir brauchen starke Frauen. Ich ging und – nun, und da bin ich.«
Eine ganze Weile erwiderte sie nichts darauf: sie war zu ergriffen. Dann rief sie leise seinen Namen: »Sascha.«
Er fuhr zusammen: »Ja,«
»Ich wußte, daß du kämst, mich zu holen,«
»Das wußtest du?«
»Du sollst mich mit dir fortnehmen nach Moskau, ich soll etwas lernen, etwas tun, etwas helfen! O Sascha, Sascha!«
Aus ihrer Stimme klang ein solcher erstickter, schwer unterdrückter Triumph, ein solcher Jubel, daß ihn ein Schauer überlief. Sollte er es ihr sagen, sollte er sie warnen: Geh nicht mit! Du darfst nicht auch verdorben werden! Aber ihm war befohlen wurden und er mußte gehorchen. Gehorchen – das war alles, was er tun konnte.
»Aber du sagst ja nichts. So sage mir doch, wer dich zu mir geschickt hat.«
»Die Unseren. Du wirst sie kennen lernen. Sie sind es, welche die Bücher schrieben und druckten, die ich dir heimlich geschickt habe. Sie heißen die ›Auferstandenen‹. So nennen sie sich selbst.«
Ein Ausruf des Erstaunens, des Entzückens entfuhr Wera. Aber Sascha fühlte sich von neuem heftig beunruhigt. Wenn sie nur bleiben würde, wenn er sie nur zurückhalten könnte!
»Die Auferstandenen, das ist ein schöner Name, ein heiliger Name,« sagte Wera leise. »Die Auferstandenen.« Ihre Stimme bebte.
»Sie heißen auch die Nihilisten – so werden sie von den anderen genannt. Es sind schrecklich gescheite Köpfe darunter, wahre Hitzköpfe, Wladimir Wassilitsch ist der erste und wildeste. Das ist ein mächtiger Auferstandener, ein gewaltiger Nihilist! Es soll jetzt viel vor sich gehen.«
»Was? Was?«
Sascha zauderte mit der Antwort. »Ich weiß es auch nicht recht,« meinte er endlich verdrossen und erklärte dann aufrichtig, »sie sagen mir nämlich nicht alles. Ich glaube sie trauen mir nicht ganz; ich fürchte, sie mißachten mich etwas. Ich habe ja auch noch gar nichts tun können. – – Da fällt mir ein: Nihilisten kommt aus dem Lateinischen. Das Wort heißt nihil und bedeutet: nichts. Die Nihilisten sind Menschen, die nichts bestehen lassen wollen, die an nichts glauben. Es ist jedoch nicht so schlimm.«
»An nichts glauben, Sascha? Sie sollten an nichts glauben und sie wollen dem Volke helfen? Sie müssen aber doch an das Volk glauben und daß sie diesem etwas Gutes tun? Es wird gewiß anders sein, sicher irrst du dich. Wie könnte ein Mensch an nichts glauben?«
»Vielleicht irre ich mich,« gab Sascha in tiefer Niedergeschlagenheit zu. »Wenn du mitkommst, wirst du selber sehen, daß alles anders ist, als ich dir sagen kann. Du brauchst aber nicht mitzukommen – wenn du nicht willst. Einer allein kann freilich nichts ausrichten, dazu sind ihrer viele nötig; und wo viele sind, muß der einzelne gehorchen. Der einzelne muß hoffen und vertrauen und – du hast recht: und glauben. Ach, Wera, wir beide sind so unwissend, so hilflos; ganz wie das russische Volk. Wer zeitlebens in der Steppe gelebt hat und dann plötzlich herauskommt und dann plötzlich zu begreifen anfängt – – Alles ist Wirrwarr! Wirrwarr! Du wirst es auch erfahren. Aber vielleicht kommst du doch nicht mit?«
»Der einzelne kann nichts ausrichten,« entgegnete sie ihm mit seinen eigenen Worten.
Sie schwiegen beide. Es war kälter geworden, der Nebel hatte sich zum Reif verdichtet. Durch die Dunstschicht brach siegreich ein strahlender Sternenhimmel. Wie ein wunderbares Metallgewölbe, das mit zahllosen Brillanten besetzt war, leuchtete es auf die Weiße, glanzbebeckte, feierliche Landschaft nieder. Der gefrorene Schnee sprühte buntglitzernde Funken, die Stämme der Birken glichen Kristallsäulen mit einem phantastischen Aufputz von ungeheuren weißen Straußenfedern. Wo soeben, einer Feuersbrunst gleich, der Vollmond aufstieg, schob sich am Horizont eine goldig schimmernde Nebelwand empor.
Gleich fühlbaren mystischen Wesen ruhten die Öde, die Unendlichkeit, die Lautlosigkeit über der Steppe.
Während die rote Riesenkugel des Mondes langsam, langsam aufschwebte, überkam es Wera wie eine Vision...
Vor ihren Augen wandelte sich das wilde, winterliche Land zu einer blühenden Gegend; unabsehbar dehnten sich Felder und Gärten, jede Scholle strotzte von Fruchtbarkeit. Der Boden schüttete alle seine Schätze aus über Rußland. Es war ein Verschwenden, ein Vergeuden der köstlichsten Gaben.
Wie ein Hymnus brauste durch das lachende Land der Ruf: »Die Freiheit des russischen Volkes!«
Wera ward vom Schwindel erfaßt. Sie schloß die Augen, sie taumelte. Als sie wieder aufsah, stieß sie einen Schrei aus.
Versunken war das schöne Bild, eine entsetzliche Wildnis starrte sie an, das einzig Lebende darin waren zwei menschliche Gestalten. Kettenbeladen schwankten sie dahin und eine ersterbende Stimme seufzte: »Das leiden wir für die Freiheit des russischen Volles.«
Da wandte das eine der beiden einsamen Geschöpfe sich um und Wera sah – ihr eigenes Gesicht.
»Was ist dir? Warum schriest du so auf?«
Sie kam wieder zu sich.
»Es ist nichts, O Sascha, Sascha! Was ist dies für ein feierlicher Tag. Ich bin so dankbar, so glücklich!«
»Du willst mit mir gehen?«
»Ich will mit dir gehen.«
»Du wirst viel leiden müssen.«
»Ich will viel leiden.«
»Du mußt gehorchen, blindlings gehorchen. Wirst du das