Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
war selig. Gleich dem Mädchen aus dem russischen Volkslied saß sie neben Wera, mit flatternden gelben Zöpfen und strahlenden blauen Augen, so holdselig und siegreich, als wäre sie die Göttin des Frühlings selbst. Soweit sie blicken konnte, war die wilde Steppe mit Blumen bedeckt. Eng drängten die blauen, die roten, die gelben Blüten sich aneinander, daß ringsum das Land einer unübersehbaren Mosaik glich, darüber die Sonne ihren Goldglanz warf. Die Luft tönte vom Schwirren der Insekten, vom Jubilieren der Vogel. Aus den silberweißen Birken brachen die ersten Blattknospen hervor, so daß es von ferne erschien, als seien die schönen Bäume mit meergrünen Schleiern umwoben. Rings um den weiten Horizont stieg lichtes, hohes Gewölk in das sanfte Blau des Himmels, eine phantastische Alpenkette mit tausend schimmernden Gipfeln.
Tania bestaunte alles, bejubelte alles. Sie plauderte und lachte, daß ihr Mündchen keinen Augenblick zur Ruhe kam, die Grübchen aus ihren rosigen Wangen gar nicht verschwanden, die Zähne immer wieder zwischen den blutroten Lippen hervorblitzten. Und Anfang und Ende aller Lust war Moskau, Wladimir – Wladimir, Moskau.
Entstand in dem Rütteln und Schütteln einmal eine Pause, so versuchte sie es sogar mit einem Liede. Es waren trübselige, wehmütige Steppengesänge – aber von ihren Lippen klangen auch Schwermut und Sehnsucht gar holdselig:
»Eine rote Rose blühte auf im Schnee,
Was tut mir denn mein junges Herz so weh?
Ach Gott, mein junges Herz hat, wie mir scheint,
Grad' eine rote Trän recht bitterlich geweint.«
Wera sprach wenig; aber sie hörte mit so heiterer Ruhe zu, daß Tania ihre Scheu vor der ernsten, nachdenklichen Freundin mehr und mehr verlor. Seit Ostern war Wera aus der Weihestimmung nicht herausgekommen; sie hatte nicht aufgehört, stumme Gelübde abzulegen und sich für den großen Opferdienst vorzubereiten. Sie kam sich dessen unwürdig vor. Aber ihr starkes: Ich will! gab ihr Glauben und Zuversicht. Ohne das Bewußtsein ihres heiligen Ernstes für die Sache wäre ihr gewesen, als stünde sie im Begriff, ein Sakrileg zu begehen. Wenn sie die junge Welt um sich her betrachtete, die so unberührt und heiter war, wie am ersten Schöpfungstag, so mußte sie immer von neuem denken: Auferstanden! Auferstanden!
Für die Ungeduld der beiden Mädchen ging die Reise viel zu langsam vonstatten. Übergetretene Flüsse, betrunkene Kutscher, zerbrochene Wagen gehörten zu den täglichen Hindernissen. Oder es stürzte auf dem oft grundlosen Weg ein Pferd, eine schlecht geschmierte Achse fing Feuer, ein Feiertag verschuldete, daß kein Kutscher fahren konnte, denn sie waren alle betrunken.
Wenn sie Pferde bekamen, reisten sie auch des Nachts. Indessen waren sie nur selten so glücklich. Gewöhnlich verbrachten sie die Nächte mit anderen Reisenden auf einer Poststation in der allgemeinen Passagierstube, einem elenden Raum, darin eine abscheuliche Luft war. Das Zimmer starrte von Schmutz und wurde dürftig von einer Tranlampe erhellt, die von der braunen Decke herabhing. Es wurde Tee und Branntwein getrunken und dabei sinnlos geschrien und gelärmt. Die Leute aus Eskowo drückten sich mit ihrem Gepäck in eine Ecke zusammen. Colja lag zu Tanias Füßen, ohne ein Auge zu schließen und knurrte jeden an, der sich seiner Heiligen näherte. Sobald Tania schlief, stand Wera auf und schlich sich hinaus, gefolgt von Sascha. Draußen in der feierlichen Nacht besprachen sich die beiden. Es war immer dasselbe Thema: das russische Volk war elend, dem russischen Volke mußte geholfen werden.
Einigemal kam es vor, daß Reisende, die mit einem Kronpaß versehen waren, ihnen auf der Landstraße die Pferde vom Wagen abspannten, ohne daß sie dagegen hätten Einwand erheben können. Endlich, am zehnten Tage, näherten sie sich Moskau, das sie von einer Höhe aus zuerst erblickten. Es lag vor den Reisenden auf dem frühlingsgrünen Lande, welches ein blinkender, belebter Strom durchzog, zwischen heiteren Hügelketten, gleich dem Zauberbild einer Fata Morgana. Wie eine Goldflut schlug der Schein der Abendsonne über der Riesenstadt zusammen, mit seinem feurigen Licht ringsum alles Land und alle Höhen übergießend, daß die »heilige« Stadt ein Kranz von Gluten umschloß. Mitten aus dem Schimmer stieg ein Chaos von bunten Türmen zu dem lodernden Himmel auf, ein phantastischer Kirchhof von Kreuzen, die, an goldenen Ketten hängend, in der Luft zu schweben schienen. Hier in tiefem Purpur brennend, dort in feierlichem Ultramarin, in leuchtendem Smaragdgrün strahlend, erglänzten über den funkelnden Kirchendächern, ungeheuren Edelsteinen gleich, die Kuppeln.
Wera erhob sich im Wagen und blickte in stummer Ergriffenheit hinüber, wo sich ihr Leben erfüllen sollte. Ihre Sehnsucht nach Taten hatte sich zum leidenschaftlichen Verlangen nach einem Martyrium gesteigert: Sie wollte ihr Kreuz auf sich nehmen! So grüßte sie denn ihr Golgatha.
Auch Tanias Gemüt war voll frommer Gedanken; in einer Stunde sollte sie Wladimir wiedersehen.
Immer strahlender ward die Glorie um das Haupt der Heiligen unter Rußlands Städten. Moskau lohte auf in einem himmlischen Feuer, und von den Kuppelmassen des Kreml schienen sich Flammen niederzuwälzen. Wie ein Baldachin aus düsterem Purpur glühte über dem Zarenpalast die Abendröte.
Dann ging die Sonne unter, dann brach die leuchtende russische Frühlingsnacht an.
In der Preobraschenskaja-Vorstadt wurden beide Telegen von einem Polizisten angehalten und einem langen Examen unterworfen. Sascha wies seinen Paß vor und bezeichnete Wera als eine ehemalige Leibeigene Anna Pawlownas. Die darauf bezüglichen Papiere – Boris Alexeiwitsch selbst hatte sie besorgt – waren völlig in Ordnung, so daß sich dagegen nichts einwenden ließ. Mit geröteter Stirn hörte Wera den Verhandlungen über ihre Person zu; sie gab auf keine Frage eine Antwort, was zur Folge hatte, daß der Beamte sie als »verdächtig« aufschrieb. Tania begann gleich bei dem ersten Wort, welches der Mann an sie richtete, bitterlich zu weinen, worauf der Beamte sie mit einem Achselzucken unbehelligt ließ. Colja schien man, trotz seines gewaltigen Gebrumms, gar nicht zu bemerken.
Bald umbrandete die Reisenden das nächtliche Leben der fabelhaften Hauptstadt. In buntem Wechsel zog die ganze Bilderreihe der wunderbaren Steppenresidenz an ihnen vorüber: Hütten und Paläste, Kirchen und Klöster, Felder und Parks, zahllose Fuhrwerke, zahllose Menschen. Wera verlor alle Fassung. Wie sollte sie sich jemals in diesem Gewimmel und Getümmel zurechtfinden, wie jemals ihre Hände regen können, um allen diesen zu helfen? Es waren Tausende und aber Tausende; und sie war eine einzelne! Alle schienen einen Lebenszweck zu haben, alle schienen tätig und zufrieden zu sein. Niemand würde sie brauchen, kein einziger ihrer bedürfen. Und sie hatte sich dem ganzen Volke opfern wollen!
Der Begriff des Volkes, der ihr bis dahin eine vertraute Einheit gewesen, ging ihr gänzlich verloren; er wuchs und schwoll zum Ungeheuren, darein ihr Geist versank, wie in ein uferloses Meer.
Siebentes Kapitel
Mitternacht war nahe, als die beiden Telegen in der Nowaja Andronowska-Vorstadt, dort wo die letzten Häuser standen, vor einem Gebäude hielten, das mehr Ruine als Haus zu sein schien. Es lag auf freiem Felde, in einem Gemüsegarten ohne Gemüse, und sah so verlassen, elend und verkommen aus wie ein Trunkenbold, der am Wege liegengeblieben ist. Im Hofe befand sich ein zerfallener Brunnen, von dem man sich nicht vorstellen konnte, daß er Wasser zu geben vermöge, und ein verkrüppelter Birnbaum, der sich nicht grün und blühend denken ließ. Die nächste Umgebung des Häuschens bestand aus Kot und Schmutz, dann folgte ein Zaun im letzten Stadium des Verfalls, dann wiederum Kot und Schmutz.
Das trostlose Haus schien seit langem nicht mehr bewohnt zu werden. Die Tür war verschlossen und durch die teils blinden, teils zerbrochenen Scheiben glänzte die helle Nacht in das dunkle Innere. Doch befanden sich im Erdgeschoß einige Fenster, die mit starken Läden versehen waren. Um sich blickend, gewahrte Wera die gewaltige Silhouette des vielkuppeligen Kreml am lichten Himmel, ein Bild von großartiger Schönheit.
Indessen Sascha und Colja das Gepäck abluden, standen die beiden Mädchen im Hofe. Vergebens schaute Tania nach ihrem Bräutigam aus. Das arme Kind bebte wie Espenlaub und hatte die Augen voller Tränen.
Dann fuhren die Telegen fort, dann kam Sascha und führte, ohne ein Wort zu sprechen, die Neuangekommenen