Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
Der Mensch ist nicht mehr, wie in unvordenklichen Zeiten, ein nur von niedrigen Trieben geleitetes Tier; Vater- und Mutterliebe sind nicht mehr ein bloßer Instinkt, sondern ein bewußtes Gefühl. Als Beispiel diene folgendes: Wir sehen in der Gesellschaft Väter ihre natürlichen Kinder vernachlässigen oder selbst verlassen, während sie ihre legitimen Kinder mit Sorgfalt umgeben. Diese Unterscheidung ist nicht instinktiv, sie ist bewußt. Wir sehen Mütter die Frucht einer strafbaren Liebe töten, aber heroisch ihre rechtmäßigen Söhne dem Vaterlande zum Opfer bringen. Vom Vatergefühl gilt durchaus das gleiche, denn wir sehen Männer sich in die Flammen stürzen, um ein fremdes Kind zu retten, ohne daran zu denken, daß sie durch ihre Rettungstat das eigene Kind zur Waise machen können.
Nun gut: Ich verlange ebenso, daß jeder von uns einem unglücklichen Kinde zu Hilfe komme, denn an dem Tage, wo eine Mutter zwischen ihrem eigenen und einem fremden Kinde keinen Unterschied mehr machen wird, an diesem Tage wird die Idee der Erbschaft ausgelebt haben. Allein selbst nach dieser Abschaffung der Erbschaft wird noch immer ein Unterschied bestehen bleiben zwischen dem Kinde einer in Überfluß lebenden und dem Kinde einer armen, unwissenden Familie. Das Mißverhältnis zwischen diesen beiden wird sich hauptsächlich in den ersten Jahren der Emanzipation des Menschengeschlechts fühlbar machen. Also muß ein Mittel erdacht werden, dieses Mißverhältnis zu beseitigen und Gleichheit herzustellen; ist diese Gleichheit doch die Basis der sozialen Gerechtigkeit.
Nihilisten! Ich kenne nur ein Mittel, diesen Zustand zu erreichen; das ist die freie Anschließung aller an die Prinzipien der absoluten Freiheit und Gleichheit. Dort, wo der leiseste Druck besteht, gibt es keine Freiheit mehr. Wir wollen keinen Zwang! Es soll kein Mensch dem anderen untergeben sein. Jeder soll das Recht haben, seinem Gewissen, seinen Überzeugungen, seinen Neigungen nach zu leben. Und ist es wirklich so schwer, zu dieser allgemeinen Freiheit zu gelangen? Keineswegs! Es genügt, die Form dafür zu finden, die jedem gestattet, seine Meinung geltend zu machen.
Ich will mich näher erklären.
Wenn Millionen Menschen sich vereinigen in einer gemeinsamen Idee über die Steuern, über die Frage der Sklaverei, über die Ehe, über eine Regierungsform – warum sollen Millionen Menschen nicht ebensogut dahin kommen, eine allgemeine Form für die Idee des Eigentums, der Arbeit und der Teilung des Kapitals zu finden?
Sehen wir uns in Rußland um. Der Boden gehört niemandem. Er ist ein Geschenk Gottes. Jeder soll darauf arbeiten können, wo er will, wie er will. Und er soll mit Weib und Kind den Ertrag seiner Arbeit verzehren dürfen. Aber die Beamten des Zaren betrügen den Bauer um seine Arbeit, sie lassen ihn das Recht bezahlen, die Erde zu bebauen, und genießen selbst die Frucht seines Schaffens.
Neben den Beamten des Kaisers, die ihn berauben, kann jeder Zufall die Arbeit des Bauern gefährden und vernichten. Um sich vor derartigen Katastrophen zu schützen, ist die Gemeinde gegründet worden.
In manchen Distrikten ist schon jetzt alles abgeschafft, was Grundbesitz heißt. Die Bauern bearbeiten gemeinschaftlich den Boden, der allen gehört, sie säen, ernten und verteilen alsdann den Ertrag je nach den Bedürfnissen der einzelnen. Andere Gemeinden wiederum lassen ein zeitweiliges Besitztum der einzelnen zu, das heißt: der Boden wird in so viele Teile geteilt, als Familien bestehen, das Los entscheidet, Die Erträgnisse der Felder jedoch werden wiederum verteilt.«
»Die Bauern in ihrer Einfalt verstehen sich besser auf die Gerechtigkeit, als unsere weisen Gesetzgeber!« rief einer der Zuhörer.
»Gewiß verstehen sie das besser,« erwiderte Wladimir Wassilitsch beifällig, »denn dieselbe Solidarität der Interessen findet sich auch bei unseren Bauern, wenn sie des Winters in den Industriestädten Arbeit suchen. Sie lieben die Assoziation, sie begreifen, daß Maschinen und Werkzeuge nicht der Besitz einzelner, sondern Gemeingut einer Gesellschaft sein sollen. Ihr könnt daraus erkennen, daß die Aufhebung des Grundbesitzes die Negation des Staates bedeutet, mit einem Worte: daß die Anarchie der instinktive Wunsch des russischen Bauern ist.
Es bleibt mir noch einiges zu sagen über die Religion und über die Beziehungen der beiden Geschlechter zueinander. Wir Anarchisten respektieren vor allem die persönliche Freiheit, und die religiöse Frage ist uns gleichbedeutend mit völliger Gewissensfreiheit. Wenn es jemandem einfällt, hundert Kirchen zu bauen und tausend Priester zu unterhalten – wir werden ihn nicht daran verhindern. Ebenso aber werden wir jedem gestatten, den zügellosesten Atheismus zu proklamieren, denn wir zweifeln nicht, daß die Wahrheit, sei sie welche sie wolle, schließlich doch triumphieren wird.
Dasselbe gilt von der Ehe.
Es gibt Individualitäten, die sich für das häusliche Leben eignen, es gibt andere, die, wie der Schmetterling, das Bedürfnis haben, von Blume zu Blume zu flattern. Urteilt selbst: Gesetzt, wir proklamierten die Ehe als dreimal heilig, würden wir damit erreichen, daß sie heilig gehalten wird? Nein! Denn die Entartung, die Frivolität, die Ausschweifungen können gar nicht schlimmer sein, als sie gegenwärtig in unserer modernen Gesellschaft sind. Da also auch die heiligsten Formen nicht die Ausschweifung und Entartung verhindern können, so wollen wir der Liebe Freiheit gewähren. Das Fehlen jeglichen Zwanges wird edle Herzen nicht verderben können, solche Herzen nämlich, die in der Liebe der Frau noch anderes suchen als Befriedigung eines Naturtriebes, das heißt: ein intellektuelles Leben, eine Vereinigung, welche die Veredlung des Individuums, die Gründung der Familie zum Zwecke hat. Wir müssen alle lernen in der Frau ein Wesen zu sehen, das unseresgleichen ist vermöge ihrer Fähigkeiten, ihrer Bestrebungen, ihrer Arbeit. Bald werden alle Mißbräuche verschwinden, die Polygamie wird aufhören, die Vereinigung von Mann und Frau wird als Zweck die regelmäßige Entwicklung aller der Kräfte haben, mit denen die Natur den Menschen begabt hat. Solange aber der Staat existiert, so lange wird die individuelle Freiheit nicht existieren, wird der Fortschritt nicht realisiert werden können.
Setzt hingegen an Stelle des Staates eine Gemeinde von Autonomen. Wie leicht wird es dann für alle sein, ihrem Leben eine gemeinsame Idee zugrunde zu legen. Nur auf diese Weise können die berechtigten Bedürfnisse und Wünsche zum Ausdruck gelangen. Nur auf diese Weise werden wir in dem Verhältnis der Arbeiter zum Kapital, sowie in den Beziehungen des Mannes zur Frau eine Umbildung erreichen. Die Wissenschaft wird in eine neue Phase treten und, wie das gute Beispiel ansteckender wirkt als das böse, wird die Wahrheit triumphieren.
Ich gehe jetzt zu den Mitteln über, die nötig sind, um die Gemeinde der Autonomen ins Leben zu rufen.
Vor allem hat die anarchistische Partei beschlossen, alles daran zu setzen, um in jeder Landgemeinde, jedem Dorfe zehn bis zwölf Anhänger unserer Idee zu haben. Eine Bevölkerung, darin die Anarchie erst einmal Wurzel gefaßt hat, wird bald ganz zu den Unseren gehören. Sind wir erst dahin gelangt, dann wird eine neue Ära über Rußland aufgehen. Der Staat wird gelebt haben und mit seinem Leichnam werden alle sozialen Übel begraben. Dann proklamieren wir die Eidgenossenschaft der autonomen Gemeinden. Zum erstenmal wird dann der Mensch frei sein, frei in der Arbeit, frei in seinen Empfindungen, frei in seinem Gewissen.«
Während dieser Rede wich Wera nicht von ihrem Platz, den sie an einem Tische bei den jüngsten Volksfreundinnen eingenommen hatte. Sie bemühte sich, ihre Erregung zu bemeistern und mit allen Sinnen bei der Sache zu sein. Aber je aufmerksamer sie zuhörte, desto weniger verstand sie, desto unwissender kam sie sich vor. Sie kannte nicht einmal alle von Wladimir gebrauchten Ausdrücke. Sobald von der propagandistischen Arbeit für das Volk die Rede war, horchte sie hoch auf.
Wladimir Wassilitsch fuhr fort: »Aber, Nihilisten, wir haben noch nicht einmal die paar tausend Menschen beisammen, die wir brauchen, um in den verschiedenen Distrikten für uns zu arbeiten. Und wir werden sie vielleicht schwer auftreiben können, denn man muß lange suchen, um den Menschen zu finden, der sich erinnert, was er dem Volke schuldet. Unser Feind dagegen hat eine disziplinierte und bewaffnete Armee zu seiner Verfügung. Während wir nun einerseits sichere Leute aussenden, um Propaganda zu machen, organisieren wir in den Städten und Dörfern Emeuten. Diese Emeuten haben den Zweck, stets eine Art von Gärung zu unterhalten und stets im Volke von uns reden zu machen. Nach meiner Meinung kann die Sache dabei nur gewinnen. – Was willst du, Balkulin?«
Balkulin war der eine Gemäßigte. Balkulin wollte reden und Wladimir Wassilitsch gab ihm das Wort.