Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
von allem: Wir beneiden euch! Darum hassen wir euch, darum wollen wir euch aus der Welt schaffen; darum, darum! Wenn wir es auch nicht eingestehen, wenn wir auch einen prunkenden Lappen um das Ding hängen – es bleibt als erste und letzte Ursache der gemeine, schändliche, höllische Neid. Wir wollen uns an eure Stelle setzen; denn ihr habt, was wir nicht haben. Das ist es! Das ist Sozialismus, Nihilismus, Anarchismus. Es sind nur verschiedene Namen für denselben Gegenstand: für unseren grimmigen Neid! Und darum, darum: weil ihr uns den Neid gegeben, hasse ich euch, wie ich das Böse selbst hasse, das ich doch mit Wonne begehe, um euch zu vernichten. Warum prunkt ihr vor unseren Augen mit Schätzen, während wir darben? Warum vergeudet ihr, während wir Mangel leiden? Warum verpraßt ihr, während wir umkommen?! Da schwatzt ihr von einer himmlischen Vergeltung, von einer göttlichen Gerechtigkeit – schwatzt nur! Indessen übt das Volk in seiner göttlichen Gerechtigkeit irdische Vergeltung an euch. Seht euch vor! Das Richtbeil schwebt über euch.«
»Aber nicht über allen,« stammelte Wera. »Sie werden nicht alle schuldig sein.«
»Alle, alle sind sie schuldig! Denn sie gleichen sich alle; einer ist wie der andere! Wenn dieser oder jener sich das Ansehen gibt, als wäre er anders, so spielt er Komödie, weil er das Schwert über sich fühlt, weil es in der Welt nach Blut riecht. Und wir tun, als glaubten wir ihnen. Denn es ist die höchste Lust der Strafe, dieses entartete Geschlecht sich durch sich selbst richten zu sehen. Wir müssen sie festhalten, wir müssen sie teilnehmen lassen an unseren Taten, und wäre es auch nur, um den Triumph zu erleben, Ihnen sagen zu können: Seht! Eure Laster sind so angewachsen, daß sich aus eurer Mitte die Empörung gegen euch erhoben hat, daß ihr euch selbst zerstört! Wer kann uns der Ungerechtigkeit anklagen, wenn die Zeugen wider euch in euren Reihen stehen?! Wer kann das Volk beschuldigen, wenn die Gesellschaft selbst – –«
Er brach mitten im Satze ab und blieb stehen. Sie befanden sich einem Palast gegenüber, daraus sich soeben die letzten Gäste entfernten. Wladimir machte Wera auf einen Mann aufmerksam, der einige Schritte von ihnen unter dem Portal einer Kirche stand und, ohne die beiden zu bemerken, unverwandt nach dem prächtigen Hause hinübersah.
Der Mann war Sascha.
»Was tut er hier?« flüsterte Wera.
»Er wartet.«
»Weshalb?«
»Um den Schatten Anna Pawlownas an der Gardine vorbeischweben zu sehen.«
»Wohnt sie da drüben?«
»Ja. Es ist der Palast Petrowsky.«
»Der Prinz Petrowsky ist in Petersburg?«
»Er geht zu Hof.«
»So gehört er nicht zu den Unseren?«
»Gewiß nicht.«
»Aber seine Frau, Anna Pawlowna – –«
»O die!«
»Was sagst du?«
»Sie liebt ihren Mann nicht. Ich glaube, sie haßt ihn.«
»Behandelt er sie schlecht?«
»Nein. Aber sie ist ihm verkauft worden, und da sie sehr stolz ist – – übrigens ist er sechzig Jahre alt, und sie noch nicht dreißig.«
»Was tut das?«
Wladimir lachte.
»Meinst du? Du kennst sie nicht.«
»Wen kenne ich nicht?«
»Die vornehmen Damen.«
»Hintergehen sie ihre Männer? Das kann doch nicht möglich sein!«
»Du meinst, weil sie verheiratet sind, in der Kirche, durch den Popen? Vielleicht sind sie gerade deswegen so geworden. Der Mensch läßt sich nicht zwingen; am allerwenigsten darin.«
»Worin läßt der Mensch sich nicht zwingen?«
»In seinen Leidenschaften und Begierden. Doch das verstehst du nicht.«
»Nein. Hintergeht Anna Pawlowna ihren Mann?«
»Bis jetzt noch nicht. Es ist merkwürdig genug. Man wird nicht klug aus diesem Weibe. Nun, wir werden ja sehen.«
Er blickte zu Sascha hinüber. Weras Augen folgten den seinen.
Er steht noch immer da, dachte sie mit tiefem Kummer. Was für ein Zauber liegt auf ihm? Eine Prinzessin und eine verheiratete Frau! Wie kann eine solche Sünde für ihn möglich sein? Ich möchte ihn auffordern, mitzugehen; es ist seiner nicht würdig, so dazustehen.
Aber Wladimir hielt sie zurück.
»Laß ihn! Es paßt in meinen Plan, daß er dort steht. Er ist doch nicht zu anderem zu verwenden, mit seinem dicken Blut und schwerfälligen Denken. Seine Seele muß erst erweckt werden – durch die Leidenschaft. Erst dann wird er ein Auferstandener sein, an dem wir noch Freude erleben werden.«
Eine Pause entstand. Auch Wladimir und Wera beobachteten das gegenüberliegende Haus.
Wera war zu sehr geängstigt; sie wollte mehr hören, sie mußte sich Gewißheit verschaffen.
»Sie liebt das Volk.«
»Wer soll das Volk lieben?«
»Anna Pawlowna.«
»Hm!«
»Was sagst du?«
»Frage Sascha.«
»Er sagte es mir.«
»Nun, er muß es wissen.«
»Wie meinst du das'?«
»Ich meine,« sagte Wladimir, jedes Wort scharf betonend, »daß Anna Pawlowna das Volk liebt, genau so wie Boris Alexeiwitsch es liebt, und daß beide ihre Liebe büßen werden.«
»Warum büßen? Was tut Boris Alexeiwitsch, daß er zu büßen hätte?«
»Du wirst es erfahren. In diesem Augenblick tut er, was er immer getan hat und immer tun wird, er genießt sein Leben.«
Er deutete auf das Vestibül des Palastes. Die mit persischen Teppichen belegte Marmortreppe stieg eine vom Kopf bis zu den Füßen in einen golddurchwirkten Burnus gehüllte Dame herab. Man hörte ihre schwere Robe rauschen. Wie eine Blutwelle floß hinter der goldenen Gestalt der rote Atlas die Stufen herab. An ihrer Seite befand sich ein Herr, den Wera sofort erkannte – Boris Alexeiwitsch! Der Portier trat vor den beiden auf die Gasse heraus und rief den Wagen auf: »Fürstin Danilowsky!«
Der Wagen der Fürstin fuhr vor, ein in Pelze gehüllter Diener öffnete den Schlag; die Dame und der Herr stiegen ein.
»Das hat Boris Alexeiwitsch zu tun,« wiederholte Wladimir.
Er deutete auf ihn, wie er neben der Fürstin in die Kissen des Wagens sank. Jetzt sah Boris die beiden. Er schnellte auf, beugte sich vor, da zogen die Pferde an.
»Morgen wird er sicher in die Versammlung kommen,« meinte Wladimir gelassen. »Laß uns nach Hause gehn.«
»Aber Sascha?«
»Der mag stehenbleiben!«
»Nein.«
Und sie ging zu ihm.
Elftes Kapitel
Als Wera in die Kammer trat, um sich noch für einige Stunden niederzulegen, war es voller Tag. Die ersten Strahlen der Sonne füllten den elenden Raum und vergoldeten das schlechte Lager, darauf die holde Tania in friedlichem Schlummer lag. Der Traum mochte sie mit ihrem Verlobten zusammengeführt haben, denn ein glückseliges Lächeln spielte um ihre Lippen. Wera mußte an Wladimirs Lachen denken. Plötzlich sah sie Tanias Lächeln in einem tiefen, schmerzlichen Seufzer hinsterben. Der Sonnenschein schwand von der reizenden Gestalt. Aber, als dränge sich aller