Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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seelische Spannung seit frühester Kindheit feststellen, den Minderwertigkeitskomplex und den Überlegenheits­komplex, den Mangel an Interesse für andere, Eigenliebe sowohl in ihrem jetzigen Leben als auch in Erinnerungen und Träumen, haben wir auch noch dazu Erfolg mit der individualpsychologischen Behandlung, etwa gar einen Dauererfolg, so ist damit ein weiterer Beweis geliefert, daß Erkrankungen wie nervöser Kopfschmerz, Migräne, Trigeminusneuralgie und epileptiforme Anfälle, sofern keine organischen Störungen nachzuweisen sind, durch eine Veränderung des Lebensstils, durch Herabsetzung der seelischen Spannung, durch Erweiterung des Gemeinschaftsgefühles möglicherweise einer dauernden Heilung zuzuführen sind.

      Der Harndrang bei Besuchsgelegenheiten gibt uns schon ein Bild einer allzu leicht aufgeregten Person, wobei die Ursache des Harndranges, ebenso wie die Ursache des Stotterns und anderer nervöser Störungen und Charakterzüge, wie auch des Lampenfiebers exogen ist, in der Begegnung mit anderen Personen liegt. Dabei ist auch das erhöhte Minderwertigkeitsgefühl zu sehen. Wer individualpsychologische Einsicht besitzt, wird hier auch leicht die Abhängigkeit vom Urteil der anderen, demnach das erhöhte Streben nach Anerkennung, nach persönlicher Überlegenheit wahrnehmen. Die Patientin selbst erklärt, an anderen kein besonderes Interesse zu haben. Sie behauptet, nicht ängstlich zu sein, auch ohne Anstrengung mit anderen sprechen zu können, geht aber im Vielreden weit über das gewöhnliche Maß hinaus und läßt mich kaum zu Wort kommen, was ein sicheres Zeichen ihrer Neigung zu krampfhafter Selbstdarstellung ist. In ihrer Ehe ist sie wohl die regierende Person, scheitert aber an der Indolenz und an dem Ruhebedürfnis ihres Gatten, der angestrengt arbeitet und spät am Abend müde nach Hause kommt, nicht geneigt, mit seiner Frau auszugehen oder mit ihr Unterhaltungen aufzusuchen. Wenn sie vorspielen sollte, litt sie an starkem Lampenfieber. Die von mir als bedeutsam empfohlene Frage, was sie tun würde, wenn sie gesund wäre � eine Frage, deren Beantwortung deutlich zeigt, wovor die Patienten zurückschrecken �, beantwortet die Patientin ausweichend mit dem Hinweis auf die dauernden Kopfschmerzen. An der linken Augenbraue befindet sich eine tiefsitzende Narbe nach einer Operation der Ethmoidhöhle, einer Operation, der sehr bald wieder der Migräneanfall folgte. Daß ihr Kälte in jeder Form schade und Anfälle hervorrufen könne, behauptet die Patientin steif und fest. Nichtsdestoweniger ging sie vor dem letzten Anfall in ein kaltes Bad, das, wie sie meint, den Anfall prompt auslöste. Die Anfälle sind nicht von einer Aura eingeleitet. Übelkeiten im Beginne des Anfalles treten gelegentlich auf, nicht immer. Sie ist von verschiedenen Ärzten gründlich untersucht worden, ohne daß eine organische Veränderung gefunden worden wäre. Röntgenuntersuchung des Schädels, Blut- und Harnuntersuchung waren negativ. Uterusbefund: infantil, Anteversio und Anteflexio. Ich habe in meiner »Studie über Minderwertigkeit von Organen« darauf hingewiesen, daß man nicht nur häufig Organminderwertigkeiten bei Neurotikern findet, wofür die Ergebnisse der Kretschmerschen Untersuchungen eine gute Bestätigung abgeben, sondern auch, daß man bei Organminderwertigkeiten stets auch Minderwertigkeiten der Sexualorgane zu erwarten hat, was durch Kyrie, der leider zu früh verstorben ist, nachgewiesen wurde. Hier ist ein solches Beispiel.

      Es stellte sich heraus, daß die Patientin, seit sie die Geburt eines jüngeren Geschwisters unter größtem Schrecken erlebt hatte, vor dem Gebären eine wahnsinnige Angst hatte. Dies bestätigt meine Warnungen, Kindern sexuelle Fakten zu früh nahezulegen, solange man nicht sicher ist, daß sie sie richtig verstehen und verdauen können. Als sie elf Jahre alt war, beschuldigte sie ihr Vater zu Unrecht, daß sie sexuellen Umgang mit einem Nachbarssohn gehabt hätte. Auch dieses mit Schreck und Angst verknüpfte Nahebringen der Sexualbeziehung verstärkte ihren Protest gegen die Liebe, der sich während ihrer Ehe als Frigidität darstellte. Vor Eingehen ihrer Ehe verlangte sie die bindende Erklärung von ihrem Bräutigam, daß er auf Kinder dauernd verzichten würde. Ihre Migräneanfälle und die stets festgehaltene Furcht vor solchen setzten sie leicht in die Lage, den ehelichen Verkehr auf ein Minimum zu reduzieren. Wie man oft bei sehr ehrgeizigen Mädchen findet, gestalten sich ihre Liebesbeziehungen irgendwie schwierig, weil sie diese in einem schweren Minderwertigkeitsgefühl, dem unsere kulturelle Zurückgebliebenheit Vorschub leistet, mißverständlich als Zurücksetzung der Frau erlebte.

      Das Minderwertigkeitsgefühl und der Minderwertigkeitskomplex, diese fundamentale Anschauung der Individualpsychologie, einst von den Psychoanalytikern als das rote Tuch betrachtet ebenso wie der männliche Protest, sind heute von Freud vollkommen aufgenommen und nur ganz schwächlich in sein System eingezwängt. Was aber bis heute von dieser Schule noch nicht verstanden ist, ist die Tatsache, daß ein solches Mädchen unter fortwährenden protestierenden Emotionen steht, die den Körper und die Seele vibrieren machen und sich jedesmal nur im Falle eines exogenen Faktors, im Falle einer Prüfung auf das vorhandene Gemeinschaftsgefühl als akute Symptome äußern.

      In diesem Falle sind die symptomatischen Äußerungen Migräne und Harndrang. Als Dauersymptom besteht seit ihrer Ehe Furcht vor Kindersegen und Frigidität. Ich glaube, ein gutes Stück zur Erklärung der Migräne bei dieser herrschsüchtigen und jähzornigen Person � und es scheint, daß nur solche Personen unter Hinzukommen der oben beschriebenen Asymmetrie an Migräne und ähnlichen Schmerzen erkranken können � beigebracht zu haben, habe aber noch jenen exogenen Faktor nachzuweisen, der den letzten, so außerordentlich schweren Anfall erzeugt hat. Ich kann nicht ganz leugnen, daß in diesem Falle das kalte Bad den Anfall ausgelöst hat, bin aber stutzig darüber, daß die Patientin, die so genau und so lange schon über den Schaden der Kälte Bescheid weiß, vor sieben Monaten ohne weiteres bereit war, ins kalte Wasser zu steigen, wie sie sagt, ohne an die Gefahr zu denken. Sollte damals ihre Zornwelle gestiegen sein? Kam ihr damals vielleicht ein Anfall gelegen? Hatte sie einen Gegenspieler, wie etwa den ihr in Liebe ergebenen Gatten, den sie damit treffen wollte, und ging sie ins kalte Wasser etwa wie einer, der Selbstmord aus Rache, zur Bestrafung einer anhänglichen Person begehen will? Wütet sie noch immer gegen sich, weil sie gegen einen anderen wütet? Vertieft sie sich in die Lektüre über Migräne, geht sie zu Ärzten und erfüllt sie sich mit der Überzeugung, nie gesund werden zu können, um die Lösung ihrer Lebensprobleme, vor denen sie sich aus mangelhaftem Gemeinschaftsgefühl fürchtet, hinauszuschieben?

      Sie schätzt wohl ihren Gatten, ist aber von Liebe weit entfernt, hat auch niemals wirklich geliebt. Auf die Frage, die wiederholt an sie gestellt war, was sie täte, wenn sie dauernd geheilt wäre, antwortet sie endlich, sie würde aus der Provinz in die Großstadt gehen, dort Violinunterricht geben und in einem Orchester mitspielen. Wer die individualpsychologische Kunst des Erratens erworben hat, wird unschwer heraushören, daß dies die Trennung von ihrem Gatten bedeuten würde, der an den Provinzort gebunden ist. Bestätigung siehe oben: wie wohl sie sich im Hause der Schwägerin fühlt, sowie die Vorwürfe gegen den Gatten. Da der Gatte sie sehr verehrt, ihr auch die unvergleichlich beste Gelegenheit gibt, ihrer Herrschsucht die Zügel schießen zu lassen, so ist es natürlich sehr schwer für sie, sich von ihm zu trennen. Ich würde davor warnen, ihr den Weg der Trennung durch Rat und gute Worte zu erleichtern. Ich muß besonders davor warnen, in einem solchen oder ähnlichen Falle einen Liebhaber zu empfehlen. Solche Patienten wissen wohl, was Liebe ist, verstehen es aber nicht, und würden sich nur schwere Enttäuschungen holen, die Verantwortung für alles aber dem Arzt aufladen, wenn sie seinem Rat folgen. Die Aufgabe in diesem Falle besteht darin, diese Frau für ihre Ehe tauglicher zu machen. Zuvor aber müssen die Irrtümer in ihrem Lebensstil hinweggeräumt werden.

      Feststellung nach genauer Untersuchung: Die linke Gesichtshälfte ist etwas kleiner als die rechte. Deshalb ist die Nasenspitze etwas nach links gerichtet. Das linke, derzeit erkrankte Auge zeigt eine engere Augenspalte als das rechte. Warum die Patientin auch gelegentlich auf der rechten Seite das Symptom zeigt, vermag ich derzeit nicht zu erklären. Vielleicht irrt die Patientin in dieser Angabe.

      Ein Traum: »Ich war mit einer Schwägerin und einer älteren Schwester im Theater. Ich sagte ihnen, sie sollten ein bißchen warten, ich werde mich ihnen auf der Bühne zeigen.« Erklärung: Sie sucht sich immer vor ihren Verwandten hervorzutun. Möchte auch in einem Theaterorchester spielen. Glaubt, von ihren Verwandten nicht genug geschätzt zu werden. Auch die von mir begründete Organminderwertigkeitslehre mit seelischer Kompensation, ein Befund, der, wie einmal festgestellt werden soll, den Ergebnissen Kretschmers und Jaenschs zugrunde liegt, kommt zu ihrem Recht. Es ist kaum zu bezweifeln, daß im Sehapparat dieser Frau etwas nicht richtig ist. Auch bei ihrem an der gleichen Krankheit leidenden Bruder nicht.


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