Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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Gestalter des Schicksals. Wie in der Freundschaft, in der Geschwister- oder in der Elternbeziehung handelt es sich in der Liebe um eine Aufgabe für zwei Personen, diesmal verschiedenen Geschlechts, mit dem Ausblick auf Nachkommenschaft, auf Erhaltung des Menschengeschlechts. Keines der menschlichen Probleme ist vielleicht der Wohlfahrt und dem Wohlergehen des einzelnen in der Gesamtheit so nahe gerückt wie das Problem der Liebe. Eine Aufgabe für zwei Personen hat eine eigene Struktur und kann nicht nach Art einer Aufgabe für eine einzelne Person richtig gelöst werden. Es ist, als ob jede dieser Personen sich ganz vergessen und ganz der anderen Person hingegeben sein müßte, um dem Problem der Liebe zu genügen, als ob aus zwei Menschen ein Wesen gebildet werden müßte. Die gleiche Notwendigkeit trifft auch bis zu einem gewissen Grade für die Freundschaft zu und für Aufgaben wie Tanz oder Spiel oder Arbeit zweier Personen mit dem gleichen Gerät am selben Objekt. Es ist unweigerlich in dieser Struktur enthalten, daß Fragen der Ungleichheit, Zweifel aneinander, feindliche Gedanken oder Gefühle dabei ausgeschaltet sein müssen. Und es liegt im Wesen der Liebe, daß körperliche Anziehung nicht entbehrt werden kann. Es liegt wohl auch im Wesen und in der individuellen Auswirkung der Evolution, daß sie bis zu einem gewissen, dem notwendigen Aufschwung der Menschheit entsprechenden Grade, die Auswahl des Partners beeinflußt.

      So stellt die Evolution unsere ästhetischen Gefühle in den Dienst der Menschheitsentwicklung, indem sie uns, bewußt und unbewußt, das höhere Ideal im Partner ahnen läßt. Neben der heute noch von Mann und Weib vielfach verkannten Selbstverständlichkeit der Gleichheit in der Liebe ist das Gefühl der Hingebung aneinander nicht zu umgehen. Dieses Gefühl der Devotion wird ungeheuer oft von Männern, noch mehr von Mädchen, als eine sklavische Unterordnung mißverstanden und schreckt besonders diejenigen von der Liebe ab oder macht sie funktionsunfähig, die in ihrem Lebensstil zum Prinzip der selbstischen Überlegenheit gekommen sind. Die mangelhafte Eignung in allen drei Punkten, in der Vorbereitung für eine Aufgabe zu zweit, im Bewußtsein der Gleichwertigkeit und in der Fähigkeit zur Hingabe, charakterisiert alle Personen mit mangelhaftem Gemeinschaftsgefühl. Die Schwierigkeit, die ihnen in dieser Aufgabe erwächst, verleitet sie unausgesetzt zu Versuchen einer Erleichterung in Fragen der Liebe und der Ehe, letztere in ihrer monogamen Ausgestaltung wohl die beste aktive Anpassung an die Evolution. Die oben geschilderte Struktur der Liebe erfordert außerdem, da sie Aufgabe und nicht Schlußpunkt einer Entwicklung ist, eine endgültige Entscheidung für die Ewigkeit, wie sie sich als ewig in den Kindern und in deren Erziehung zum Wohl der Menschheit auswirken soll. Es ist ein unheimlicher Ausblick, der uns wahrnehmen läßt, daß Verfehlungen und Irrtümer, ein Mangel des Gemeinschaftsgefühls in der Liebe zum Ausschluß vom ewigen Dasein auf dieser Erde in Kindern und in Werken der Erziehung Anlaß geben kann. Eine Bagatellisierung der Liebe, wie sie sich in der Promiskuität zeigt, in der Prostitution, in den Perversionen und im heimlichen Versteck der Nacktkultur, würde der Liebe alle Größe, allen Glanz und allen ästhetischen Zauber nehmen. Die Weigerung, ein dauerndes Bündnis einzugehen, streut Zweifel und Mißtrauen zwischen die Partner einer gemeinsamen Aufgabe und macht sie unfähig, sich ganz hinzugeben. Ähnliche Schwierigkeiten, in jedem Falle verschieden, wird man als Zeichen verminderten Gemeinschaftsgefühls in allen Fällen von unglücklicher Liebe und Ehe, in allen Fällen von Versagen mit Recht erwarteter Funktionen nachweisen können, wo einzig die Korrektur des Lebensstils Besserung bringen kann. Es ist für mich auch keine Frage, daß die Bagatellisierung der Liebe, also ein Mangel an Gemeinschaftsgefühl, in der Promiskuität zum Beispiel, zum Hereinbrechen der Geschlechtskrankheiten den Anlaß gegeben hat und so zur Vernichtung des Einzellebens, von Familien und Volksstämmen geführt hat. Wie man im Leben keine Regel findet, die restlos unfehlbar wäre, so gibt es auch Gründe, die für eine Auflösung einer Liebes- oder Ehebindung sprechen. Freilich ist nicht jedem soviel Verständnis zuzutrauen, daß er selbst ein richtiges Urteil fällen könnte. Deshalb sollte man diese Frage in die Hände erfahrener Psychologen legen, denen man ein Urteil im Sinne des Gemeinschaftsgefühls zutrauen kann. Auch die Frage der Kinderverhütung bewegt unsere Zeit sehr. Seit die Menschheit den Spruch erfüllt hat und so zahlreich ist wie der Sand am Meere, dürfte das Gemeinschaftsgefühl der Menschen in der Strenge der Forderung nach unbeschränkter Nachkommen­schaft stark nachgelassen haben. Auch die ungeheure Entwicklung der Technik macht allzu viele Hände überflüssig. Der Drang nach Mitarbeitern hat erheblich abgenommen. Die sozialen Verhältnisse verlocken nicht zur weiteren rapiden Vermehrung. Der stark gesteigerte Grad der Liebesfähigkeit rechnet mehr als vorher mit dem Wohlergehen und mit der Gesundheit der Mutter. Die wachsende Kultur hat auch für Frauen die Grenzen der Bildungsfähigkeit und des seelischen Interesses aufgehoben. Die heutige Technik erlaubt dem Mann und der Frau, mehr Zeit der Bildung und der Erholung und dem Vergnügen sowie der Erziehung der Kinder zu widmen, eine Ausdehnung der Ruhepause von der Arbeit Mühe, die sich in naher Zukunft noch vergrößern, und, wenn richtig verwendet, viel zum eigenen Wohle und zum Wohle der Angehörigen beitragen wird. All diese Tatsachen haben dazu beigetragen, der Liebe neben ihrer Aufgabe, der Fortpflanzung zu dienen, eine davon fast unabhängige Rolle zuzuweisen, ein höheres Niveau, eine Glückssteigerung, die sicher zum Wohle der Menschheit beiträgt. Man wird durch Gesetze und Formeln diesen einmal gewonnenen Entwicklungsfortschritt, der ja auch den Menschen vom Tiere unterscheidet, nicht hemmen können. Die Entscheidung über Geburten wird man am besten ganz der wohlberatenen Frau überlassen müssen. In Fragen der künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft dürften Mutter und Kind am besten behütet sein, wenn, abgesehen von einer medizinischen Beschlußfassung, ein geeigneter psychologischer Berater unwesentliche Gründe, die für die Unterbrechung angeführt werden, widerlegt, wesentlichen aber Folge gibt, und wenn im Ernstfall die Unterbrechung stets kostenlos in einer Anstalt durchgeführt wird.

      Für die richtige Wahl des Partners aber kommen neben der körperlichen Eignung und Anziehung hauptsächlich folgende Punkte in Betracht, die den zureichenden Grad seines Gemeinschaftsgefühls erweisen sollen:

      Der Partner muß bewiesen haben, daß er Freundschaft halten kann;

      er muß Interesse für seine Arbeit besitzen;

      er muß mehr Interesse für seinen Partner an den Tag legen als für sich.

      Freilich kann die Furcht vor Kindersegen auch durchaus selbstische Ursachen haben, die, wie immer sie Ausdruck finden, letzten Endes stets auf einen Mangel an Gemeinschaftsgefühl zurückführen. So, wenn ein verwöhntes Mädchen in der Ehe nur weiter das verwöhnte Kind spielen will, oder, nur auf sein Äußeres bedacht, die Entstellung durch die Schwangerschaft oder Geburt fürchtet und überschätzt, wenn es ohne Rivalin bleiben will, gelegentlich auch, wenn es ohne Liebe in die Ehe gegangen ist. In vielen Fällen spielt der »männliche Protest« in den Funktionen der Frau und in der Ablehnung des Gebarens eine unheilvolle Rolle. Diese Proteststellung der Frau gegen ihre Geschlechtsrolle, die ich als erster unter obigem Namen beschrieben habe, gibt vielfach den Anlaß zu Menstruationsstörungen und Funktionsstörungen in der Sexualsphäre, stammt immer aus der Unzufriedenheit mit einer Geschlechtsrolle, die schon in der Familie als untergeordnet aufgefaßt wurde, wird aber durch die Unvollkommenheit unserer Kultur wesentlich gefördert, die der Frau heimlich oder offen einen untergeordneten Rang zuzuweisen trachtet. So kann auch das Eintreten der Menstruation in manchen Fällen durch eine seelische Gegenwehr des Mädchens zu allerlei Beschwerden führen und eine mangelhafte Vorbereitung zur Kooperation verraten. Der »männliche Protest« in seinen vielfachen Protestformen, unter denen eine als Sucht, einen Mann zu spielen, auftritt und zu lesbischer Liebe führen kann, ist demnach als Überlegenheitskomplex aufzufassen, der sich über einem Minderwertigkeitskomplex aufbaut: »Nur ein Mädchen.«

      In der Zeit, die der Liebe gehört, kommen, gleichzeitig bei mangelhafter Vorbereitung für Beruf und Gesellschaft, auch andere Formen des Rückzugs vom sozialen Interesse in Sicht. Die schwerste Form ist wohl im jugendlichen Irresein zu sehen, einer nahezu vollkommenen Abschließung von den Forderungen der Gemeinschaft. Diese psychische Erkrankung steht mit Organminderwertigkeiten in Zusammenhang, wie Kretschmer gefunden hat. Seine Nachweise ergänzen meinen Befund von der Bedeutung der organischen Bürde im Beginne des Lebens, ohne daß der Autor der Bedeutung solcher minderwertiger Organe für den Aufbau des Lebensstils, wie die Individualpsychologie es tut, Rechnung getragen hätte. Auch der Verfall in die Neurose wird unter dem unaufhörlichen Druck der äußeren Umstände, die Vorbereitung zur Mitarbeit erfordern, immer häufiger, ebenso Selbstmord als perfekter Rückzug, gleichzeitig als komplette


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