Gesammelte Werke. Alfred Adler

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und der individualpsychologischen Traumdeutung. Auch ist im Falle eines Minderwertigkeits­komplexes die sexuelle Haltung und Entwicklung eines Individuums nur ein Teil des Ganzen und in den Minderwertigkeitskomplex völlig einbezogen.

      7. Der Überlegenheitskomplex

       Inhaltsverzeichnis

      Der Leser wird mit Recht nun die Frage aufwerfen, wo denn im Falle des Minderwertigkeitskomplexes das Streben nach Überlegenheit zu finden ist. Denn in der Tat, wenn es uns nicht gelänge, dieses Streben in den überaus zahlreichen Fällen von Minderwertigkeitskomplexen nachzuweisen, so hätte die individualpsychologische Wissenschaft einen derartigen Widerspruch zu verzeichnen, daß sie daran scheitern müßte. Ein großer Teil dieser Frage ist aber bereits beantwortet. Das Streben nach Überlegenheit wirft das Individuum von der gefährlichen Stelle zurück, sobald ihm durch seinen Mangel an Gemeinschaftsgefühl, der sich in offener oder versteckter Mutlosigkeit äußert, eine Niederlage zu drohen scheint. Das Streben nach Überlegenheit wirkt sich auch darin aus, daß es das Individuum auf der Rückzugslinie vom Gemeinschaftsproblem festhält oder ihm eine Ausbiegung aufdrängt. Festgehalten im Widerspruch seines »Ja, aber« zwingt es ihm eine Meinung auf, die vielmehr dem »Aber« Rechnung trägt und seine Gedankenwelt so sehr im Banne hält, daß es sich nur oder hauptsächlich mit den Resultaten der Schockwirkung beschäftigt. Dies um so mehr, als es sich dabei immer um Individuen handelt, die von Kindheit ohne richtiges Gemeinschaftsgefühl sich fast ausschließlich mit ihrer Person, mit ihrer Lust oder Unlust beschäftigt haben. Man kann in diesen Fällen beiläufig drei Typen unterscheiden, deren unharmonischer Lebensstil einen Anteil des Seelenlebens besonders deutlich entwickelt hat. Der eine Typus betrifft Menschen, bei denen die Denksphäre die Ausdrucksformen beherrscht. Der zweite Typus ist durch Überwuchern des Gefühls- und Trieblebens gekennzeichnet. Ein dritter Typus entwickelt sich mehr in der Richtung der Aktivität. Ein vollständiges Fehlen einer dieser drei Seiten findet sich natürlich niemals. Jeder Fehlschlag wird deshalb in der anhaltenden Schockwirkung auch diese Seite seines Lebensstils besonders deutlich zeigen. Während im allgemeinen beim Verbrecher und beim Selbstmörder mehr der Anteil der Aktivität hervorgetrieben erscheint, zeichnet sich ein Teil der Neurosen durch Betonung der Gefühlsseite aus, wenn nicht wie zumeist in der Zwangsneurose und in den Psychosen die meist stärkere Akzentuation des gedanklichen Materials hervortritt. Der Süchtige ist wohl immer ein Gefühlsmensch. Die Loslösung von der Erfüllung eines Lebensproblems aber zwingt der menschlichen Gemeinschaft eine Aufgabe auf und macht sie zum Objekt der Ausbeutung. Der Mangel an Mitarbeit der einen muß durch vermehrte Leistung der anderen, durch die Familie oder durch die Gesellschaft, ersetzt werden. Es ist ein stiller, unverstandener Kampf gegen das Ideal der Gemeinschaft, der da geführt wird, ein ständiger Protest, der nicht der Weiterentwicklung des Gemeinschaftsgefühls dient, sondern seine Durchbrechung bezweckt. Immer aber ist die persönliche Überlegenheit in Gegensatz zur Mitarbeit gesetzt. Und man kann auch aus diesem Punkte ersehen, daß es sich bei Fehlschlägen um Menschen handelt, deren Entwicklung zum Mitmenschen aufgehalten wurde, denen schon das richtige Sehen, das richtige Hören, Sprechen und Urteilen fehlt. An Stelle des Common sense besitzen sie eine »private Intelligenz«, die sie zur Sicherung ihrer Abwegigkeit klug benützen. Ich habe das verwöhnte Kind als Parasiten geschildert, der stets bestrebt ist, den anderen in Kontribution zu setzen. Wird ein Lebensstil daraus, so läßt es sich verstehen, daß den weitaus meisten der Fehlschläge der Beitrag der anderen als ihr Eigentum erscheint, mag es sich nun um Zärtlichkeit, um Besitz, um materielle oder geistige Arbeit handeln. Die Gemeinschaft, mag sie sich gegen diese Übergriffe mit noch so starken Mitteln oder Worten wehren, muß aus ihrem innersten Drang, weniger aus ihrem Verständnis, naturgemäß Milde und Schonung üben, weil es ihre ewige Aufgabe ist, Irrtümer nicht zu strafen oder zu rächen, sondern aufzuklären und zu beheben. Immer aber ist es ein Protest gegen den Zwang des Mitlebens, der Individuen, ungeschult im Gemeinschaftsgefühl, unerträglich, ihrer privaten Intelligenz zuwiderlaufend, ihrem Streben nach persönlicher Überlegenheit bedrohlich erscheint. Es ist für die Macht des Gemeinschaftsgefühls bezeichnend, daß jedermann die Abwegigkeiten und Fehlschläge höheren und niedrigeren Grades als normwidrig, als unrichtig erkennt, als ob jeder dem Gemeinschaftsgefühl seinen Tribut zollen müßte. Selbst Autoren, die in wissenschaftlicher Verblendung, gelegentlich mit genialen Zügen ausgestattet, den künstlich gezüchteten Willen zur persönlichen Macht in einer Verkleidung sehen, als bösen Urtrieb, als Übermenschentum, als sadistischen Urtrieb betrachten, sehen sich gezwungen, dem Gemeinschaftsgefühl in seiner idealen Zuspitzung ihre Reverenz zu machen. Selbst der Verbrecher, schon mit seinem Ziel im Auge, muß planen und nach einer Rechtfertigung für seine Tat suchen, bis er die Grenze, die ihn noch von der Gemeinschaftslosigkeit trennt, überschreiten kann. Vom ewig fixen Standpunkt des idealen Gemeinschaftsgefühls aus gesehen, stellt sich jede Abwegigkeit als ein trickhafter Versuch dar, der nach dem Ziel einer persönlichen Überlegenheit schielt. Einer Niederlage auf dem Boden der Gemeinschaft entronnen zu sein, ist für die meisten dieser Menschen mit einem Gefühl der Überlegenheit verknüpft. Und wo die Furcht vor einer Niederlage sie dem Kreis der Mitarbeiter ständig ferne zu halten trachtet, erleben oder genießen sie ihr Fernbleiben von den Aufgaben des Lebens als eine Erleichterung und als ein Privilegium, das sie vor den anderen voraus haben. Selbst wo sie leiden, wie in der Neurose, sind sie ganz in die Mittel ihrer Vorzugsstellung verwickelt, in ihr Leiden, ohne zu erkennen, wie für sie der Leidensweg zur Befreiung von den Lebensaufgaben führen soll. Je größer ihr Leiden ist, um so weniger sind sie angefochten, um so mehr sind sie frei vom wirklichen Sinn des Lebens. Dieses Leiden, das so untrennbar mit der Erleichterung und Befreiung von den Lebensfragen verbunden ist, kann nur dem als Selbstbestrafung erscheinen, der nicht gelernt hat, Ausdrucksformen als Teil des Ganzen zu erfassen, mehr noch, als Antwort auf die Fragen der fordernden Gemeinschaft. Er wird das neurotische Leiden als selbständigen Anteil so ansehen, wie es der Neurotiker sieht.

      Am schwersten wird sich der Leser oder der Gegner meiner Anschauungen damit abfinden können, daß selbst Unterwürfigkeit, Knechtseligkeit, Unselbständigkeit, Faulheit und masochistische Züge, deutliche Zeichen eines Minderwertigkeitsgefühls, das Gefühl einer Erleichterung oder gar eines Privilegiums aufkommen lassen. Daß sie Proteste sind gegen eine aktive Lösung der Lebensfragen im Sinne der Gemeinschaft, ist leicht zu verstehen. Ebenso daß sie trickhafte Versuche darstellen, einer Niederlage zu entgehen, wo Gemeinschaftsgefühl in Anspruch genommen wird, von dem sie, wie aus ihrem ganzen Lebensstil hervorgeht, zu wenig besitzen. Zumeist fällt dabei den ändern eine Fleißaufgabe zu, oder sie diktieren sie sogar � wie im Masochismus � oft gegen den Willen der anderen. In allen Fällen von Fehlschlägen ist die Sonderstellung, die sich das Individuum eingeräumt hat, klar zu sehen, eine Sonderstellung, die es auch mit Leiden, mit Klagen, mit Schuldgefühlen dann und wann bezahlt, ohne aber von dem Platze zu rücken, der ihm mangels seiner Vorbereitung zum Gemeinschaftsgefühl als gelungenes Alibi erscheint, wenn die Frage an ihn herantritt: »Wo warst du denn, als ich die Welt verteilet?«

      Der Überlegenheitskomplex, wie ich ihn beschrieben habe, erscheint meist klar gekennzeichnet in Haltung, Charakterzügen und Meinungen von der eigenen übermenschlichen Gabe und Leistungsfähigkeit. Auch in den übertriebenen Ansprüchen an sich und an die anderen kann er sichtbar werden. Die Nase hoch tragen, Eitelkeiten in bezug auf äußere Erscheinung, sei diese nobel oder vernachlässigt, aus der Art fallende Trachten, übertrieben männliches Auftreten bei Frauen, weibliches bei Männern, Hochmut, Gefühlsüberschwang, Snobismus, Prahlsucht, tyrannisches Wesen, Nörgelsucht, die von mir als charakteristisch beschriebene Entwertungs­tendenz, übertriebener Heroenkult sowie eine Neigung, sich an prominente Personen anzubiedern oder über Schwache, Kranke, über Personen von geringeren Dimensionen zu gebieten, Betonung der besonderen Eigenart, Mißbrauch von wertvollen Ideen und Strömungen behufs Entwertung der anderen usw. können die Aufmerksamkeit auf einen aufzufindenden Überlegenheitskomplex lenken. Ebenso Affektsteigerungen, wie Zorn, Rachsucht, Trauer, Enthusiasmus, habituell schallendes Lachen, Weghören und Wegblicken beim Zusammentreffen mit anderen, das Lenken des Gesprächs auf die eigene Person, habitueller Enthusiasmus bei oft nichtigen Angelegenheiten zeigen Minderwertigkeitsgefühl recht häufig, auslaufend in einen Überlegenheitskomplex. Auch gläubige Annahmen, Glaube an telepathische oder ähnliche Fähigkeiten, an prophetische Eingebungen


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