Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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sehen. Daß es sich dabei um Neugestaltungen des gleichen Lebensstils handelt, und nicht um jenen fiktiven Prozeß, den Freud »Regression« nennt, liegt auf der Hand. Die Ähnlichkeit dieser Lebensformen mit früheren oder auch Einzelheiten derselben darf nicht als Identität angesehen werden, und die Tatsache, daß jedes Lebewesen den Fonds seiner geistigen und körperlichen Reichweite und sonst nichts zur Verfügung hat, nicht als Rückfall in ein infantiles oder urmenschliches Stadium. Das Leben fordert die Lösung der Aufgaben der Gemeinschaft, und so deutet jedes Verhalten immer in die Zukunft, auch wenn es aus der Vergangenheit die Mittel zum Ausbau seines Verhaltens nimmt.

      Immer ist es der Mangel an Gemeinschaftsgefühl, mag man ihm welchen Namen immer geben, wie Mitmenschlichkeit, Kooperation, Humanität oder gar Ideal-Ich, dem eine ungenügende Vorbereitung für alle Lebensprobleme entspringt. Diese mangelhafte Vorbereitung ist es, die angesichts des Problems oder mitten darin zu den tausendfachen Ausdrucksformen körperlicher und seelischer Minderwertigkeit und Unsicherheit Anlaß gibt. Dieser Mangel ruft ja auch schon früher Minderwertigkeitsgefühle aller Art hervor, die sich nur nicht so deutlich zeigen, wohl aber im Charakter, in der Bewegung, in der Haltung, in der durch das Minderwertigkeitsgefühl induzierten Denkweise und in der Abwegigkeit des Vormarsches Ausdruck finden. Alle diese Ausdrucksformen des durch den Mangel an Gemeinschafts­gefühl verstärkten Minderwertigkeitsgefühls werden offenbar im Moment des gefährlichen Problems, der »exogenen Ursache«, die in keinem Falle eines »typischen Fehlschlages« vermißt wird, mag sie auch nicht von jedem gefunden werden. Das Festhalten an den Erschütterungen, ein Versuch zur Erleichterung der drückenden Situation des schweren Minderwertigkeits­gefühls, eine Folge des unaufhörlichen Strebens, aus der Minussituation herauszukommen, schafft erst die »typischen« Fehlschläge. In keinem dieser Fälle aber wird der Vorzug des Gemeinschaftsgefühls bestritten oder der Unterschied zwischen »gut« und »böse« verwischt. In jedem dieser Fälle findet sich ein »Ja«, das den Druck des Gemeinschaftsgefühls betont, immer aber gefolgt von einem »Aber«, das stärkere Kraft besitzt und die nötige Verstärkung des Gemeinschaftsgefühls hindert. Das »Aber« ist in allen typischen und Einzelfällen verschieden. Die Schwierigkeit einer Heilung entspricht seiner Stärke. Am stärksten ist es im Selbstmord und in der Psychose ausgesprochen, Folgen von Erschütterungen, bei denen das »Ja« nahezu verschwindet.

      Charakterzüge wie Ängstlichkeit, Scheu, Verschlossenheit, Pessimismus charakterisieren den mangelhaft en Kontakt von langer Zeit her und werden bei strengerer Prüfung durch das Schicksal wesentlich verstärkt, erscheinen in der Neurose zum Beispiel als mehr oder weniger ausgeprägte Krankheitssymptome. Dasselbe gilt für charakteristisch verlangsamte Bewegung, die das Individuum immer im Hintertreffen zeigt, in einer auffallenden Distanz zum vorliegenden Problem. Diese Vorliebe für das Hinterland des Lebens ist durch die Denkweise und Argumentation des Individuums, gelegentlich durch Zwangsdenken oder durch unfruchtbare Schuldgefühle namhaft gesichert. Es kann leicht begriffen werden, daß nicht die Schuldgefühle die Distanz bewerkstelligen, sondern daß die mangelhafte Neigung und Vorbereitung der ganzen Persönlichkeit Schuldgefühle vorteilhaft findet, um den Vormarsch zu hindern. Die grundlose Selbstbeschuldigung wegen Masturbation zum Beispiel ergibt dafür einen geeigneten Vorwand. Auch der Umstand, daß jeder Mensch, wenn er auf sein Leben zurückblickt, manches gerne ungeschehen machen möchte, dient solchen Individuen zur gelungenen Ausrede nicht mitzutun.

      Fehlschläge wie die Neurose oder das Verbrechen auf solche trickhafte Schuldgefühle zurückführen zu wollen, heißt den Ernst der Situation verkennen. Die Richtung, die in Fällen mangelnden Gemeinschaftsgefühls eingeschlagen wird, zeigt immer auch das große Bedenken gegenüber einem Gemeinschaftsproblem, wobei die größere Erschütterung durch körperliche Veränderungen mithilft, andere Wege anzuweisen. Diese körperlichen Veränderungen bringen wohl den ganzen Körper in vorübergehende oder dauernde Unordnung, setzen aber zumeist Störungen der Funktion in auffallender Weise an solche Stellen, die, sei es infolge angeborener Organminderwertigkeit, sei es durch Überladung mit Aufmerksamkeit, auf die seelische Störung am stärksten antworten. Es kann sich die Funktions­störung im Schwund des Muskeltonus oder in einer Erregung desselben zeigen, in der Aufrichtung der Haare, in Schweißausbruch, in Herz-, in Magen- und Darmstörungen, in Atembeklemmungen, in Zuschnüren der Kehle, in Harndrang und in sexueller Erregung oder deren Gegenteil. Oft findet man die gleichen Störungen bei schwierigen Situationen innerhalb der Familie verbreitet. So auch Kopfschmerzen, Migräne, heftiges Erröten oder Erblassen. Durch neuere Forschungen, besonders durch die Cannons, Marannons und anderer ist es sichergestellt worden, daß an den meisten dieser Veränderungen das Sympathico-Adrenalinsystem hervorragend beteiligt ist, ebenso der kraniale und pelvische Anteil des vegetativen Systems, die demnach auf Emotionen aller Art in verschiedener Weise reagieren. Dadurch ist auch unsere alte Vermutung bestätigt, daß die Funktionen der endokrinen Drüsen, Schilddrüse, Nebenniere, Hypophyse und Geschlechtsdrüsen unter den Einflüssen der Außenwelt stehen, und daß sie entsprechend dem Lebensstil des Individuums auf seelische Eindrücke je nach deren subjektiv empfundenen Stärke antworten, im normalen Fall, um das körperliche Gleichgewicht herzustellen, bei mangelhafter Eignung des Individuums gegenüber den Lebensfragen in extremer, überkompensato­rischer Art.

      Das Minderwertigkeitsgefühl eines Individuums kann sich auch durch die Richtung seines Weges zeigen. Ich habe bereits von der großen Distanz zu den Lebensproblemen, vom Haltmachen und von der Loslösung gesprochen. Keine Frage, daß gelegentlich sich ein solches Vorgehen als richtig, als dem Gemeinschaftsgefühl entsprechend erweisen läßt. Dieser gerechtfertigte Standpunkt liegt der Individualpsychologie besonders nahe, da diese Wissenschaft den Regeln und Formeln immer nur eine bedingte Geltung zuspricht und für deren Bestätigung immer neue Beweise zu erbringen sich verpflichtet hält. Einer dieser Beweise liegt in dem habituellen Verhalten in der oben gekennzeichneten Bewegung. Eine andere, auf Minderwertigkeits­gefühl verdächtige Gangart, anders als die »zögernde Attitüde«, können wir in der Ausbiegung vor einem Lebensproblem beobachten, sei diese nun vollständig oder teilweise. Vollständig wie in der Psychose, im Selbstmord, im habituellen Verbrechen, in der habituellen Perversion, teilweise wie in der Trunksucht oder in anderen Süchten. Als letzte, aus dem Minderwertigkeits­gefühl entspringende Gangart will ich noch anführen: die auffällige Einengung des Lebensraums und die verminderte Aufmarschbreite. Wichtige Anteile der Lebensprobleme sind dabei ausgeschlossen. Auch hier müssen wir als Ausnahme gelten lassen, wenn einer zum Zwecke eines größeren Beitrags zur Förderung der Gemeinschaft sich der Lösung einzelner Anteile der Lebensprobleme entschlägt wie der Künstler und das Genie.

      Über die Tatsache des Minderwertigkeitskomplexes in allen Fällen typischer Fehlschläge war ich mir schon längst klar. Um die Lösung der hier wichtigsten Frage aber, wie aus dem Minderwertigkeitsgefühl und seinen körperlichen und seelischen Folgen beim Zusammenstoß mit einem Lebensproblem der Minderwertigkeitskomplex entsteht, habe ich lange gerungen. Meines Wissens ist diese Frage stets im Hintergrund der Betrachtungen der Autoren gestanden, geschweige denn, daß sie bis jetzt gelöst worden wäre. Mir ergab sich die Lösung wie bezüglich aller anderen Fragen im Gesichtsfeld der Individualpsychologie, wo eines aus allem und alles aus einem zu erklären war. Der Minderwertigkeitskomplex, das heißt, die dauernde Erscheinung der Folgen des Minderwertigkeitsgefühls, das Festhalten an demselben, erklärt sich aus dem größeren Mangel des Gemeinschaftsgefühls. Die gleichen Erlebnisse, die gleichen Traumen, die gleichen Situationen und die gleichen Lebensfragen, wenn es eine absolute Gleichheit in ihnen gäbe, wirken sich bei jedem anders aus. Dabei ist der Lebensstil und dessen Gehalt an Gemeinschaftsgefühl von ausschlag­gebender Bedeutung. Was in manchen Fällen irreführen und an der Richtigkeit dieser Erfahrung zweifeln machen kann, ist der Umstand, daß gelegentlich Menschen mit sichergestelltem Mangel an Gemeinschaftsgefühl (eine Feststellung, die ich nur sehr erfahrenen Untersuchern zutrauen möchte) vorübergehend wohl Erscheinungen des Minderwertigkeitsgefühls zeigen, aber keinen Minderwertigkeitskomplex. Diese Erfahrungen kann man gelegentlich bei Menschen machen, die wenig Gemeinschaftsgefühl besitzen, aber die Gunst der äußeren Umstände für sich haben. Im Falle des Minderwertigkeits­komplexes wird man stets aus dem Vorleben des Betreffenden, aus seiner bisherigen Haltung, aus seiner Verwöhnung in der Kindheit, aus dem Vorhandensein minderwertiger Organe, aus dem Gefühl der Vernachlässigung in der Kindheit Bestätigungen finden. Man wird sich auch der anderen, weiterhin anzuführenden Mittel der Individualpsychologie bedienen, des Verständnisses


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