Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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es verstehen, ihre Liebe zum Kinde nicht bis zur Verwöhnung zu steigern. Mehr wäre zu erwarten von einer Lehrerschaft, die gelernt hat, diesen Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Es wird dann klarer werden als es bis jetzt erscheint, daß kein Übel größer ist als die Verwöhnung der Kinder mit ihren Folgen.

      10. Was ist wirklich eine Neurose?

       Inhaltsverzeichnis

      Wer sich jahrelang mit diesem Problem beschäftigt hat, der wird verstehen, daß man auf die Frage: Was ist nun wirklich Nervosität? eine klare und offene Antwort geben muß. Wenn man die Literatur durchwandert, um Aufschlüsse zu bekommen, so wird man sich vor einem solchen Wirrsal von Definitionen finden, daß man zum Schluß wohl kaum zu einer einheitlichen Anschauung gelangen wird.

      Wie immer, wenn in einer Frage Unklarheiten bestehen, gibt es eine Menge von Erklärungen und viel Kampf. So auch in unserem Falle. Neurose ist � Reizbarkeit, reizbare Schwäche, Erkrankung der endokrinen Drüsen, Folge von Zahn-, Naseninfektion, Genitalerkrankung, Schwäche des Nervensystems, Folge einer hormonalen, einer harnsauren Diathese, des Geburtstraumas, des Konfliktes mit der Außenwelt, mit der Religion, mit der Ethik, Konflikt zwischen dem bösen Unbewußten und dem kompromißgeneigten Bewußtsein, der Unterdrückung sexueller, sadistischer, krimineller Triebe, des Lärmes und der Gefahren der Großstadt, einer weichlichen, einer strengen Erziehung, der Familienerziehung überhaupt, gewisser bedingter Reflexe usw.

      Vieles aus diesen Anschauungen ist zutreffend und kann zur Erklärung von mehr oder weniger bedeutsamen Teilerscheinungen der Neurose herangezogen werden. Das meiste davon findet sich häufig bei Personen, die nicht an einer Neurose leiden. Das wenigste davon liegt auf dem Wege zu einer Klärung der Frage: was ist wirklich eine Neurose? Die ungeheure Häufigkeit dieser Erkrankung, ihre außerordentlich schlimme soziale Auswirkung, die Tatsache, daß nur ein kleiner Teil der Nervösen einer Behandlung unterzogen wird, sein Leiden aber lebenslang als unerhörte Qual mit sich herumträgt, dazu das große, aufgepeitschte Interesse der Laienwelt für diese Frage, rechtfertigt eine kühle, wissenschaftliche Beleuchtung vor einem größeren Forum. Man wird dabei auch ersehen, wieviel medizinisches Wissen zum Verständnis und zur Behandlung dieser Erkrankung nötig ist. Es soll auch der Gesichtspunkt nicht außer acht gelassen werden, daß eine Verhütung der Neurose möglich und erforderlich ist, aber nur bei klarer Erkenntnis der zugrundeliegenden Schäden erwartet werden kann. Die Maßregeln zur Verhütung, Vorbeugung und Erkenntnis der kleinen Anfänge stammen aus dem ärztlichen Wissen. Aber die Mithilfe der Familie, der Lehrer, Erzieher und anderer Hilfspersonen ist dabei unentbehrlich. Dies rechtfertigt eine weite Verbreitung der Kenntnisse über das Wesen und über die Entstehung der Neurose.

      Man muß willkürliche Definitionen, wie sie seit jeher bestehen, unbedingt beiseite schaffen, zum Beispiel, daß sie ein Konflikt zwischen dem Bewußten und de m Unbewußten ist. Darüber kann man schwer diskutieren, denn schließlich hätten die Autoren, die dieser Auffassung huldigen, einsehen müssen, daß man ohne Konflikte überhaupt nicht auskommt, so daß etwas Beleuchtendes über das Wesen der Neurose dadurch nicht gesagt ist, auch dann nicht, wenn uns jemand verleiten will, in einer hochmütig wissenschaftlichen Anschauung jene organischen Veränderungen, Chemismen, ausfindig zu machen. Damit wird er schwerlich etwas beitragen können, weil wir über Chemismen nichts aussagen können. Auch die anderen landläufigen Definitionen sagen nichts Neues. Was man unter Nervosität versteht, ist Reizbarkeit, Mißtrauen, Scheu usw. kurz irgendwelche Erscheinungen, die sich durch negative Charakterzüge auszeichnen, durch Charakterzüge, die nicht ins Leben hineinpassen und mit Affekten beladen erscheinen. Alle Autoren geben zu, daß die Nervosität mit einem gesteigerten Affektleben zusammenhängt. Als ich vor vielen Jahren daran ging, zu beschreiben, was wir unter dem nervösen Charakter verstehen, da zog ich die Überempfindlichkeit des Nervösen an den Tag. Dieser Charakterzug findet sich wohl bei jedem Nervösen, wenngleich in manchen seltenen Fällen dieser Zug nicht ganz leicht entdeckt werden kann, weil er verhüllt ist, aber wenn man näher zusieht, kann man entdecken, daß es doch Menschen mit großer Empfindlichkeit sind. Weitere Forschungen der Individualpsychologie haben ergeben, woher die Empfindlichkeit stammt. Einer, der sich zu Hause fühlt auf dieser armen Erdkruste, davon durchdrungen ist, daß nicht nur die Annehmlichkeiten des Lebens zu ihm gehören, sondern auch die Unannehmlichkeiten, der darauf gefaßt ist, etwas beizutragen, der wird keine Überempfindlichkeiten an den Tag legen. Die Überempfindlichkeit ist der Ausdruck des Minderwertigkeitsgefühls. So ergeben sich sehr leicht andere Charakterzüge des Nervösen, wie zum Beispiel die Ungeduld, die auch der, der sich sicher fühlt, der Selbstvertrauen hat, der dahin entwickelt ist, sich mit den Fragen des Lebens auseinanderzusetzen, nicht an den Tag legt. Wenn man diese zwei Charakterzüge im Auge hat, wird man verstehen, daß es Menschen sind, die in gesteigerten Affekten leben. Wenn man hinzunimmt, daß dieses Unsicherheitsgefühl gewaltig nach einem Ruhestand, nach Sicherheit strebt, kann man verstehen, warum das Streben des Nervösen nach Überlegenheit, nach Vollkommenheit aufgepeitscht ist, daß man diesen Zug, der zur Höhe strebt, als Ehrgeiz findet, der nur die eigene Person berücksichtigt. Das ist bei einem Menschen verständlich, der sich in Not befindet. Manchmal nimmt dieses Streben zur Höhe auch Formen an, zum Beispiel Gier, Geiz, Neid, Eifersucht, die von vornherein von der Allgemeinheit abgelehnt werden; da handelt es sich um Menschen, die gewaltsam über die Schwierigkeiten hinauszuwachsen bestrebt sind, weil sie sich deren glatte Lösung nicht zutrauen. Dazu kommt, daß das verstärkte Minderwertigkeitsgefühl Hand in Hand geht mit einer mangelhaften Entwicklung des Mutes, daß sich an Stelle dessen eine Häufung von trickhaften Versuchen einstellt, um das Problem des Lebens herumzukommen, sich das Leben zu erleichtern, anderen zuzuschieben; dies hängt mit dem mangelhaften Interesse an den anderen zusammen. Wir sind weit entfernt davon, diese vielen Menschen, die niedrigere oder höhere Grade dieses Verhaltens zeigen, zu kritisieren oder zu verurteilen, wir wissen, daß auch die schwersten Verfehlungen nicht unter bewußter Verantwortung zustande gekommen sind, sondern daß der Betreffende ein Spielball seiner schlechten Stellungnahme dem Leben gegenüber geworden ist. Diese Menschen haben ein Ziel vor Augen, bei dessen Verfolgung sie in Widerspruch mit der Vernunft geraten. Über das Wesen der Nervosität, über ihr Zustandekommen, ihre Struktur ist damit noch nichts gesagt. Wir sind einen Schritt weitergegangen und konnten, im Hinblick auf den mangelnden Mut des Nervösen, seine zögernde Haltung den Aufgaben des Lebens gegenüber, die geringe Auswirkung des Lebensprozesses gegenüber den Fragen des Lebens feststellen. Es ist sicher, daß wir das geringe Vermögen zur Aktivität bis in die Kindheit zurückverfolgen können. Wir Individualpsychologen sind davon nicht überrascht, weil die Lebensform in den ersten Lebensjahren entwickelt und unabänderlich ist und einer Änderung nur zugänglich ist, wenn der Bet reffende den Irrtum in der Entwicklung versteht und die Fähigkeit besitzt, sich der Allgemeinheit zum Zwecke der Wohlfahrt der gesamten Menschheit wieder anzuschließen.

      Besitzt ein Kind eine höhere Aktivität in schlechtem Sinne, dann kann man voraussetzen, daß dieses Kind, wenn es später ein Fehlschlag wird, kein Nervöser wird, sondern sich dann in einer anderen Form eines Fehlschlages � Verbrecher, Selbstmörder, Trunkenbold -manifestiert. Er kann sich als schwer erziehbares Kind des schlimmen Genres präsentieren, aber er wird nicht die Züge eines Nervösen aufweisen. Wir sind nun näher herangekommen und können feststellen, daß der Aktionsradius eines solchen Menschen keine besondere Ausbreitung erfährt. Der Nervöse hat einen geringen Aktionsradius, verglichen mit dem mehr normaler Menschen. Die Frage ist wichtig, woher die größere Aktivität kommt. Wenn wir feststellen, daß es möglich ist, den Aktionsradius eines Kindes zu entwickeln und zu unterdrücken, wenn wir verstanden haben, daß es Mittel gibt, in einer fehlgeschlagenen Erziehung den Aktionsradius des Kindes bis auf ein Minimum einzuengen, verstehen wir auch, daß uns die Frage der Vererbung nicht interessiert, sondern, daß das, was wir sehen, Produkt der schöpferischen Fähigkeiten des Kindes ist. Die Körperlichkeit und die Einwirkung der Außenwelt sind Bausteine, die das Kind zum Aufbau seiner Persönlichkeit benützt. Was wir an den Symptomen der Nervosität beobachten, die wir einteilen in körperliche Erschütterungen gewisser Organe und in seelische Erschütterungen, Angsterscheinungen, Zwangsgedanken, Depressionserscheinungen, die spezielle Bedeutung zu haben scheinen, nervöse Kopfschmerzen, Errötungszwang, Waschzwang und ähnliche seelische Ausdrucksformen, alle


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