Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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und die schon in der Kindheit, meist als verwöhnte Kinder, auf diesen Weg der Ausnutzung gelockt wurden. Noch einiges über die körperlichen Erscheinungen, wo die Phantasien einiger Autoren Triumphe feiern. Die Sache steht so: der Organismus ist ein Ganzes und hat als Gabe und Geschenk der Evolution das Streben zum Gleichgewicht, das sich unter schwierigen Umständen so weit als möglich durchsetzt. Zur Erhaltung des Gleichgewichts gehört die Abänderbarkeit des Herzschlages, die Tiefe des Atmens, die Zahl der Atemzüge, die Gerinnbarkeit des Blutes, die Beteiligung der endokrinen Drüsen; da zeigt sich immer deutlicher, daß insbesondere seelische Erregungen das vegetative System und das endokrine System in Erregung versetzen und zu vermehrter oder veränderter Sekretion veranlassen. Wir können heute noch am ehesten Veränderungen der Schilddrüse infolge der Schockwirkungen verstehen, die manchmal sogar lebensgefährlich werden können. Ich habe solche Patienten gesehen. Der größte Forscher auf diesem Gebiet, Zondek, hat sich meiner Mithilfe versichert, um festzustellen, welche seelische Einwirkungen mit im Spiele sind. Es ist ferner keine Frage, daß alle Fälle von Basedowerkrankungen als eine Folge von seelischen Erschütterungen auftreten. Es sind gewisse Menschen, bei denen seelische Erschütterungen die Schilddrüse irritieren.

      Auch Fortschritte der Forschung über die Irritation der Nebenniere sind gemacht worden. Man kann von einem Sympathico-Adrenalin-Komplex sprechen; besonders bei Zornaffekten ist die Beimengung von Nebennierensekret vermehrt. Der amerikanische Forscher Cannon hat an Tierversuchen gezeigt, daß bei Zornausbrüchen eine Vermehrung des Adrenalingehaltes eintritt. Das führt zur Verstärkung der Herztätigkeit und anderen Veränderungen, so daß man verstehen kann, daß Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen, vielleicht epileptische Anfälle durch einen psychischen Anlaß hervorgerufen werden können. Dabei handelt es sich immer um Menschen, die durch ihr Problem immer wieder aufs neue gereizt werden. Es ist klar, daß es sich da um die Dauer von Problemen handelt. Wenn man es mit einem 20jährigen nervösen Mädchen zu tun hat, wird man wohl annehmen können, daß hier Berufsfragen, wenn nicht Liebesfragen drohend vor ihr stehen. Bei einem 50jährigen Mann oder einer Frau wird man unschwer erraten, daß es das Problem des Alters ist, das der Betreffende glaubt nicht lösen zu können oder tatsächlich nicht lösen kann. Wir empfinden die Tatsachen des Lebens niemals direkt, sondern nur durch unsere Auffassung, sie ist maßgebend.

      Die Heilung kann nur auf intellektuellem Wege, durch die wachsende Einsicht des Patienten in seinen Irrtum und durch die Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühls zustandekomen.

      11. Sexuelle Perversionen

       Inhaltsverzeichnis

      Ich hoffe, daß die hier nur schematische Darstellung der sexuellen Perversionen keine Enttäuschung zur Folge haben wird. Ich darf dies um so eher erwarten, als der größte Teil meiner Leser mit den Grundanschauungen der Individualpsychologie vertraut ist, so daß das spurweise Anklingen eines Problems wie eine ausführliche Behandlung desselben entgegengenommen werden wird. Hier kommt es viel mehr darauf an, den Einklang unserer Weltanschauung mit der Struktur der sexuellen Perversion zu zeigen. In unserer Zeit ist das keine ungefährliche Angelegenheit, denn gerade heute ist die Strömung übermächtig, die die sexuellen Perversionen auf angeborene Faktoren zurückführen möchte. Das ist so bedeutsam, daß man diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen lassen darf; nach unserer Anschauung handelt es sich um Kunstprodukte, die in die Erziehung eingeflossen sind, ohne daß der Betroffene es weiß. Daraus sieht man den großen Gegensatz, in dem wir zu anderen stehen, und die Schwierigkeiten, die für uns nicht geringer werden, wenn andere, wie z. B. Kraepelin, eine ähnliche Auffassung betonen.

      Um unser Verhältnis zu anderen zu beleuchten, will ich einen Fall erzählen, der aber nichts mit sexuellen Perversionen zu tun hat, sondern nur als Beispiel für meinen Standpunkt der psychologischen Auffassung dienen soll. Es handelt sich um eine Frau, die in glücklicher Ehe lebt und zwei Kinder hat. Sie steht seit sechs Jahren im Kampf mit ihrer Umgebung. Es handelt sich um folgendes Problem: Sie behauptet, daß eine langjährige Freundin, die sie schon seit ihrer Kindheit kennt und wegen ihrer Fähigkeiten bewundert hatte, sich seit sechs Jahren als herrschsüchtige Frau entpuppte und immer auf Quälereien aus sei. Sie selbst habe darunter am meisten zu leiden und sie führt eine Anzahl von Beweisen dafür an, die von den anderen geleugnet werden. Sie behauptet: »Es könnte sein, daß ich in manchen Dingen zu weit gegangen bin, aber im Grunde habe ich doch recht. Vor sechs Jahren hat diese Freundin in Abwesenheit einer anderen Freundin abfällige Bemerkungen über letztere gemacht, während sie in deren Anwesenheit immer die Liebenswürdige spielte.« Sie fürchtet nun, daß die Freundin auch ähnliche Bemerkungen über sie machen könnte. Ein anderer Beweis: Die Freundin bemerkte: »Der Hund ist zwar gehorsam, aber dumm.« Dabei warf sie einen Blick auf unsere Patientin, der sagen sollte: »So wie du.« Die Umgebung der Patientin war über die Auslegung dieses Ausspruches, dem sie kein Gewicht beilegte, außerordentlich entrüstet und stand fest auf der Seite der Angeschuldigten.

      Den anderen gegenüber zeigte sich diese Frau von der schönsten Seite. Zur Bekräftigung ihrer Anschauung sagte die Patientin: »Seht doch nur, wie sie ihren Hund behandelt. Sie quält ihn und läßt ihn Kunststücke machen, die dem Hund ungeheuer schwerfallen.« Die Umgebung meinte: »Das ist doch nur ein Hund, das kann man nicht mit dem Verhalten zu Menschen vergleichen, zu Menschen ist sie gütig.« Die Kinder meiner Patientin hingen sehr an der Freundin und stellten sich gegen die Anschauung der Mutter. Auch der Mann leugnete, daß eine andere Auffassung möglich sei. Die Patientin fand immer neue Beweise für die Herrschsucht der Freundin, die sich besonders gegen sie richteten. Ich stand nicht an, der Patientin zu erklären, daß ich den Eindruck habe, daß sie im Recht sei. Sie war begeistert. Es ergab sich dann noch manches, was für die Herrschsucht der Frau sprach, und mein Eindruck wurde mir schließlich von dem Mann bestätigt. Da sah man auf einmal: die arme Frau hat ja recht, sie macht nur einen schlechten Gebrauch davon. Anstatt zu verstehen, daß es so etwas wie verkappte Herabsetzungstendenz gibt und daß man einem Menschen etwas zugute halten muß, wandte sie sich vollkommen gegen diese Frau, fand alles tadelnswert und ärgerte sich. Sie hatte eine feinere Epidermis, sie konnte besser erraten, wenn auch nicht verstehen, was in der Freundin vorging.

      Was ich damit sagen will, ist: Es ist oft das Fatalste in der Welt, wenn man recht hat. Es klingt überraschend, aber jeder hat es vielleicht in seinem eigenen Leben erfahren, daß er recht gehabt hatte und daß daraus Unheil entsprungen ist. Sie brauchen nur daran zu denken, was geschehen könnte, wenn diese Frau jemandem in die Hände fiele, der keine feine Epidermis hat: er würde von Querulantenwahn, paranoiden Ideen sprechen und würde sie so behandeln, daß es ihr immer schlechter gehen würde. Es ist schwer, seinen Standpunkt aufzugeben, wenn man recht hat. In dieser Lage befinden sich alle Forscher, die überzeugt sind, recht zu haben, und sich nun verteidigen müssen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn auch um unsere Anschauungen große Kämpfe entbrennen. Wir müssen uns nur hüten, nur recht zu haben und einen schlechten Gebrauch davon zu machen. Wir wollen uns dadurch nicht irritieren lassen, daß es so viele Forscher gibt, die unsere Anschauungen bekämpfen. In der Wissenschaft muß man außerordentlich viel Geduld haben. Wenn heute in bezug auf sexuelle Perversionen der Hereditätsgedanke verwaltet, ob es sich nun um einfache Hereditarier handelt, die vom dritten Geschlecht sprechen oder davon, daß das andere Geschlecht einem eingeboren ist, oder um solche, die meinen, daß angeborene Faktoren zur Entfaltung kommen und daß man nichts dagegen machen könne, oder ob man von angeborenen Komponenten spricht, alle diese Faktoren können uns nicht bestimmen, unsere Anschauung zu verlassen. Es zeigt sich, daß die Organiker bei der Suche nach organischen Veränderungen, nach organischen Anomalien außerordentlich schlecht abschneiden.

      Was die Homosexualität anbelangt, möchte ich eine Mitteilung vorlegen, die im vorigen Jahr erschienen ist und jenes Problem betrifft, das 1927 aufgeworfen wurde, als Laqueur fand, daß man im Harn aller Menschen Hormone des anderen Geschlechts findet. Wer nur schwach in unserer Anschauung ist, auf den wird dieses Faktum überraschend wirken. Er könnte sich denken, daß, wenn sich Perversionen entwickeln, sie aus der Zweigeschlechtlichkeit stammen. Die Untersuchungen von Bran an neun Homosexuellen haben ergeben, daß sich dieselben Hormone bei ihnen fanden wie bei Nichthomosexuellen. Das ist ein Schritt vorwärts in unserer Richtung. Die Homosexualität hängt nicht von den Hormonen ab.


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