Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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von seiten ihrer Schwiegereltern ihre Ehe mit dem herrschsüchtigen Manne durchsetzen konnte. Er ließ sie im Verlauf der Ehe oft ihre pekuniäre Abhängigkeit fühlen, ebenso ihre Herkunft aus einem niedrigen Stande. Meist ertrug sie seine tadelnden Belehrungen schweigend. Gelegentlich wurde auch von beiden Seiten die Frage einer Scheidung aufgeworfen. Die Möglichkeit einer ungebrochenen Herrschaft über die Frau hielt den herrschsüchtigen Mann immer wieder davon zurück.

      Sie war das einzige Kind freundlicher, liebevoller Eltern, die nie etwas Tadelnswertes an ihrer Tochter fanden. Daß sie von Kindheit an ein Spiel, eine Beschäftigung ohne andere vorzog, erschien ihnen nicht als Fehler, um so weniger, da sie fanden, daß das Mädchen, wenn es einmal in eine freundliche Gesellschaft kam, sich tadellos benahm. Aber auch in der Ehe war sie darauf bedacht, sich ihr Alleinsein, ihre Lesestunden, ihre Muße, wie sie sagte, weder durch den Gemahl noch durch Gesellschaft zu sehr verkürzen zu lassen, während ihr Gatte lieber mehr Gelegenheit gehabt hätte, an ihr seine Überlegenheit zu erweisen. Es war übrigens ein Übereifer darin zu bemerken, wie sie ihre Hausfrauenpflicht erfüllte. Nur daß sie auffallend häufig vergaß, Aufträge ihres Mannes zu erfüllen.

      Aus ihren Kindheitserinnerungen ging hervor, daß sie es immer als große Freude empfand, wenn sie allein ihre Obliegenheiten erfüllen konnte.

      Der geschulte Individualpsychologe sieht auf den ersten Blick, daß ihre Lebensform für Leistungen, die sie allein erfüllen konnte, recht gut geeignet war. Nicht aber für eine Aufgabe zu zweit, wie die Liebe und die Ehe. Ihr Gatte war infolge seiner Eigenart nicht geeignet, ihr diese Fähigkeit beizubringen. Ihr Ziel der Vollkommenheit lag auf der Seite der Einzelarbeit. Dort benahm sie sich tadellos. Und wer nur diese Seite ins Auge faßte, hätte wohl keinen Fehler an ihr entdecken können. Für die Liebe aber und für die Ehe war sie nicht vorbereitet. Dort versagte ihr Mitgehen. Wir können, um nur ein Detail herauszuheben, daraus auch die Form ihrer Sexualität erraten: Frigidität. Jetzt können wir wieder an die Betrachtung des mit Recht zurückgestellten Symptoms gehen. Ja, wir verstehen es bereits. Ihr Vergessen war die wenig aggressive Form ihres Protestes gegen aufgezwungene Mitarbeit, für die sie nicht vorbereitet war, die auch außerhalb ihres Zieles der Vollkommenheit lag.

      Es mag nicht jedermanns Sache sein, aus solchen kurzen Schilderungen das komplizierte Kunstwerk eines Individuums zu erkennen und zu verstehen. Die Lehre aber, die Freud und seine Schüler, die alle psychoanalysiert sein müssen, aus der Individualpsychologie zu ziehen trachten, als ob der Patient nach unserer Darstellung »nur« auffallen, mehr Interesse gewinnen wolle, ist mehr als bedenklich und verurteilt sich selbst.

      Nebenbei: es wird oft die Frage aufgeworfen, ob ein Fall als leicht oder als schwer aufzufassen sei. Wir verstehen, daß die Entscheidung ganz von der Größe des vorhandenen Gemeinschaftsgefühls abhängt. Im vorliegenden Fall ist leicht zu verstehen, daß der Irrtum dieser Frau, ihre mangelnde Vorbereitung für Mitarbeit und Mitleben leichter zu vervollkommnen war, da sie sozusagen nur aus Vergeßlichkeit diesen wichtigsten Ausbau unterlassen hatte. Als sie überzeugt, und in Mitarbeit mit dem Arzte, in freundlicher Aussprache und bei gleichzeitiger Erziehung ihres Mannes durch den Arzt, ihren Hexenkreis (Kunkel nennt ihn in neckischer Abänderung Teufelskreis, Freud Zauberkreis) aufgelöst hatte, verschwand auch ihre Vergeßlichkeit, da dieser das Motiv entzogen war.

      Wir sind nun vorbereitet zu verstehen, daß jede Erinnerung, soweit ein Erlebnis überhaupt das Individuum berührt, und nicht a limine abgewiesen wird, das Resultat der Bearbeitung eines Eindrucks durch den Lebensstil, durch das Ich darstellt. Dies gilt nicht nur für mehr oder weniger festgehaltene, sondern auch für mangelhafte, für schwer herauszuholende Erinnerungen, sowie auch für solche, deren sprachlicher Ausdruck verschwunden ist und nur als Gefühlston oder Stellungnahme festzustellen ist. Damit kommen wir zu einer verhältnismäßig wichtigen Einsicht, die besagt, daß jeder seelische Bewegungsvorgang in seiner Richtung nach dem Ziele der Vollkommenheit dem Verständnis des Betrachters dadurch nahe gebracht werden muß, daß er das gedankliche, das gefühlsmäßige und das stellungsmäßige Feld in der Erinnerung klarstellen muß. Wie wir bereits wissen, drückt sich das Ich nicht nur in der Sprache, sondern auch in seinen Gefühlen und in seiner Stellungnahme aus, und die Wissenschaft von der Einheit des Ichs verdankt ja der Individualpsychologie die Feststellung des Organdialekts. Wir halten den Kontakt mit der Außenwelt mit allen Fibern unseres Körpers und unserer Seele aufrecht. Uns interessiert an einem Fall die Art, besonders die mangelhafte Art, wie dieser Kontakt aufrecht erhalten wird. Und auf diesem Wege kam ich zu der reizvollen und wertvollen Aufgabe, die Erinnerungen eines Menschen, wie immer sie auftreten, als deutbare Anteile seines Lebensstils zu finden und zu verwerten. Daß mich dabei in erster Linie die als die ältesten Erinnerungen angesehenen interessieren, liegt darin, daß sie wirkliche oder phantasierte, richtige oder veränderte Geschehnisse beleuchten, die dem schöpferischen Aufbau des Lebensstils in den ersten Kinderjahren näherliegen, wohl auch zum großen Teile die Bearbeitung von Geschehnissen durch den Lebensstil verraten. Dabei obliegt uns weniger die Aufgabe, das Inhaltliche heranzuziehen, das ja für jedermann als Inhalt einfach zu verstehen ist, sondern dessen wahrscheinlichen Gefühlston zu ermessen, die erfolgende Stellungnahme und die Bearbeitung und Auswahl des Aufbaumaterials, letzteres, weil wir dabei das Hauptinteresse des Individuums entdecken, einen wesentlichen Bestandteil des Lebensstils. Dabei kommt uns die Hauptfrage der Individualpsychologie außerordentlich zustatten, die Frage, wo will dieses Individuum hinaus, welche Meinung hat dieses Individuum von sich und vom Leben? Wohl leiten uns bei dieser Betrachtung die ehernen Anschauungen der Individualpsychologie vom Ziele der Vollkommenheit, vom Minderwertigkeitsgefühl, dessen Erkenntnis (leider nicht dessen Verständnis, wie Freud anerkannt) heute bereits über die ganze Welt verbreitet ist, vom Minderwertigkeits-, vom Überwertigkeitskomplex, vom Gemeinschaftsgefühl und von den wahrscheinlichen Verhinderungen desselben � aber alle diese festgefügten Anschauungen dienen uns nur zur Beleuchtung des Gesichtsfeldes, in dem wir das individuelle Bewegungsgesetz des vorliegenden Individuums festzustellen haben.

      Bei dieser Arbeit erhebt sich bei uns die skeptische Frage, ob wir in der Deutung von Erinnerungen und ihres Zusammenhangs mit dem Lebensstil angesichts der Vieldeutigkeit einzelner Ausdrucksformen nicht leicht fehlgehen können. Freilich, wer die Individualpsychologie mit rechter Künstlerschaft betreibt, dem versagen sich die Nuancen nicht. Aber auch er wird trachten, Irrtümer aller Art auszuschalten. Der Möglichkeiten gibt es genug. Hat er in der Erinnerung eines Individuums das wirkliche Bewegungsgesetz desselben gefunden, dann muß er das gleiche Bewegungsgesetz in allen anderen Ausdrucksformen wieder finden. Soweit es sich um die Behandlung von Fehlschlägen aller Art handelt, wird er so viele Bestätigungen nachweisen müssen, bis auch der Patient von der Richtigkeit des Nachweises überzeugt ist. Der Arzt selbst wird je nach seiner Eigenart bald früher bald später überzeugt sein. Es gibt aber kein anderes Maß, an dem er die Irrtümer, Symptome und den irrtümlichen Lebensgang eines Menschen messen könnte als das ausreichende Maß eines richtigen Gemeinschaftsgefühls.

      Wir sind nun imstande, natürlich mit allergrößter Vorsicht und der größten Erfahrung ausgestattet, die fehlerhafte Richtung des Lebensweges, den Mangel an Gemeinschaftsgefühl, oder auch das Gegenteil, zumeist aus den ältesten Erinnerungen herauszufinden. Uns leitet da besonders unsere Kenntnis vom Mangel an Gemeinschaftsgefühl, von dessen Ursachen und dessen Folgen. Vieles leuchtet hervor aus der Darstellung in einer Wir- oder Ich-Situation. Vieles auch aus der Erwähnung der Mutter. Die Mitteilung von Gefahren oder Unfällen, auch von Züchtigungen und Strafen, deckt die übergroße Neigung auf, das Feindliche des Lebens besonders im Auge zu behalten. Die Erinnerung an die Geburt eines Geschwisters deckt die Situation der Entthronung auf, die an den ersten Besuch im Kindergarten oder in der Schule den großen Eindruck anläßlich neuer Situationen. Die Erinnerung an Krankheit und Tod ist oft mit der Furcht davor, öfters mit Versuchen verknüpft, etwa als Arzt oder als Pflegeperson oder ähnlich diesen Gefahren besser gewappnet entgegenzutreten. Erinnerungen an den Landaufenthalt mit der Mutter zeigen oft, ebenso wie Erwähnungen bestimmter Personen wie Mutter, Vater, Großeltern in einer freundlichen Atmosphäre, nicht nur den Vorzug dieser, offenbar verwöhnenden Personen, sondern auch den Ausschluß anderer. Erinnerungen an begangene Untaten, Diebstähle, sexuelle Vorkommnisse weisen gewöhnlich auf die große Anstrengung hin, sie weiterhin aus dem Erleben auszuschalten. Gelegentlich erfährt man auch andere Neigungen, die, wie eine visuelle, akustische, motorische Neigung, recht gut zur Aufdeckung von Schulmißerfolgen


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