Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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wenn mir das Haus nicht verleidet gewesen wäre, wo ich immer nur Schimpfe bekam. Meine Diebstähle aber wurden dadurch gefördert, daß ich in die Hände eines Hehlers geriet, der mich zu den Diebstählen aneiferte.«

      Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß man in der Kindheit von Straffälligen fast in der Mehrheit der Fälle ehemals verwöhnte oder nach Verwöhnung suchende Kinder findet. Und was ebenso wichtig ist, daß man schon in ihrer Kindheit eine stärkere Aktivität wahrnehmen kann, die aber nicht mit Mut zu verwechseln ist. Daß die Mutter fähig war, ein Kind zu verwöhnen, zeigte sie an; ihrem zweiten Sohn. Aus der erbitterten Haltung dieses Mannes nach Ankunft des jüngeren Bruders können wir schließen, daß auch er vorher Verwöhnung erlebt hatte. Sein weiteres Schicksal stammte aus seiner erbitterten Anklage gegen die Mutter und aus jener Aktivität, für die er, mangels eines Gemeinschaftsgefühls zureichenden Grades � keine Freunde, kein Beruf, keine Liebe � keine andere Verwendung fand als im Verbrechen. Daß man mit einer Anschauung, als ob das Verbrechen Selbstbestrafung sei, verknüpft mit dem Wunsch, ins Gefängnis zu kommen, vor die Öffentlichkeit treten kann, wie dies neuerlich gewisse Psychiater tun, verrät doch eigentlich einen Mangel an geistigem Schamgefühl, insbesondere, wenn es verbunden ist mit einer offenen Verhöhnung des Common sense und mit beleidigenden Ausfällen gegen unsere tief begründeten Erfahrungen. Ob die Entstehung solcher Anschauungen nicht aus dem Geist verwöhnter Kinder geboren ist und auf den Geist verwöhnter Kinder im Publikum zurückwirkt, überlasse ich dem Leser zur Entscheidung.

      13. Gemeinschaftshindernde Kindheitssituationen und deren Behebung

       Inhaltsverzeichnis

      Man wird bei der Suche nach veranlassenden und verlockenden Situationen in der Kindheit schließlich immer auf jene schweren Probleme stoßen, die ich schon vorher als die bedeutsamsten genannt habe, die geeignet sind, die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls zu erschweren und deshalb auch außerordentlich häufig zu hindern: auf Verwöhnung, angeborene Organminderwertigkeiten und Vernachlässigung. Die Einwirkungen dieser Faktoren sind nicht nur ihrer Ausdehnung und ihres Grades wegen verschieden, auch nicht nur ihrer Dauer, des Beginns und Endes ihrer Wirksamkeit, sondern hauptsächlich der nahezu unausrechenbaren Erregung und Beantwortung wegen, die sie in dem Kinde erzeugen. Die Stellung des Kindes zu diesen Faktoren hängt nicht allein von »trial and error« (Versuch und Irrtum) des Kindes ab, sondern viel mehr noch, wie sich nachweisen läßt, von der Wachstumsenergie des Kindes, seiner schöpferischen Kraft als eines Teiles des Lebensprozesses, deren Entfaltung in unserer, das Kind bedrängenden und fördernden Kultur ebenfalls nahezu unausrechenbar und nur aus den Erfolgen zu entnehmen ist. Will man hier vermutungsweise weitergehen, so hätte man eine Unzahl von Tatsachen ins Auge zu fassen, familiäre Eigenheiten, Licht, Luft, Jahreszeit, Wärme, Lärm, Kontakt mit Personen, die besser oder schlechter geeignet sind, Klima, Bodenbeschaffenheit, Nahrung, das endokrine System, Muskulatur, Tempo der Organentwicklung, embryonales Stadium und noch vieles andere, wie die Handreichungen und Pflege der betreuenden Personen. In dieser verwirrenden Fülle der Tatsachen wird man bald fördernde, bald benachteiligende Faktoren anzunehmen geneigt sein. Wir wollen uns damit begnügen, mit großer Vorsicht statistische Wahrscheinlichkeiten ins Auge zu fassen, ohne die Möglichkeit differierender Resultate zu leugnen. Viel sicherer ist der Weg der Beobachtung der Ergebnisse, zu deren Abänderung große Möglichkeiten vorhanden sind. Die dabei zutage tretende schöpferische Kraft wird sich in einer kleineren oder größeren Aktivität des Körpers und des Geistes hinreichend feststellen lassen.

      Aber es kann nicht übersehen werden, daß die Neigung zur Kooperation vom ersten Tage an herausgefordert ist. Die ungeheure Bedeutung der Mutter in dieser Hinsicht tritt klar hervor. Sie steht an der Schwelle der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls. Das biologische Erbe des menschlichen Gemeinschaftsgefühls wartet auf ihre Pflege. In kleinen Handreichungen, beim Bade, in allen Darbietungen, die das hilflose Kind benötigt, kann sie den Kontakt des Kindes verstärken oder hemmen. Ihre Beziehung zu dem Kinde, ihr Verständnis und ihre Geschicklichkeit sind maßgebende Mittel. Wir wollen nicht übersehen, daß auch in dieser Hinsicht die menschliche Evolutionshöhe den Ausgleich schaffen und daß das Kind selbst sich über die vorhandenen Hindernisse hinaus den Kontakt durch Schreien und Widerspenstigkeit erzwingen kann. Denn auch in der Mutter wirkt und lebt der biologische Erwerb der Mutterliebe, eines unbesiegbaren Anteils des Gemeinschaftsgefühls. Er kann durch widrige Umstände, durch übergroße Sorgen, durch Enttäuschungen, durch Krankheit und Leiden, durch auffallenden Mangel an Gemeinschaftsgefühl und seine Folgen brachgelegt sein. Aber der evolutionäre Erwerb der Mutterliebe ist gemeiniglich so stark bei Tieren und bei Menschen, daß er leicht den Nahrungstrieb und den Sexualtrieb überwindet. Man darf wohl feststellen, daß die Bedeutung des mütterlichen Kontakts für die Entwicklung des menschlichen Gemeinschaftsgefühls von allergrößter Bedeutung ist. Ein Verzicht auf diesen übermächtigen Hebel der Entwicklung der Menschheit würde uns in die größte Verlegenheit bringen, einen halbwegs zureichenden Ersatz zu finden, ganz abgesehen davon, daß sich das mütterliche Kontaktgefühl als ein unverlierbarer Besitz der Evolution mit Unerbittlichkeit gegen eine Zerstörung zur Wehr setzen würde. Wahrscheinlich verdanken wir dem mütterlichen Kontaktgefühl den größten Teil des menschlichen Gemeinschaftsgefühls, und damit auch den wesentlichen Bestand der menschlichen Kultur. Freilich genügt die gegenwärtige Auswirkung der Mutterliebe heute oft nicht der Not der Gemeinschaft. Eine ferne Zukunft wird den Gebrauch dieses Besitzes dem Gemeinschaftsideal viel mehr anzugleichen haben. Denn häufig ist der Kontakt zwischen Mutter und Kind zu schwach, noch häufiger zu stark. Im ersteren Falle kann das Kind vom Beginne seines Lebens den Eindruck der Feindlichkeit des Lebens bekommen und durch weitere Erfahrungen ähnlicher Art diese Meinung zur Richtschnur seines Lebens machen.

      Wie ich oft genug gesehen habe, genügt da auch der bessere Kontakt mit dem Vater, mit den Großeltern nicht, diesen Mangel auszugleichen. Man kann im allgemeinen feststellen, daß der bessere Kontakt eines Kindes mit dem Vater den Fehlschlag der Mutter erweist, nahezu immer eine zweite Phase im Leben eines Kindes bedeutet, das an der Mutter � mit Recht oder Unrecht � eine Enttäuschung erlebt hat. Daß man häufig bei Mädchen den stärkeren Kontakt zum Vater, bei Knaben zur Mutter findet, kann nicht auf die Sexualität bezogen werden, sondern muß auf die obige Feststellung hin geprüft werden, wobei zweierlei sich zeigen wird: daß Väter den Mädchen gegenüber häufig zart auftreten, wie sie es Mädchen und Frauen gegenüber gewöhnt sind, und daß Mädchen wie Knaben in spielerischer Vorbereitung für ihr künftiges Leben wie auch in Spielen überhaupt diese Vorbereitung auch dem andersgeschlechtlichen Elternteil gegenüber zeigen. Daß da gelegentlich auch der Sexualtrieb hineinspielt, freilich selten in der übertriebenen Art, wie Freud es darstellt, habe ich nur bei sehr verwöhnten Kindern gesehen, die ihre ganze Entwicklung innerhalb der Familie durchführen wollen, oder noch mehr, imausschließlichen Bunde mit einer einzigen, verwöhnenden Person. Was der Mutter entwicklungsgeschichtlich und sozial als Aufgabe obliegt, ist, das Kind so früh als möglich zum Mitarbeiter, zum Mitmenschen zu machen, der gerne hilft und sich gerne, soweit seine Kräfte nicht ausreichen, helfen läßt. Man könnte über das »wohltemperierte Kind« Bände schreiben. Hier muß es genügen, darauf hinzuweisen, daß sich das Kind als gleichberechtigter Partner im Hause mit wachsendem Interesse an Vater und Geschwistern, bald auch an allen Personen seiner Umgebung, fühlen soll. So wird es frühzeitig nicht mehr eine Last, sondern ein Mitspieler sein. Es wird sich bald heimisch fühlen und jenen Mut und jene Zuversicht entwickeln, die ihm aus seinem Kontakt mit der Umgebung erwachsen. Störungen, die es verursacht, sei es in beabsichtigten oder unbeabsichtigten Fehlern seiner Funktionen, Bettnässen, Stuhlverhaltungen, Eßschwierigkeiten ohne krankhafte Ursache, werden ihm selbst eine lösbare Aufgabe sein, wie auch seiner Umgebung, ganz abgesehen davon, daß sie nie in Erscheinung treten werden, wenn seine Neigung zur Kooperation genügend groß ist. Dasselbe gilt vom Daumenlutschen und vom Nägelbeißen, vom Nasenbohren und vom Verschlingen großer Bissen. Alle diese Erscheinungen treten nur auf, wenn das Kind das Mitgehen, die Aufnahme der Kultur verweigert, und zeigen sich fast ausschließlich bei verwöhnten Kindern, die so die Umgebung zu erhöhter Leistung, zu Fleißaufgaben zwingen wollen, und sind immer auch mit Trotz, offen oder heimlich, verbunden, deutlichen Zeichen eines mangelhaften Gemeinschaftsgefühls. Ich habe seit langer


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