Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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Beispiele mögen den Zusammenhang ältester Erinnerungen mit dem dauernden Lebensplan zu zeigen versuchen.

      Ein etwa 32jähriger Mann, der älteste, verwöhnte Sohn einer Witwe, zeigt sich in jedem Beruf ungeeignet, weil er gleich im Beginne an schweren Angsterscheinungen erkrankt, die sich sofort bessern, wenn man ihn nach Hause bringt. Er ist ein gutmütiger Mensch, der sich aber schwer an andere anschließt. In der Schule zeigte er sich stets vor jeder Prüfung maßlos aufgeregt und blieb oft der Schule fern unter Hinweis auf Müdigkeit und Erschöpfung. Seine Mutter sorgte für ihn in der liebevollsten Weise. Da er nur für diese mütterliche Sorgfalt richtig vorbereitet war, konnte man schon daraus sein Ziel der Überlegenheit erraten, soweit als möglich allen Lebensfragen auszuweichen und damit auch jedem Fehlschlag. Bei der Mutter gab es keinen solchen. Daß er bei seiner Methode blieb, sich in die Obhut der Mutter zu begeben, verlieh ihm das Gepräge eines infantilen Menschen, ohne daß man ihn als körperlich infantil hätte bezeichnen können. Seine seit Kindheit erprobten Mittel des Rückzugs zur Mutter erfuhren eine namhafte Verstärkung, als ihn das erste Mädchen, zu dem er eine Zuneigung gefaßt hatte, abwies. Der Schock, der ihn bei diesem »exogenen« Ereignis überfiel, verstärkte seinen Rückzug, so daß er nirgends mehr Ruhe fand als bei seiner Mutter. Seine älteste Kindheitserinnerung lautete: »Als ich etwa vier Jahre alt war, saß ich am Fenster, während meine Mutter Strümpfe strickte, und beobachtete die Arbeiter, die gegenüber ein Haus bauten.«

      Man wird sagen: ziemlich belanglos. Durchaus nicht. Seine Auswahl der ersten Erinnerung � ob es die älteste ist oder nicht, tut nichts zur Sache � beweist uns, daß ihn dabei irgendein Interesse gelenkt haben muß. Die Aktion seiner Gedächtnis­tätigkeit, geleitet durch den Lebensstil, greift eine Begebenheit heraus, die mit Stärke seine Eigenart verrät. Daß es eine Situation bei der vorsorglichen Mutter ist, zeigt uns das verwöhnte Kind. Aber noch ein Wichtiges verrät er uns. Er schaut zu, wie die anderen arbeiten. Seine Vorbereitung fürs Leben ist die eines Zuschauers. Er hat wenig anderes. Versucht er sich anderswo, so sieht er sich wie vor einem Abgrund und tritt unter der Wirkung eines Schocks � Furcht vor der Tatsache der Wertlosigkeit � den Rückzug an. Läßt man ihn zu Hause bei seiner Mutter, läßt man ihn zuschauen, wie die anderen arbeiten, so scheint ihm nichts zu fehlen. Seine Bewegungslinie zielt auf die Beherrschung der Mutter als das einzige Ziel seiner Überlegenheit. Leider gibt es nur wenig Aussichten für einen Zuschauer des Lebens. Nichtsdestoweniger wird man nach Heilung eines solchen Patienten nach einer Beschäftigung Ausschau halten, in der er seine bessere Vorbereitung im Schauen und Betrachten verwerten kann. Da wir es besser verstehen als der Patient, so müssen wir aktiv eingreifen, soweit, um zu verstehen zu geben: Du kannst ja wohl in jedem Beruf vorwärts kommen, aber wenn du deine bessere Vorbereitung ausnützen willst, so suche einen Beruf, in dem das Betrachten im Vordergrund steht. Er nahm erfolgreich einen Handel mit Kunstgegenständen auf.

      Freud beschreibt in verzerrter Nomenklatur stets die Fehlschläge verwöhnter Kinder, ohne auf dieses Geheimnis gekommen zu sein. Das verwöhnte Kind will alles haben, läßt sich nur schwer herbei, die durch die Evolution befestigten normalen Funktionen auszuführen, begehrt die Mutter »in seinem Ödipuskomplex« (wenn auch übertrieben, so doch im seltenen Einzelfall begreiflich, weil das verwöhnte Kind jede andere Person ablehnt). Es hat später allerlei Schwierigkeiten (nicht wegen der Verdrängung des Ödipuskomplexes, sondern wegen der Schockwirkung vor anderen Situationen) und kommt in Ekstase, sogar zu Mordgelüsten gegenüber Personen, die sich seinen Wünschen entgegenstellen. Wie deutlich zu sehen, sind dies Kunstprodukte verfehlter, verwöhnender Erziehung, für ein Verständnis des Seelenlebens nur zu verwenden, wenn man die Folgen der Verwöhnung kennt und berücksichtigt. Sexualität aber ist eine Aufgabe für zwei Personen und kann nur richtig ausgeübt werden, wenn ein genügendes Maß von Gemeinschaftsgefühl vorhanden ist, das den verwöhnten Kindern abgeht. In krasser Verallgemeinerung ist Freud nun gezwungen, die künstlich genährten Wünsche, Phantasien und Symptome sowie deren Bekämpfung durch den verbliebenen Rest des Gemeinschaftsgefühls in angeborene sadistische Triebe zu verlegen, die wie wir sehen, später erst, als Folgen der Verwöhnung, dem Kinde künstlich aufgezüchtet werden. Daß der erste Akt des neugeborenen Kindes, das Trinken an der Mutterbrust, Kooperation ist � und nicht, wie Freud zugunsten seiner vorgefaßten Theorie glaubt, Kannibalismus, ein Zeugnis für den angeborenen sadistischen Trieb -, daß dieser Akt der Mutter ebenso zugute kommt wie dem Kinde, ist hiermit leicht verständlich. Die große Mannigfaltigkeit in den Lebensformen der Menschen verschwindet in der Dunkelheit der Freudschen Auffassung.

      Ein weiteres Beispiel soll die Brauchbarkeit unseres Verständnisses der ältesten Kindheitserinnerungen aufweisen. Ein 18jähriges Mädchen lebt in stetem Zank mit seinen Eltern. Man will sie studieren lassen, da sie sehr gute Schulerfolge aufweist. Sie weigert sich, wie sich herausstellt, weil sie Mißerfolge fürchtet, die darauf begründet sind, daß sie nicht die erste in ihrem Schulexamen war. Ihre älteste Kindheitserinnerung war folgende: Sie hatte auf einem Kinderfest, als sie vier Jahre alt war, einen riesigen Kinderball in der Hand eines anderen Kindes gesehen. Als sehr verwöhntes Kind setzte sie alles daran, auch einen solchen Ball zu erhalten. Ihr Vater lief in der ganzen Stadt umher, einen solchen zu finden, aber es gelang ihm nicht. Einen kleineren Ball wies das Mädchen unter Schreien und Weinen zurück. Erst als ihr der Vater erklärte, wie seine ganze Mühe umsonst war, beruhigte sie sich und nahm den kleineren Ball. Ich konnte aus dieser Erinnerung schließen, daß dieses Mädchen freundlichen Erklärungen zugänglich sei; man konnte sie von ihrer ehrgeizigen Selbstsucht überzeugen, und man hatte Erfolg.

      Wie dunkel oft die Wege des Schicksals sind, zeigt folgender Fall: Ein 42jähriger Mann wird nach langjähriger Ehe mit einer um zehn Jahre älteren Frau impotent. Seit zwei Jahren spricht er kaum mit seinem Weibe und mit seinen zwei Kindern. Vorher einigermaßen erfolgreich in seinem Beruf, vernachlässigt er seither sein Geschäft und bringt die Familie in eine klägliche Lage. Er war der Liebling seiner Mutter und sehr verwöhnt. Als er drei Jahre alt war, kam eine Schwester. Kurz nachher � die Ankunft der Schwester ist seine älteste Erinnerung � begann er das Bett zu nässen. Auch hatte er schreckhafte Träume in seiner Kindheit, wie wir es bei verwöhnten Kindern oft finden. Keine Frage, daß Bettnässen und Angst aus seinen Versuchen stammten, seine Entthronung rückgängig zu machen, wobei wir nicht übersehen wollen, daß das Bettnässen auch der Ausdruck einer Anklage, mehr vielleicht, ein Ak t der Rache gegen seine Mutter war. In der Schule war er ein hervorragend gutes Kind. Er erinnert sich nur ein einziges Mal in eine Rauferei mit einem anderen Knaben, der ihn beleidigt hatte, verwickelt gewesen zu sein. Der Lehrer gab seiner Verwunderung Ausdruck, wie solch ein guter Knabe sich hinreißen lassen konnte.

      Wir können verstehen, daß er auf ausschließliche Anerkennung trainiert hatte und sein Ziel der Überlegenheit darin sah, anderen vorgezogen zu werden. Geschah dies nicht, griff er zu Mitteln, die teils Anklage, teils Rache bedeuteten, ohne daß diese Motivation ihm oder anderen klar wurde. In sein egoistisch gefärbtes Ziel der Vollkommenheit war ein großer Anteil eingeflossen, nach außen hin nicht als böse zu erscheinen. Wie er selbst hervorhob, hatte er das ältere Mädchen geheiratet, weil sie ihm wie seine Mutter entgegenkam. Als sie nun über fünfzig Jahre alt war und mehr in der Pflege der Kinder aufging, brach er die Verbindung mit ihnen allen in scheinbar nicht aggressiver Weise ab. In diesen Abbruch war auch seine Impotenz als Organsprache miteinbezogen. Man hätte in seinen Kinderjahren bereits erwarten können, daß er bei Verlust der Verwöhnung, wie damals, als die Schwester kam, seine wenig deutliche, aber deutlich wirkende Anklage immer wieder erheben würde.

      Ein 30jähriger Mann, der ältere von zwei Kindern, hatte wegen gehäufter Diebstähle eine längere Kerkerstrafe verbüßt. Seine ältesten Erinnerungen stammen aus dem dritten Lebensjahr, aus der Zeit kurz nach der Ankunft des jüngeren Bruders. Sie lauteten: »Meine Mutter hat immer den Bruder vorgezogen. Ich lief schon als kleines Kind immer von Hause weg. Gelegentlich, wenn mich der Hunger trieb, verübte ich kleine Diebstähle in und außer dem Hause. Meine Mutter strafte mich in der grausamsten Weise. Ich lief aber immer wieder davon. In der Schule war ich bis zum 14. Jahre ein mittelmäßiger Schüler, wollte aber nicht weiter lernen und streifte allein auf den Straßen herum. Das Haus war mir verleidet. Ich hatte keinen Freund und habe nie ein Mädchen gefunden, das mich geliebt hätte, wonach ich mich immer sehnte. Ich wollte Tanzlokale besuchen, um Bekanntschaften zu machen, hatte aber kein Geld. Da stahl ich ein Auto


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