Das Buch des Kurfürsten. Marlene Klaus
Mann. Die Tür schlug zu.
Juli gab erstickte Laute von sich.
„Was treibst du da?!“
Fast besinnungslos vor Angst torkelte Hedwig umher, wimmerte, wehklagte.
Ein weiterer Schlag ließ sie zusammenbrechen.
Als sie wieder zu sich kam, spürte sie zunächst nur die Härte des Untergrundes und die Kälte. Dann das Loch im Bauch, das von Hunger und Angst gleichermaßen kam.
Sie hörte das Knacken von brennenden Holzscheiten. Ein Husten. Rascheln von Papier- oder Pergamentseiten. Und ein anderes, ein wohlvertrautes Geräusch dicht neben sich, ein Säuglingsschmatzen. Sie weinte vor Erleichterung, als sie das warme Gesichtchen ihrer Tochter ertastete, Juli aufnahm und an ihr Herz drückte.
Die Tür ging, kalte Luft wehte heran.
„Gehst verdammt oft austreten, Vetter.“
Das war die neue Stimme, die des dritten Mannes.
„Wo viel reinläuft, muss auch viel raus“, gab der andere zurück und lachte, so, als glaube er seine Worte selbst nicht.
„Sie ist bei Sinnen. Gib ihr Brot.“
Das klang fast fürsorglich.
„Wozu sie füttern?“, hörte sie die ekelhafte, ölige Stimme.
Scheinbar hatte der neu Hinzugekommene das Sagen, denn er erwiderte nichts, und trotzdem ergänzte der andere gleich darauf mürrisch: „Mein ja bloß.“
Etwas wurde ihr in den Schoß geworfen. Sie nahm es und biss hinein. Juli begann zu weinen.
„Da hört ihr es. Wieder plärrt das Balg. Lass nur jemand in der Nähe sein, der zu neugierig ist und meint, nach dem Rechten schauen zu müssen.“
„Quatsch nicht. Mach weiter.“
Das Brot war trocken, Hedwig schluckte hart an dem zerkauten Brei, sie nahm ihren Mut zusammen und sagte erstickt: „Herr, lasst mich sie auswickeln. Nehmt mir die Binde ab. Ich schaue auch gewiss nicht zu euch.“ Ihr Herz raste. Sie hatte es immerhin versucht.
Sie erhielt keine Antwort. Nichts geschah.
Juli weinte und stank, und Hedwig wünschte, sie hätte Honig und Mohn zur Hand, um sie zum Schlafen zu bringen, wie sie dies von Tante Barbara gelernt hatte, die ihre Tochter Sophia ebenfalls auf diese Art besänftigte, wenn sie nicht aufhörte zu plärren. Ihre Base war eineinhalb Jahre alt, und beim Gedanken an sie und ihre Familie stiegen die Tränen erneut in ihr hoch. Dann war einer dicht bei ihr, drückte ihren Kopf unsanft nach unten und band ihr den Lappen von den Augen.
Hedwig blinzelte. Der Raum schien in Licht getaucht – im Vergleich zu der Schwärze, welche sie die ganze Zeit umgeben hatte. Sie wagte nicht aufzusehen.
„Sieh zu, dass sie Ruhe gibt!“, befahl jener, der neu hinzugekommen war, aus dem gegenüberliegenden Winkel.
Der ihr die Augenbinde abgenommen hatte, stand noch schräg hinter ihr. Sie zwang sich dazu, ihn nicht wahrzunehmen, bemerkte nur helle lederne Hosen und Stulpenstiefel. Dahinter flackerte Feuer in einer Feuerstelle. Zusätzlich musste es Laternen geben, denn die Ecke, in der die beiden anderen Männer saßen, lag in gelbem Lichtschein. Hedwig schaute auf Juli, die sich in ihrem Schaffell und den Windeln, in die sie geschnürt war, nicht rühren konnte. Deshalb weinte sie so ausdauernd. Sie wollte die Ärmchen bewegen, mit den Beinen strampeln. Also begann sie, auf Juli einzuflüstern, sie sah nicht auf dabei, wusste den Mann noch immer hinter sich, gewahrte die dunkle Hüttenwand rechts von sich, die aus Lehm zu sein schien, hörte dahinter den Wind durch die Nacht streichen. Jetzt sah sie auch, dass sie auf einer verschlissenen Wolldecke kauerte, die auf dünn ausgestreutem altem Stroh lag.
Sie versuchte, das Augenmerk einzig auf das Auswickeln ihrer Tochter zu richten, nahm das Schaffell weg, das wollene Tuch. Dabei flüsterte sie mit Juli, die nur noch in Schüben keckerte, da sie die Augen ihrer Mutter sah, die die ihren festhielten, da sie die Stimme ihrer Mutter vernahm, die beruhigend auf sie einsprach, da sie merkte, dass das geschah, wonach sie so lauthals verlangt hatte. Hedwig löste die Windelschnur, mit der Juli von den Schultern ab bis zu den Beinchen umwickelt war. Dann nahm sie die Außenwindel fort, Juli krähte geplagt, strampelte. Der Gestank wurde beißender. Ohne aufzuschauen sagte Hedwig: „Bitte Wasser … und vielleicht … Ich hatte ein Bündel …“
„Bah, das stinkt ja!“, kam es von der Feuerstelle.
Der hinter ihr rührte sich, kurz darauf warf er den Trinkschlauch neben sie. „Das muss reichen“, befand er. „Hier, dein Zeug.“ Madame Beliers einst wohlverschnürtes Bündel landete neben dem ledernen Trinkbeutel. Sie hatten es durchsucht, Trageschnur und Leinenumhüllung waren lose, das dunkelgraue Wollgewebe zerwühlt.
Hedwig entfernte nun auch die Ärmelwindel, Juli lag nackt vor ihr. Der Boden war kalt, das Wasser war kalt. Sie konnte nur hoffen, dass es ihrer Tochter keinen Schaden zufügte. Ohne zu fragen, griff sie den Lappen, den man ihr von den Augen genommen hatte, tränkte ihn mit Wasser und säuberte Juli. Diese begann bei der Berührung mit dem kalten Nass erneut zu schreien. Verzweifelt flüsterte Hedwig auf sie ein, streckte ihr zwei Finger der anderen Hand hin, damit sie nach ihnen langen konnte – und erstarrte. Ihr Ehering war fort! Heiß schoss ihr das Blut in die Wangen. Ihr Ehepfand! Philipps Geschenk für das Eheversprechen. Hatte sie ihn verloren? Oder hatte man ihn ihr weggenommen? Juli nahm die Finger nicht, sie weinte, wenn auch nicht mehr so schrecklich laut, und drehte den Kopf hin und her. Wie aus weiter Ferne drang die ölige Stimme zu ihr: „Ich mach die Löschung. Von einem Balg war nicht die Rede. Die Bezahlung wird höher ausfallen müssen.“
„Du nimmst, was vereinbart ist.“
„Es war schwer, Weib samt Säugling aus der Stadt zu schaffen. Erhöhte Gefahr erhöht die Besoldung.“
Ein trockener Knall, den Hedwig nicht einordnen konnte, folgte diesem Ausruf.
„Zwanzig Gulden mehr oder ich mach nicht weiter.“
„Der Teufel soll dich … Du wagst es?!“
Hedwig beugte sich vor, sprach leise auf Juli ein, die anhaltend greinte. Ihre Tochter war sonst ein ruhiges Kind. Dass sie jetzt weinte, lag nicht nur daran, dass sie zu lange eingewickelt gewesen war. Es lag an der Kälte, der sie ausgesetzt war, es lag an den lauten Männerstimmen, die sie erschreckten, und es lag sicher an der Angst, die sich von ihr, Hedwig, auf das Kind übertrug, dessen war sie gewiss. Mit zitternden Fingern umwickelte sie den Hintern der Kleinen mit dem Leinen, das als Umhüllung für das Wollgewebe gedient hatte.
Die Männer stritten nun lautstark. Hedwig versuchte angestrengt, nicht auf ihre Worte zu hören. Sie umhüllte Julis Oberkörper nur mit der kleinen Ärmelwindel, statt die Ärmchen darin fest einzuwickeln. Die Außenwindel, die als Nächstes käme, war kotverschmutzt, sie nahm stattdessen das Wolltuch, wickelte ihre Tochter locker hinein und verzichtete darauf, sie einzuschnüren. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als das neue Wollgewebe zu benutzen. Es war zu viel Tuch. Trotzdem umschlang sie den kleinen Körper mit der gesamten Menge und legte ihre Tochter auf das Schaffell. Langsam verebbte Julis Greinen.
Hedwig wusste nicht, wie sie sich nun verhalten sollte. Die Männer stritten, sie wagte nicht, sich zu rühren, behielt ihre Haltung bei und blieb mit ihnen zugekehrtem Rücken sitzen.
„Du Hundsfott bist nur auf deinen eigenen Vorteil bedacht!“ So dünn und blechern diese Stimme auch klang, jetzt, in Wut, hatte das Blech scharfe Kanten.
„Ach? Und zu wessen Vorteil machen wir das hier?“
„Auch du ziehst Nutzen daraus!“
„Der größer sein könnte. Nehmt’s von ihrem Eheherrn.“
„Wir zahlen die ausgemachte Summe. Punktum.“
Das sagte jener, der später erst hinzugekommen war.
Der Schmierige wollte also mehr Geld. Wofür? Was tat er dort am Feuer, wofür er Geld bekam? Und wofür er dieses viele Licht benötigte?
Ein