Das Buch des Kurfürsten. Marlene Klaus
mich. Seht doch zu, wer euch hilft.“
„Der Teufel soll dich … Du nennst mich nicht Jammerlappen!“ Etwas polterte, Gerangel entstand, Hedwig konnte nicht anders, sie musste den Kopf drehen und hinschauen.
Einer saß an einer offenen Feuerstelle auf einem Faltstuhl. „Hört auf!“, befahl er den beiden anderen, die sich in drohender Haltung gegenüberstanden. Der Größere kehrte ihr den Rücken zu, er hatte den anderen an der Kehle gepackt. Den sah sie halb von vorn, fettiges Haar, flusiges Gekräusel rund ums Kinn, und Augen, zusammengekniffen vor Wut. Er beugte sich nach hinten weg, suchte der Umklammerung auszukommen und stolperte über einen umgefallenen zweiten Faltstuhl. „Nur wenige Gulden mehr, Roth. Trägst sie sonst eh nur zu den Huren.“
Die Bewegung war fließend. Mit dem Ausruf „Hundsfott!“ stieß der Größere den anderen von sich, zog sein Schwert und stieß es ihm in den Leib.
Ungläubig glotzend sank der kleinere Mann zu Boden.
Hedwig schlug die Hand vor den Mund.
Der Dritte sprang auf. „Bist du von Sinnen!“ Er beugte sich über die zu Boden gesunkene Gestalt.
Blankes Entsetzen packte Hedwig. Sie presste Juli an sich und drückte sich in den Schatten der Hüttenwand. Der Niedergestochene hob einen Arm, röchelte, schließlich hustete er. Dann griff er sich mit einer matten Bewegung an die Seite. Blut färbte seine Finger. Der, der ihm das Schwert in die Seite gerammt hatte, stand breitbeinig da und glotzte auf ihn hinab. Hedwig sah ihn halb von hinten, halb von der Seite, viel hellbraunes Leder, Haare, die im Feuerschein rötlich schimmerten. „Das kommt, wenn man den Hals nicht voll genug bekommt, Scheißhaufen!“, stieß er hervor. Er war der mit der blechdünnen Stimme.
Der Dritte sah ihn an, wütend, vorwurfsvoll. Hedwig gewahrte sehr kurzes Haar, ein dünnes, dunkles Bärtchen um Kinn und Lippen. „Unbeherrschter Ochse! Steh nicht rum, hol was zum Verbinden!“, schimpfte er.
Dem am Boden fielen die Augen zu. Diesem Frettchen also gehörte jene widerlich ölige Stimme, die sie zu verabscheuen gelernt hatte. Stumpf vor Angst und Grauen starrte Hedwig hin. War er tot? Da drehte der Hellbraune sich um, kam auf sie zu. Hedwig hielt den Atem an. „Her mit dem Tuch!“
Mit zitternden Fingern kam sie seinem Befehl nach, wickelte es von Julis kleinem Körper. „Bitte!“, flehte sie, doch ihr versagte die Stimme. Juli würde erfrieren, wenn er ihr das warme Tuch nähme. Der Mann beugte sich herab. Mit grober Gleichgültigkeit riss er das Kind aus dem Gewebe, da ihre Finger zu langsam waren. Als sie die Brutalität sah, mit der er Juli einen Schlag verpasste, da begriff sie, wie taub und tot vor Pein, dass sie verloren war, dass ihr Leben und das ihrer Tochter keinen Pfifferling wert war, denn wenn der schon so toll war, seinen Kumpan niederzustechen, der ihm behilflich gewesen war – welches Schicksal erwartete dann erst sie?
Herbst 1595
Acht
Philipp hing schräg auf dem Stuhl in der Kammer, die Hedwig stolz „unsere Wohnkammer“ nannte.
Aber Hedwig war nicht da. Juli war nicht da.
Er starrte in die rußende Flamme des Talglichts auf dem Tisch. Sein Mantel war feucht, er zurrte ihn dennoch enger, kreuzte die Arme vor der Brust, aber warm wurde ihm nicht. Seine Finger waren eisig. Die Stube war kalt, dunkel. Er hatte kein Feuer in dem gusseisernen Gluttiegel entzündet.
Wie lange saß er hier, zerschlagen und niedergeschlagen? Er wusste es nicht. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen.
Knarren im Gebälk, er hörte das rasche Trippeln der Ratte im Fachwerk, die sie noch immer nicht gefangen hatten. Sonst war es still, auch Wittib Ringeler, die Vermieterin, plärrte unten im Erdgeschoss noch nicht mit ihren Kindern herum. Kein Gerufe, Gezänk und Gemach vom Jakober Tor her.
Philipp hatte kein Wort für das Gefühl, das ihm in Mark und Bein brannte. Wut? Es war mehr als das. Zorn? Es war mehr als Zorn. Hilflosigkeit? Ja. Schmerz? Grenzenlos und allumfassend, wie er ihn nie für möglich gehalten hätte. Julis Quengeln und Schmatzen, ihr Gebrabbel, das er frühmorgens vernahm, im Halbschlaf noch, wenn Hedwig sie stillte und leise mit ihr sprach. Das zufriedene Grunzen seiner Tochter. Nebenan in der Schlafkammer stand das Körbchen aus Flechtwerk, in das sie sonst gebettet lag. Leer. Wo war seine Tochter?
Philipp spürte, wie der Kloß im Hals sich löste. Er schluckte. Neigte den Kopf, bedeckte die Augen mit der Hand und weinte. Er konnte nichts dagegen tun. Es überwältigte ihn.
Nach einer Weile hob er den Arm und wischte sich den Rotz von der Nase. Nachdenken. Eine ungeheure Anstrengung – und doch rumpelte es in seinem Kopf, unablässig, sprangen die Gedanken von hier nach da, gaukelten Hoffnung, sprachen von Irrtum, rissen ihn in Verzweiflung, zeigten ihm wieder und wieder den Ablauf des gestrigen Abends, schimpften ihn einen Tor, einen Narren. Er dachte daran, wie er zu sich gekommen war, weil seine Zähne hart aufeinanderschlugen. Er hatte im Schnee gelegen, sein Schädel hatte gebrummt, ihm war übel gewesen. Er hatte nicht gewusst, wo er war. Um ihn her Dunkelheit und Kälte, auf seinem Mantel eine weiße Schneedecke. Die Erinnerung war gekommen, als er benommen auf eine tönerne Flasche starrte, die neben ihm im Schnee stand. Diesen Augenblick des jähen Begreifens, das ihn durchfahren hatte wie ein zischender Pfeil, würde er niemals in seinem Leben wieder vergessen können. Er hatte die Tücke begriffen, die hinter des Finsterlings Handeln steckte: Sollte man ihn finden, würde die Flasche hinlänglich Zeugnis davon ablegen, dass er am Martinsabend einen über den Durst getrunken und es nicht mehr nach Hause geschafft hatte.
Aufgerappelt hatte er sich. Hatte die Flasche im hohen Bogen von sich geworfen. War heimgeschlichen, im Mund einen bitteren Geschmack, im Schädel ein infernalisches Hämmern. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein als das, was er durchlitt, auch wenn dies ein gotteslästerlicher Gedanke sein mochte.
Nachdenken. Konnte, sollte er sich jemandem anvertrauen? Er lachte trocken auf, als ihm einfiel, dass die Kanzleiordnung gebot, dass die Kanzleiverwandten untereinander „kein Gebolder oder ungeschicktes Wort gebrauchen“ und sich vor allem gegenseitig mit Rat und Tat helfen sollten. Wer konnte ihm helfen? Nickel gewiss nicht. Der umsichtige, ältere Kanzleiknecht Conradt Hofman? Der Vizekanzler? Doch was sollten sie tun? Wo Hedwig und Juli suchen? Vielleicht waren sie bereits … Nein! Das durfte er nicht denken! Er verscheuchte diese Angst. Nein, niemand konnte ihm helfen. Er musste warten. Morgen Mittag würde er das Buch erhalten und es zurückbringen in die Kanzlei. Danach würde er Hedwig und Juli zurückbekommen.
Das Morgengeläut der Franziskanerkirche ließ ihn hochschrecken, ein Röcheln kam aus seiner Kehle. Er war tatsächlich eingeschlafen!
Das Talglicht war ausgegangen. Durch das Hinterfenster schimmerte das Leuchten schneebedeckter Dächer im Novemberdunkel.
Die Knie knackten, als er sich reckte. Harndruck. Sein Nacken schmerzte, er langte hin, spürte die Beule am Hinterkopf. Sein Mund war trocken, er schluckte mehrmals, ein Kratzen im Hals. Er befühlte die geschwollene Wange und sog die Luft ein. Sie verfärbte sich wohl schon. Er stand vom Stuhl auf. Sämtliche Gliedmaßen taten weh. Außer die Zehen, die spürte er in den nassen Stiefeln schon gar nicht mehr. Er bewegte sie. Eine Qual. Er ächzte. Humpelte die zwei Schritte zum Geschirrschrank, nahm den Krug Wasser, trank in großen Schlucken. Eiskalt rann die Flüssigkeit seine Kehle hinab.
Die Glocken läuteten, im Erdgeschoss schlug die Tür, dass das kleine Haus zitterte. Schneegedämpftes Pferdegetrappel. Männerstimmen von fern. Heidelberg erwachte.
Er musste nun zum Haus Belier.
Dann in die Kanzlei. Tun, als ob nichts wäre.
Er sah sich in der Stube um. Ohne Hedwig war sie ohne Leben. Tisch, Stühle, eine hohe Truhe, ein Wandbord, der dreiarmige Kerzenständer, den sie eines Tages angeschleppt hatte und um dessentwillen er sie gescholten hatte, denn sie benutzten ja kaum Kerzen, schon gar nicht drei auf einmal. Jetzt tat es ihm leid. Dabei hatte er ihr selber Geschenke mitgebracht in den eineinhalb Jahren, die er sie