Seewölfe - Piraten der Weltmeere 26. John Roscoe Craig
Neunpfünderkanone an. Bewegungslos hockten sie im Boot und starrten zum Schanzkleid der Galeone hoch. Nichts bewegte sich dort.
Der Seewolf blickte seine Männer an. Er sah nur das Weiße in ihren Augen.
„Sie haben nichts gehört“, flüsterte er. „Wahrscheinlich haben sie sich aus lauter Wut, daß sie Wache gehen müssen, während sich die anderen an Land vergnügen, einen angesoffen.“
Der Seewolf drehte sich um, griff nach dem breiten Bergholz, das aus dem glatten Rumpf der Galeone hervorragte, und zog sich zum Schanzkleid hinauf. Er wußte, daß er seinen Männern keine Befehle mehr zu geben brauchte. Sie hatten alles bis in die Einzelheiten abgesprochen. Nach Dan O’Flynns Beobachtungen hatten am späten Nachmittag etwa fünfundzwanzig Männer diese Galeone mit einer Segelpinasse verlassen. Viel mehr als fünf Männer konnten nicht zurückgeblieben sein.
Lautlos enterten die Männer der „Isabella“ die Galeone. Sie verschmolzen sofort mit den Schatten an Deck. Jeder kannte seine Aufgabe. Hasard, der Franzose, Dan O’Flynn, Buck Buchanan und Batuti schlichen zum Achterdeck, um den wachhabenden Offizier und vielleicht den Kapitän auszuschalten, falls dieser sein Schiff nicht verlassen hatte.
Stenmark, Pete Ballie, Matt Davies, Jeff Bowie und der Ire Patrick O’Driscoll hatten die Aufgabe, unter Führung von Ferris Tucker die Wache, die wahrscheinlich unter der Back hockte, außer Gefecht zu setzen.
Ferris Tucker und seine Männer hörten das Schnarchen der Wachen, als sie an dem Beiboot, das kieloben auf der Kuhlgräting festgezurrt war, vorbeischlichen.
Sie richteten sich auf. Hier war keine Vorsicht mehr nötig. Mit wenigen Schritten waren Ferris Tucker und Stenmark unter der Back. In dem Steinofen glühte noch der Rest des Feuers. Die Jungs waren verdammt leichtsinnig. Wie leicht konnte ein Schiff in Brand geraten!
Stenmark sah einen Schatten neben dem steinernen Herd. Seine mächtige Faust packte zu und riß den schnarchenden Mann hoch. Mit der Rechten holte Stenmark aus, doch er brauchte nicht zuzuschlagen. Der Mann wachte von der rauhen Behandlung nicht auf. Stenmark zog die Nase kraus, als er den säuerlichen Geruch wahrnahm, der aus dem Mund des Schnarchenden strömte.
Der Mann war stockbesoffen.
Die anderen schienen nicht weniger getrunken zu haben. In weniger als drei Minuten waren die vier Männer unter der Back wie Pakete verschnürt. Einer von ihnen war aufgewacht und hatte lallend gefragt, was denn los sei, doch Matt Davies hatte ihm blitzschnell einen Knebel verpaßt und ihn mit der Ledermanschette seines Eisenhakens ins Land der Träume geschickt.
Hasard und seine Männer hatten inzwischen das gesamte Achterdeck der Galeone nach dem wachhabenden Offizier abgesucht, ihn jedoch nirgends entdeckt. Hasard fluchte unterdrückt. Verdammt, das gab es doch nicht! Der Kapitän würde doch sein Schiff nicht zurücklassen ohne Offizier! Oder befand sich der Mann vielleicht bei der Mannschaft unter der Back?
Dan O’Flynn tauchte an Hasards Seite auf.
„Ich habe Geräusche in der Kapitänskammer gehört“, flüsterte er. „Ich war auf der Heckgalerie. Es sieht so aus, als brenne in der Kammer Licht. Jemand hat wahrscheinlich die Fenster verhängt.“
Der Seewolf zog die Stirn kraus.
Was konnte das nun schon wieder bedeuten?
Er gab Dan und dem Franzosen einen Wink, ihm zu folgen. Batuti und Buck Buchanan sollten auf dem Quarterdeck bleiben und sofort zupacken, wenn von irgendwoher ein Spanier auftauchte.
Die Tür, die vom Quarterdeck in den Gang führte, ließ sich lautlos öffnen. Im Gang war es nicht so dunkel wie draußen auf dem Deck. Hasard drückte sich sofort an die Wand, um nicht in den Lichtschein zu geraten, der aus der offenstehenen Tür am Ende des Ganges fiel. Sie hörten ein leises Rumoren.
Der Seewolf wunderte sich. Es hörte sich fast so an, als sei der Kapitän der Galeone dabei, seine Kammer umzuräumen.
Langsam schlich sich Hasard näher. Vorsichtig schob er den Kopf vor und warf einen Blick in die große Kapitänskammer. Er sah, daß seine Vorsicht überflüssig gewesen war. Der Mann in der Kammer hockte auf den Knien vor einer bemalten Seemannskiste und durchstöberte sie.
Ein Grinsen schlich sich in Hasards Gesicht. Er wollte einen Besen fressen, wenn das der Kapitän dieser Galeone war.
Er trat in die Kammer, baute sich breitbeinig hinter dem knienden Mann auf und räusperte sich.
Der Spanier fuhr herum. Seine Augen waren vor Überraschung weit aufgerissen. Angst schoß in ihm hoch, als er die drei Männer erblickte, die ihre Hände auf den Waffen liegen hatten.
Der Spanier zuckte zusammen, als Hasard seinen Degen hervorzog. Fast bedächtig richtete der Seewolf die Spitze der Klinge auf die Nase des Spaniers, die sehr bleich war.
„Was wohl dein Capitan dazu sagen wird, daß du hier in seinen Sachen herumwühlst“, sagte Hasard in Spanisch.
Der Spanier hob abwehrend die linke Hand. Die rechte lag noch auf dem Rand der Seemannskiste, deren Deckel hochgeklappt war. Der Mann wollte sich erheben. Dabei verschob er die Kiste, der Deckel fiel, und dann jaulte der Spanier auf und hielt sich die gequetschte Hand.
Tränen standen in seinen Augen. Er starrte Hasard, Jean Ribault und Dan O’Flynn angstvoll an.
„Wer seid ihr?“ fragte er gequält.
„Ich stelle hier die Fragen“, gab Hasard kalt zurück. „Was hast du in der Kiste deines Capitans zu suchen?“
„Ich – ich ...“ Der Spanier stotterte. An seinen Augen las Hasard ab, daß der Mann krampfhaft nachdachte. Vielleicht ahnte er schon, daß hier viel mehr auf dem Spiel stand als nur seine Karriere, weil er seine Neugier nicht hatte bezwingen können.
„Ich – ich habe eine Karte gesucht, auf der der Capitan eingezeichnet hat, wo er seine Schätze verborgen hat, die er schon seit zwei Jahren unterschlägt“, sagte er hastig. „Ich arbeite im Auftrag des Vizekönigs von Peru.“
Seine Stimme hatte ihren festen Klang wiedergefunden. Er richtete sich auf und beachtete Hasards Degen, dessen Spitze immer noch auf seine Nase zeigte, nicht mehr.
„Du kannst uns viel erzählen“, erwiderte Hasard.
Der Spanier nestelte an seiner Jacke herum. Er holte ein Dokument hervor, das er Hasard reichte. Hasard las es. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt. Er war ein Spitzel. Aber das half ihm in diesem Fall herzlich wenig. Hasard gab Dan ein kurzes Zeichen mit den Augen, und als der Spanier aufatmen wollte, weil Hasard seinen Degen zurückzog, pfiff der kurze Stiel von Dan O’Flynns Pike durch die Luft und schickte den spanischen Spitzel zu Boden. Das Bewußtsein des Mannes war so schnell erlöscht, daß er nicht einmal mehr Zeit fand, sich beim Fallen mit den Händen abzustützen. Er fiel mit der Nase auf die Planken.
„Fessel ihn“, sagte der Seewolf zu Dan, nachdem er sich gebückt und dem Spanier das Dokument abgenommen hatte. „Jean, du schaust nach, ob es draußen noch Schwierigkeiten gibt. Wenn alles klar ist, dann setzt die Segel. Wir müssen uns beeilen. Bereitet während der Fahrt alles vor, damit wir nachher beim Umladen nicht zuviel Zeit verlieren.“
„Aye, aye“, sagte Jean Ribault und verschwand in den Gang.
Der Seewolf bückte sich und schaute in die Kiste des Kapitäns. Er sah die braune Mappe aus Schweinsleder, nahm sie heraus und öffnete sie. Der Spitzel war nahe daran gewesen, die Wahrheit zu erfahren. Hasard blickte auf eine Karte, die eine kleine Bucht etwas südlich von Callao, dem Hafen der peruanischen Hauptstadt Lima, zeigte. An der Stelle, an der er seinen Schatz verborgen hatte, war ein Kreuz eingezeichnet.
Hasard wußte nicht, ob diese Karte ihm jemals von Nutzen sein würde, denn seine Fahrt würde ihn wahrscheinlich nicht wieder nach Peru hinunterführen, aber dennoch steckte er sie ein – zusammen mit dem Ausweis des Spitzels.
Dann lief Hasard mit Dan hinaus aufs Quarterdeck. An den Bewegungen der Galeone hatte Hasard schon gespürt, daß die Männer der „Isabella“ den Anker der Galeone gelichtet hatten. Das Fock- und das Großsegel hatten