DUNKLE ERNTE (Project 4). Alex Lukeman

DUNKLE ERNTE (Project 4) - Alex  Lukeman


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der Wintermonate schloss das Museum bereits um 14:30 Uhr. Also beschloss sie, ihm jetzt sofort einen Besuch abzustatten. Am Schalter ihres Hotels ließ sie sich die genaue Adresse geben.

      Der Tag war wunderschön und kühl, mit einem strahlend blauen Himmel und mit einem kristallklaren Sonnenlicht, das sie bisher nur in Griechenland erlebt hatte. Für Selena war dies eines der schönsten und interessantesten Länder der Welt, und über allem thronte der schneebedeckte Gipfel des Olymps.

      Der Olymp, Wohnort der Götter. Sie fragte sich, was die Götter wohl von dem modernen Griechenland halten würden, das in einem Meer aus opportunistischer Korruption und riesigen Schuldenbergen langsam unterging. Selbst Odysseus hätte dieses Gewässer nicht unbeschadet überqueren können.

      Das Museum war ein moderner, zweistöckiger Bau. Sie bezahlte einen moderaten Eintrittspreis und begann dann mit ihrer Suche. Das erste Stockwerk war den Artefakten und Skulpturen gewidmet worden. Sie sah eine schöne Statue von Dionysius, dem Gott des Weines. Einen Schaukasten, in dem Münzen und Relikte früher christlicher und römischer Ansiedlungen in dieser Gegend ausgestellt waren. Interessant, aber nichts, was ihr hätte nützlich sein können. Sie ging nach oben.

      Das bedeutendste Exponat in diesem Stockwerk war eine hydraulische Wasserorgel, über zweitausend Jahre alt. Sie fragte sich, wie die Musik wohl geklungen haben mochte. Der Rest der Ausstellung beschäftigte sich mit dem Leben im altertümlichen Dion. Werkzeuge, Tonwaren, ein Spielzeugpferd für Kinder, kleinere Statuen der Götter und vieles mehr waren in Vitrinen ausgestellt, die die Wände säumten, oder wurden einzeln auf Sockeln präsentiert.

      Dann betrat Selena eine weitere Sektion. Das Herzstück dieses Abschnittes bildete der Abguss des Deckels einer Grabstätte. Perfekt erhalten, von der Witterung und der Zeit unangetastet. Ein junges und gut aussehendes Gesicht war als Basisrelief in den Deckel gearbeitet worden, behelmt und stolz, die Lippen voll und sinnlich. Selbst in dem kalten Weiß des Gipsabdruckes war das Gesicht noch erstaunlich und wunderschön, perfekt proportioniert, so als könnten sich die Lippen jeden Moment öffnen und zu sprechen beginnen. Selena betrachtete die Inschrift, die in den Deckel eingraviert worden war, und übersetzte sie in Gedanken.

       Aetolikos Sicher in Elysium

      Kapitel 9

      »Sie haben also sein Grabmal gefunden?«

      Harker legte Selena auf die Lautsprecher. Nick und Stephanie hörten zu.

      »Leider nicht seine Gruft, aber einen Abdruck seines Sarges. Das Grabmal wurde erst im letzten Herbst entdeckt. Der leitende Archäologe ließ die Fundstätte versiegeln und stoppte die Ausgrabungen während der Winterregen, aber er wird sehr bald an dem Fundort weiterarbeiten.«

      »Wie haben Sie das denn herausgefunden?«

      »Ich habe mich bei einem Kaffee mit dem Kurator des Museums unterhalten. Er war überglücklich, jemandem zu begegnen, mit dem er sich mal angeregt und begeistert über das Grabmal unterhalten konnte. Die Gruft wurde in einen Berghang getrieben und verfügt über mehrere Räume. Ihre Nähe zu Alexander macht sie zu einer Ausgrabungsstätte von sehr hoher Priorität. Es könnte sich also tatsächlich noch mehr dort befinden.«

      »Schaffen Sie es, hineinzugelangen?«

      »Das weiß ich noch nicht. Ich habe ein paar Namen und den Ort, an dem sie sich befindet. Aber vor Montag wird wohl nichts passieren.«

      »Wie sieht denn Ihr Plan aus?«

      »Ich werde hinfahren, mich vorstellen und meine Qualifikationen vorweisen, dem Chefarchäologen Honig ums Maul schmieren und ihm eine entsprechende Publicity in Aussicht stellen. Jeder möchte doch gern eine angemessene akademische Beachtung finden. Ich werde ihm sagen, dass ich es zu schätzen wüsste, wenn er mir eine Führung geben könnte. Ich denke, er wird anbeißen.«

      »Und dann?«

      »Wenn ich etwas finde, werde ich es genauer untersuchen.«

      Harker nahm ihren Federhalter zur Hand und ließ ihn zwischen ihren Fingern kreisen. Nick wartete nur darauf, dass sie gleich wieder mit dem Tippen beginnen würde, und seufzte innerlich erleichtert auf, als sie ihn wieder ablegte.

      »Hat sonst noch jemand Interesse bekundet?«

      »Nicht, dass ich es bemerkt hätte.« Die Verbindung knisterte von atmosphärischen Störungen. »Der Ort gleicht einer Geisterstadt. Hier halten sich nur sehr wenige Besucher auf. Die paar, denen ich begegnet bin, wirkten unauffällig auf mich. Zwei Geschäftsleute aus Georgien. Ein Paar in den Flitterwochen und ein paar ältere Semester.«

      »Was haben denn georgische Geschäftsleute in Dion verloren?«, fragte Nick. Sein Ohr begann plötzlich zu jucken.

      »Ich habe ihnen nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie unterhielten sich beim Mittagessen darüber, Oliven nach Russland zu exportieren.«

      Jemand klopfte jetzt an ihre Tür.

      »Entschuldigt mich kurz, ja?«

      »Zimmerservice«, ließ sich undeutlich eine Stimme vernehmen.

      Mit dem Handy in der Hand lief sie zur Tür. »Der Zimmerservice. Ich habe doch gar nichts bestellt. Bleibt mal dran.«

      Sie wollte gerade die Tür öffnen, doch diese schlug ihr bereits entgegen und warf sie in ihr Zimmer zurück. Das Telefon flog ihr aus der Hand. Die beiden Männer, die sie in dem Restaurant gesehen hatte, kamen nun ins Zimmer gestürmt.

      Zwanzig Jahre Martial-Arts-Training machten sich nun bezahlt. Meister Kim hatte in seiner jungen Schülerin schnell Potenzial gesehen und ihr nebenher ein paar Spezialstunden gegeben. Über die Jahre hinweg hatte er ihr so den etwas gefährlicheren Teil dieser Kampfkunst gelehrt.

      Sie landete auf dem Rücken, als die Männer hereinplatzten, doch Selena nutzte die Bewegung für einen Rückwärtssalto und landete sofort wieder auf den Füßen. Sie sprang zur Seite, um zu einem der Männer zu gelangen, der auf sie losging, packte sein Jackett mit beiden Händen und warf ihn über ihre Hüfte. Sein Schwung ließ ihn gegen die Wand am anderen Ende des Zimmers krachen. Dann war der zweite Mann bei ihr und schlang seine Arme um sie. Sie wusste es besser, um zu versuchen, sich mit reiner Körperkraft aus diesem Griff herauszuwinden. Stattdessen spuckte sie ihm ins Gesicht. Er zuckte reflexartig zurück. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, verpasste sie ihm einen Kopfstoß. Damit hatte er nicht gerechnet und er lockerte seinen Griff.

      Das genügte. Sie drehte sich um, packte mit ihrer Linken seine rechte Hand mit einem Klammergriff und drehte sie mit aller Kraft herum. Die Bewegung jagte einen urplötzlichen, überwältigenden Schmerz durch seinen Arm. Für einen kurzen Moment raubte es ihm die Fähigkeit, klar denken zu können, und mehr brauchte sie nicht. Mit ihrer anderen Hand trieb sie von unten seinen Ellenbogen nach oben. Der Schlag verursachte ein hässliches Geräusch, wie ein nasser Zweig, der brach. Er schrie vor Schmerzen auf. Sie trat ein paar Schritte von ihm zurück, trat ihm mit ausgestrecktem Bein in die Weichteile und zertrümmerte dabei seine Testikel. Er schrie noch einmal und fiel dann zu Boden.

      Der andere Mann trug eine Waffe bei sich, eine riesige Automatik. Sie wirbelte herum und trat sie ihm mit einem hoch angesetzten Tritt aus der Hand. Dann ließ sie einen Schlag gegen seinen Solarplexus folgen, anschließend einen Schlag gegen seine Kehle und schließlich einen tödlichen Fausthieb gegen seinen Brustkorb. Der Mann brach ebenfalls zusammen. Sein Gesicht lief purpurrot an, als er starb.

      Der erste Angreifer stöhnte schmerzerfüllt auf und presste sich die Linke auf seine Leistengegend. Sein rechter Arm stand in einem seltsamen Winkel ab. Selena lief zu ihm. Sie fühlte nichts und ihre Gedanken waren klar und fokussiert. Er hatte sie angefasst, sie gepackt. Er hatte ihr wehtun wollen, oder sogar noch Schlimmeres, daran zweifelte sie keine Sekunde. Sie überlegte bereits, mit welchem Schlag sie ihn töten würde. Aber dann entschied sie sich anders, denn er könnte Antworten haben.

      Sie erschauderte. Woher kam dieser plötzliche Drang zu töten? Was war aus ihrer guten Erziehung geworden, ihrem tief sitzenden Mitleid und ihrem Sinn für Menschlichkeit?


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