DUNKLE ERNTE (Project 4). Alex Lukeman

DUNKLE ERNTE (Project 4) - Alex  Lukeman


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Leben wohl nicht mehr gewinnen, so viel stand fest.

      Er nahm den Blick von dem Spiegel. Sein Schweiß hatte dunkle Flecken auf seiner Kleidung gebildet und er hatte einiges an Kalorien verbrannt. Sein Rücken schmerzte, aber damit würde er klarkommen. Kein Grund, an etwas anderes zu denken als an den einfachen Rhythmus seines Körpers und an das verschwommene Surren des Springseils.

      Es tat gut, einmal nicht nachdenken zu müssen.

      Selena Connor betrat nun den Raum. Einen Moment lang betrachtete sie Nick. Ein großer, zäher Mann. Nicht sonderlich hübsch, aber auch nicht hässlich. Graue Augen mit einem seltsam wirkenden goldenen Tupfer darin. Sein Gesicht wirkte angespannt und konzentriert. Die Narbe an seinem linken Ohr trat rot hervor. Das tat sie immer, wenn er trainierte … und auch im Schlafzimmer. Sie stellte ihre Sporttasche auf einer Bank ab und begann dann, sich zu dehnen. Er beobachtete sie dabei, während er das Seil in Form einer Acht um seinen Körper kreisen ließ.

      »Hey«, sagte sie.

      »Selber hey. Bin gleich fertig.« Er zog das Tempo an. Selena sah gut aus, selbst in einer dunkelblauen Jogginghose. Nick beneidete sie um ihre athletische Anmut, die sie stets ausstrahlte. Sie beendete ihre Aufwärm-Übungen und kam dann zu ihm herüber. Eine Locke ihres rotblonden Haares fiel ihr in die Stirn. In ihren purpurnen Augen blitzte ein wenig der Schalk auf. Nick wurde langsamer, dann hielt er ganz an.

      Sie sah zu ihm auf. »Lust, ein paar Tricks zu lernen? Die Kenntnisse ein wenig aufzufrischen?«

      Nick bemerkte die Herausforderung in ihrem Tonfall. Er war nicht schlecht im unbewaffneten Nahkampf, aber Selena war um Klassen besser.

      »Wenn du meinst, dass du es verkraftest.«

      »Ich oder du?«

      Nick überragte Selena um gute fünf Zentimeter und brachte wenigstens dreißig Kilogramm mehr auf die Waage. Doch nachdem sie ihn zum sechsten oder siebten Mal auf die Matte befördert hatte, kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht ein wenig zu alt für diese Form der Auffrischung wurde. Von den Schlägen, die er einstecken musste, tat ihm schon alles weh.

      »Okay, ich gebe auf. Das reicht.«

      »Willst du nicht noch mal den Handgelenksgriff durchgehen?«

      »Wenn ich noch weiter trainiere, habe ich bald keine Handgelenke für irgendwelche Griffe mehr.«

      Sie lächelte. Ihre Mundwinkel kräuselten sich dabei. Ein schönes Lächeln. Sie nahm ein Handtuch und trocknete sich das Gesicht ab. Sie war kaum ins Schwitzen geraten.

      »Du wirst immer besser. Einmal hättest du mich fast gehabt.« Das Telefon in ihrer Tasche signalisierte eine Nachricht. Sie lief zur Bank, kramte ihr Handy hervor und hörte die Nachricht ab. Nach einer Minute steckte sie es wieder in ihre Tasche zurück.

      »Das war ein Freund von mir aus Georgetown, Kevin McCullough. Er will, dass ich ihm bei der Übersetzung von ein paar Keilschriften helfe.«

      Selena hatte sich einen weltweiten Ruf als Expertin für alte Sprachen erworben. Es gab nicht viele Leute, die Beowulf auf Angelsächsisch zitieren konnten. Oder es wollten. Aber Selena war schließlich nicht wie die meisten anderen Leute.

      »Hätte ich mir denken können, dass du auch Keilschriften lesen kannst. Irgendwelche interessanten Bücher von damals, die du mir empfehlen kannst?«

      »Keine Bücher, aber gute Geschichten. Eigentlich genau dein Fall. Du würdest sie mögen, denn sie sind äußerst blutig und voller Mord und Totschlag.« Sie nahm ihre Tasche hoch. »Ich werde zu ihm fahren, nachdem ich geduscht habe. Kommst du mit?«

      »In die Dusche?«

      »Witzbold. Nein, nach Georgetown.«

      »Klar. Harker wird uns schon anrufen, falls sie uns braucht.«

      In Selenas Mercedes fuhren sie den Memorial Parkway hinunter, überquerten die Key Bridge nach Washington und begaben sich von dort aus zur Georgetown Universität. Den Wagen parkten sie in der Nähe der Healy Hall, wo Selenas Freund ein Büro besaß.

      Die imposante Healy Hall sah wie ein Gebäude aus, das sich genauso auch in London hätte befinden können, in den glorreichen Tagen des Empires. Sie war riesig, fünf Stockwerke hoch und aus grauen Steinblöcken errichtet. Zwei hohe Türme schmückten den ehrwürdigen Bau, zusammen mit ein paar kleineren Mauertürmen. Lange Fensterreihen zierten die Fassade.

      »Das nenne ich mal ein Bauwerk.« Carter sah zu dem Turm in der Mitte des Gebäudes auf. Wahrscheinlich gab es darin auch ein paar Glocken. »Quasimodo würde es hier sicher gefallen.«

      »Beeindruckend, oder?«

      »Die kleinen Türmchen verleihen ihm noch eine nette Note. Gibt ihm einen zeitgenössischen Look.«

      McCulloughs Büro befand sich im vierten Stockwerk. Sobald sie das Büro betreten hatten, wusste Nick, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Professor McCullough war Ende fünfzig, vielleicht auch Anfang sechzig. Er war ein kleiner Mann, etwa einen Meter fünfundsiebzig groß, mit lichtem rötlichem Haar und einem sanft wirkenden, blassen Gesicht. Er trug ein braunes Jackett aus feinster Wolle. Mit wässrigen Augen sah er sie durch seine Gleitsichtbrille hindurch an.

      »Selena, danke, dass du kommen konntest.«

      »Hallo Kevin. Das ist Nick Carter. Wir arbeiten zusammen.«

      McCulloughs Hand fühlte sich unangenehm feucht an, als Nick sie schüttelte. Der Raum war bis oben hin vollgestopft und stickig. Ein großes Fenster zeigte zur Vorderseite des Gebäudes hinaus, doch es war geschlossen. Überall lagen Dokumente in Aktenordnern oder in Kisten. Ein Bücherregal, das bis zur Decke reichte, nahm eine der Wände ein und ächzte unter viel zu vielen Büchern. Der Raum roch nach Staub und trockenem Papier. Sich das Chaos hier auch nur ansehen zu müssen genügte schon, dass Nick die Augen wehtaten. McCullough deutete auf zwei abgenutzte Sessel.

      »Bitte, setzt euch doch.«

      Er selbst nahm in dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch Platz und ordnete kurz seine Gedanken.

      »Selena, die Polizei hat mich angerufen.« Er verschränkte seine Finger.

      »Was ist denn los, Kevin?«

      »Die Bilder, die du dir ansehen sollst, stammen von einem Freund, Jim Campbell. Er wurde vergangene Nacht ermordet, nachdem er mir diese Bilder geschickt hatte. Also, natürlich danach. Die Polizei rief daraufhin all seine Kollegen an.«

      Selena und Nick tauschten einen Blick aus.

      »Das tut mir leid, Kevin.«

      »Jim war ein guter Freund von mir. Wir arbeiteten auf dem gleichen Gebiet.«

      »Welches Fachgebiet ist das denn, Professor?« Nick kratzte sich am Ohr.

      »Mikrobiologie. Ich habe mich auf Getreide-Viren spezialisiert. Jim war einer der führenden Autoritäten auf diesem Gebiet. Er war gerade dabei, eine Sammlung von Artefakten am Dartmouth College zu studieren.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihn jemand umgebracht hat. Wieso sollte jemand so etwas tun?«

      »Woran genau forschte er denn?«, fragte Selena.

      »An Keilschrift-Tafeln, die im Irak gefunden worden sind. Er suchte nach Hinweisen für altertümliche Hungersnöte und Missernten. Einige von ihnen kosteten Hunderttausenden von Menschen das Leben. Jim arbeitete für das Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention in Atlanta. Er war wirklich ein brillanter Kopf. Er verbrachte mehrere Jahre damit, die alten Sprachen zu studieren, um direkt mit den alten Quellen arbeiten zu können.«

      Selena nickte. »Das verstehe ich. Enthielten die Bilder denn eine bestimmte Nachricht?«

      »Nun ja, in der Tat. Es ist sehr seltsam. Jim sagte mir, dass er etwas auf die Spur gekommen sei. Er meinte, ich solle die Inschriften übersetzen lassen, dabei aber sehr vorsichtig sein.«

      »Wieso diese Warnung?«

      »Ich habe keine Ahnung. Deshalb habe ich dich ja, gleich nachdem ich die Nachricht


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