Die Ströme des Namenlos. Emma Waiblinger
niemand deine Socken geflickt und niemand dir Vergißmeinnicht aufs Grab gepflanzt, und warum hat dich keine lieb gehabt?
Ach du, ich möchte, du tätest noch leben, und ich könnte dich liebhaben und mehr für dich tun, als bloß meine Hand auf dein Grab legen!«
Es wuchs ein glühender Wille in mir, einmal für einen Menschen alles tun zu dürfen, was man überhaupt konnte. Einmal einen Menschen so lieb zu haben, daß es wäre wie ein mächtig wogender Strom, der mit fortreißt, was man hineinwirft, und bei dem man doch nicht anders mitkommt, als man springt hinein und gibt sich ganz, – und wenn man untergehen müßte.
Am liebsten von den Schwestern hatte ich die Margret. Sie war die Schönste und Vergnügteste und Stärkste von uns, dazu fast fünf Jahre älter als ich; so konnte sie mir wohl imponieren. Wir schliefen zusammen in einer Stube im Dachstock; und wenn ich mich näher auf jene Zeit besinne, so fällt mir ein Erlebnis ein, das eigentlich gar keines war und doch einen hellen Glanz auf mein damaliges Leben warf und der Ursprung von vielen schönen Abenden und Nächten meiner Kindheit war, da man sich im Dunkeln zärtlich an das Andere schmiegte, vor dem Einschlafen noch lange tuschelte und nach der scheuen und köstlichen Kinderart einander liebte.
Es war eine Nacht im Juni, schwül und voll Mondschein und so, wie sie den Vater zum hellen Wahnsinn bringen konnten. Am Abend zuvor hatte er uns auf dem Kirchhof herumtollen sehen; er geriet in Wut über unsere Fröhlichkeit, und in irgend einer unsinnigen Willkür verbot er uns, noch einmal hinüber zu gehen. Wir wußten traurig, daß man einem solchen Verbot, und sei es noch so unbegründet, die strengste Folge leisten mußte, hätte der Vater von da an eins von uns noch einmal auf dem Kirchhof gesehen, ich glaube, er hätte es umgebracht.
Margret, die heftiger und empfindsamer war als wir andern, hatte sich maßlos drüber aufgeregt; nun, da es Nacht war und wir des Vaters Toben und Fluchen durch die Stille bis zu uns herauf hörten, lag sie noch immer wach. Sie stampfte mit dem Fuß gegen ihre Bettstatt und murrte und stöhnte, wie es so ihre Art war, mit trockenen Augen vor sich hin. Ich war voller Angst, man könne sie unten hören und suchte ihr die Decke über den Kopf zu ziehen.
»Hast du schon gebetet, Margretle?« fragte ich, um sie zu beschwichtigen.
»Ich bete überhaupt nicht mehr.« Sie fuhr empor, saß aufrecht in ihrem Bett, und im Mondschein konnte ich erkennen, wie wild und böse ihr Gesicht aussah. »Du bist dumm, Agnes. Das Beten hat doch keinen Wert! Der liebe Gott ist überhaupt an allem Schuld. Er hat etwas in mich hinein getan, daß ich immerfort singen und lachen und vergnügt sein möchte, und er hätte mich sollen eine Geiß oder einen Vogel werden lassen, dann wäre es recht geworden. Und nun hat er mich so einem Vater gegeben, so einem, der einen totschlägt, wenn man bloß lacht und vergnügt ist. – Aeh – pfui – –!«
Sie verzerrte ihr Gesicht in einer wilden Grimasse, dann fiel sie wie müd in ihr Kissen zurück und sprach leise vor sich hin.
»Neulich, in der Schule, hat das Mariele Wildnagel erzählt, ihre Mutter habe den Fuß gebrochen und müsse im Bett liegen. Da sei ihr Vater zu ihr hingesessen, und wenn sie angefangen habe zu jammern, habe er so lang Spässe gemacht, bis sie wieder gelacht habe. Und dann habe er ihren kleinen Bruder versorgt und ihr die Zöpfe geflochten; darum sei sie heut so strubelig. – Guck, da ist in mir ein Heulen aufgestiegen, daß ich dir's nicht sagen kann! Aber ich hab nur wüst und roh hinaus gelacht, daß mich die Andern ganz dumm ansahen, und es hat mich doch fast verwürgt!«
Da sah ich, was ich noch nie gesehen hatte: die Margret weinte. Sie war ganz still, lag da mit weit offenen Augen und große Tränen liefen ihr übers Gesicht; und mein eigener Jammer ging unter in einem großen, großen Mitleid und einer heimlichen Freude. Es war mir ein Leuchten über die Augen gefahren; ich hatte durch Margrets Tränen in ihre Seele gesehen, die war tief und schön, und es war zum erstenmal in meinem Leben, daß ich einen Menschen lieb hatte, – ach, so richtig lieb! Jetzt war sie nimmer meine Schwester, daß heißt, mehr als eine solche, und wir hatten die eigentümliche Scheu, wie sie Geschwister fast immer vor einander haben, verloren. Sie war meine Freundin und meine Liebste; ich mußte zart und lieb zu ihr sein, wenn sie traurig war, ich durfte das Liebhaben geben und nehmen, und es war etwas Neues und Schönes in meinem Leben.
Margret weinte nun nimmer und lächelte mich an.
»Margretle! –« sagte ich leis.
»Ja.«
»Jetzt bin ich ganz nahe bei dir!«
»Ja.«
»Margretle, ich hör dein Herz schlagen!«
»Ich deins auch!«
»Du!«
»Du!«
Dann schliefen wir ganz fest zusammen ein.
Eine war in unserer Klasse, die bewunderte ich und wäre gern ihre Freundin gewesen. Sie hieß Elsbeth Gräther und hatte ein schönes, stilles Gesicht und lange, schwarze Zöpfe. Sie durfte aufpassen, wenn der Lehrer eine Weile hinausging, auch nach dem Diktat die Hefte einsammeln und am Donnerstag das Wochenbuch zum Rektor tragen. Es war gar keine Aussicht vorhanden für mich, ihr je einmal näher zu kommen; denn erstens war ich ärmlich angezogen, hatte ein trübseliges, farbloses Gesicht und dann saß ich in der Mitte und sie war die Erste. In der Vesperpause war immer ein Hofstaat von netten, wohlhabenden Mädchen um sie, die es nicht duldeten, wenn ich mitspielen wollte. Ich drückte mich dann scheu in eine Ecke und sah zu, wie die Zöpfe der Gräther hinter ihr drein flogen, wenn sie sprang, und wie sie manchmal ganz stolz und befehlend sich nach den andern umdrehte.
Es war einmal ein Schulspaziergang, und die Gräther trug ein weißes Kleid, aus dem ihr brauner Hals schlank und frei herauswuchs. Ich lief traurig hinter ihr drein; wir kamen durch den Wald an ein Wirtshaus, und die Mädchen drängten sich um den Schenktisch, um Limonade zu kaufen. Nur die Gräther und ich warteten außen; irgend eine Vornehmheit hielt sie davon ab, sich in das gierige Getue drin zu mischen, und ich hatte kein Geld.
Da war ich froh, sie einmal ohne Anhang zu finden und stand zu ihr hin und fragte sie, warum sie nicht hineinginge.
»Weil ich keinen Durst habe,« sagte sie und drehte sich um nach mir.
»Wie viel hast du gestern in deinem Aufsatz bekommen?«
»Recht gut!« sagte ich stolz. »Und du?«
»Gut. Hilft man dir zu Haus?«
»Nein,« sagte ich. »Aber meine Mutter könnte es schon. Sie ist sehr gescheit und kann auch französisch.«
Ich sah, wie die Gräther ein aufkeimendes Interesse für mich hatte, mein Herz schlug ganz schnell und ich wußte, die Gelegenheit dauerte nicht lange, dann kamen wieder die andern und verdrängten mich. Und ich prahlte mit den paar Worten französisch, die meine Mutter in dem Haus, wo sie gedient hatte, aufgeschnappt hat. Und ich log und wurde nicht einmal rot dabei, und log immer ärger, je mehr ich sah, daß die Gräther daraufhin nett zu mir war.
»Meine Mutter ist überhaupt Lehrerin gewesen, ehe sie meinen Vater geheiratet hat und ich werde auch Lehrerin, ich könnte alles grad so gut wie Aufsatz, wenn ich nur wollte!«
Die Gräther setzte sich auf eine Bank und ich mich neben sie und hatte eine elende Freude, sie so plötzlich gewonnen zu haben und schwätzte immerfort, bis die Emilie Maier, ihre Vertraute, gelaufen kam und sie von der Bank herunterzog, bei ihr einhakte und verwundert auf mich sah. Die Gräther aber schaute mich noch einmal freundlich an und sagte: »Morgen in der Freistunde kannst du an der unteren Treppe auf mich warten; du mußt mir dann noch mehr von dir sagen!«
Ich war so vergnügt und munter an jenem Nachmittag wie noch nie. Und am Abend rutschte ich ganz leis in Margret's Bett hinüber: »Du, Margretle, kennst du die Gräther in unserer Klasse?«
»Ja,« nickte sie. »Warum?«
»Sie hat heut ein weißes Kleid angehabt, und morgen lauf ich mit ihr in der Freistunde herum; dann weißt du's gleich, wenn du uns siehst!«
Am Morgen lief ich die Schultreppe hinauf, und wollte eben zum letzten Stufenabsatz umbiegen, da hörte ich