Die Ströme des Namenlos. Emma Waiblinger
in denen sie innerlich reifte und wuchs, wie wohl selten ein Mensch in späteren Jahren noch, da die Seele sich den Eindrücken der jeweiligen Zeiten nimmer so anpassen kann. Es war plötzlich eine innere Kraft in ihr, die sich noch stählte an all den ungeheuren Anforderungen, die ihr zugemutet waren.
Eine seltsame seelische Größe hob sie über sich selbst hinaus und hieß sie in schweren Stunden in einer plötzlichen Eingebung das Rechte tun. Sie muß sich in ihren leichtsinnigen Mädchenjahren, da sie umschwärmt und bewundert und geliebt wurde, einen guten, festen Stolz auf sich selber und eine unüberwindliche Lebensfreude erworben haben. Das und ein starker religiöser Halt halfen ihr, daß sie in allen Wettern und Nöten ihrer Ehe so steifnackig und jungfräulich stolz war und im Gemüt so unverwundbar gesund blieb.
Da aber nun die Anforderungen an meine Mutter ruhiger und kleiner wurden, ließ die Spannung ihrer Kräfte langsam nach; sie fand in ihrer Hausarbeit und Sorge für uns genügende Aufgaben und Pflichten, die ihre Gedanken vollauf beschäftigten. Ich habe nun zwar nicht den Eindruck, als wäre irgend etwas, das meine Mutter in den Kreis ihrer Pflichten aufgenommen hat, zu kurz gekommen, als hätten wir etwa zu wenig Liebe und Sorgfalt von ihr genossen; aber es ist mir so, als sei damals das Beste in ihr unverbraucht verdorrt und die göttlichen Quellen in ihr versiegt, da man ihrer nimmer bedurfte.
Und so war auch die prachtvolle, heitere Freundlichkeit von jenem Abend, die uns so froh und erwartungsvoll gemacht hatte, von kurzer Dauer und ging bei uns allen unter in einer stillen, unbehaglichen Zeit, da man sich mit dem guten Zustande noch nicht recht abfinden konnte.
Auch waren wir ja durch den Tod unseres Vaters bitter arm geworden, was uns manchmal nicht wenig niederdrückte. Nur mit allen vereinten Kräften konnten wir uns über Wasser halten. Meine Mutter kaufte eine Strickmaschine und wir Mädchen mußten helfen mit Maschenauffassen und Zusammennähen. In den Schulen bekamen wir Freistellen, und dem Greiner streckte jemand Geld vor zum Studieren, weil er so ein ordentlicher, gescheiter Kerl war.
Eine Zeitlang nach unseres Vaters Begräbnis ging meine Mutter daran, das Gelaß im Erdgeschoß, das ihm als Werkstatt gedient hatte, zu lüften und als Schlafstube für uns Kinder umzuräumen. Es war ein lichter, seliger Sommertag; das Gärtlein war in der Blüte; ein Baum mit frühen Birnen stand drin und das süße Obst hing reif und lockend in der Sonne; auf der Wiese blähten sich die roten Bettstücke, unsere Geiß sprang frei dazwischen umher und meckerte fröhlich in die Lüfte, dazu ging unaufhörlich ein weicher, säuselnder Wind, nicht warm, noch kühl, aber mit einer leise tönenden, seltsamen Schwingung und Bewegung. Es war uns allen ungemein wohl; pfeifend stand der Greiner am Brunnen und putzte die Fensterläden, indes wir Mädchen wie ein Schwarm Hummeln im Haus herumschafften; dazwischen ging lieb und lächelnd die Mutter ab und zu, sah nach dem Rechten und kochte Schwedenknöpfe zu Mittag.
Des Vaters Stube war, da er nie erlaubt hatte, daß man gründlich darin putze, elend muffig und verräuchert; um uns zu beweisen, wie schwarz die Decke sei, zeichnete Margret, die oben auf der Leiter stand, mit dem Zeigefinger einen Ring hinein; sodann zog sie quer durch noch eine Ellipse – da war es ein Saturn. Und weil es so hübsch aussah, geriet sie in Begeisterung, und unversehens war da an der Decke ein ganzes Himmelszelt mit Kometen und Sternbildern und Sonne und Mond in der Mitte, die Sonne rundlich und lachend, der Sichelmond aber dürr, spitzig und wütig, so daß der Hannes bemerkte, er sehe dem Vater gleich. Da fingen wir an zu lachen, Margret schrieb der Eltern Namen unter die beiden großen Himmelslichter, und da uns die Mutter den Spaß nicht verdorben hat, ist noch heutigen Tages in unserer unteren Stube das damals entworfene Firmament an der Decke zu sehen; und wenn eines von uns aus der Fremde heimkommt und wieder einmal eine Nacht in der alten Schlafstube liegt, freut es ihn unmäßig.
Merkwürdig, wie deutlich ich mich noch jenes sanft durchwehten Sommertages erinnern kann! Ich weiß sogar noch, daß wir eine Drahtseilbahn vom Dachstock herab errichteten, daran wir Betten, kleine Möbelstücke und sonstiges Geräte in die neue Stube herunterließen; unter infernalischem Jubelgeheul schwebte zum Schlusse in einsamer Größe der irdene Pottschamber nieder. Wir wurden immer wilder, und gegen Abend stiegen Lust und Geschrei und Uebermut derart, daß uns die Mutter zur Abkühlung ein Bad im Brunnen riet. Meine Geschwister waren flinker als ich; bis ich die Röcke und mein Hemdlein herunter hatte, saßen sie schon alle im Wasser, und es gab keinen Platz mehr für mich.
Es war aber an der Seite unseres Brunnens ein geräumiges, steinernes Tröglein, in das das Wasser ablief und aus dem die Hunde soffen, weshalb es bei uns der Hundsgumpen hieß, da setzte ich mich hinein. Das Wasser war wonnig kühl an meinem heißen Leib; hie und da lief von dem Toben der Geschwister der Brunnenrand über, und ein klarer Schwall flutete mir über Schultern und Rücken; das konnte ich mächtig gut leiden; ich hielt ganz still und wartete auf eine neue Woge. Dazu war der sonderbare Wind nun stärker geworden, und von einer ganz leisen, abendlichen Kühle; er strich mir weich und lauernd um die klopfenden Schläfen, reizte mich und machte mich seltsam erregt. Er wehte mich durch und durch; ich meinte, ihn in allen Gliedern wie ein wundersames Fieber zu spüren, das mir alle an diesem Tage erlebten Dinge in einem neuen, rätselhaften Lichte zeigte.
Erschrocken, erstaunt über mich selber saß ich da im Hundsgumpen, ließ mir das Wasser über den Leib laufen und rührte mich nicht; der Hannes schrie: »Mutter, 's Agnesle spinnt!« – und schickte mir eine neue Flut; doch störte es mich nicht. Es gärte und arbeitete in mir, ich hätte heulen und lachen und stöhnen mögen und spürte doch, daß das, was da mit einer mächtigen Kraft in mir durchbrechen wollte, damit nicht behoben wäre.
Die Sonne ging unter; im Dunkeln über dem Walde hing sehnsüchtig und traurig ein Stern; meine Geschwister jauchzten, bespritzten ihre weißen Leiber und hielten die Köpfe unter den Strahl. Vor dem Brunnen stand lächelnd meine Mutter, sie beugte sich über uns und murmelte etwas: »Kinderlein – o ihr!« und dann – es hat es aber niemand außer mir gesehen, – fiel ihr eine Träne in das Wasser.
Da kam mich ein wunderliches Sinnen an: Worte stiegen mir auf und Reime, und Sonnen und Sterne und Tränen gingen mir im Kopf herum, daß ich ihnen nimmer wehren konnte.
Und später in der Nacht, als wir in der neuen Himmelsstube lagen, hatte ich es fertig, und es war ein Gedicht und hieß so:
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