Im Schatten der Titanen. Braun Lily
sie hat mich, mit langen Unterbrechungen, oft angenehm beschäftigt und sollte eigentlich nur eine Art Einleitung, ein Faden sein, an den ich Erfahrungen und Ansichten reihen wollte ...
Die Beschäftigung mit den alten Manuskripten bildete ein neues Band zwischen uns. Ich bat oft um Erklärungen, die mir mündlich und schriftlich bereitwillig gegeben wurden, so daß nach und nach zu den alten Schriften viele neue hinzukamen, auch die Erinnerungen, die sie auf Anregung des Großherzogs Karl Alexander von Sachsen-Weimar, ihres treuen Freundes, noch in ihrer letzten Lebenszeit niedergeschrieben hatte.
Einst, als ich wenige Jahre vor ihrem Tode wieder einmal in ihrem stillen grünen Zimmer bei ihr saß, öffnete sie das wohlbekannte Fach ihres Schreibtisches, das in seiner vorderen Hälfte für mich immer eine Fundgrube wunderbarer Dinge gewesen war: Ringe aus Haaren, Broschen mit geheimnisvoll darin verschlossenen Bildchen, Gemmen und Steine, und andere Merkwürdigkeiten hatten zu meinem Lieblingsspielzeug gehört, um das sich tausend Träume schlangen; an einem Miniaturbilde aber, das die Mitte eines breiten goldenen Armreifens bildete, war mein Blick stets gebannt hängen geblieben: einen Mann in großer Uniform, mit klassisch regelmäßigen Zügen und dunklen, leuchtenden Augen stellte es dar. Jerome Napoleon war es, des großen Kaisers Bruder, jenes Kaisers, den Großmutters Erzählungen mir immer als einen Riesen der Vorzeit hatten erscheinen lassen — nicht als jenen bekannten Kleinkinderschreck aller guten Preußenkinder, sondern als eine schier übermenschliche Gestalt, deren Machtgebot eine Welt formte und beherrschte. Aus der hinteren Hälfte des Fachs, das alle diese Wunderdinge enthielt, zog Großmutter ein sorgfältig verschnürtes Paket hervor und gab es mir. "Bewahre es mit dem übrigen," sagte sie, "damit es, wenn ich sterbe, nicht vernichtet wird." Es enthielt Briefe des einstigen Königs von Westfalen an sie, die geliebte Tochter aus seinem heimlichen Liebesbund mit einer ihm immer unvergeßlichen Frau. Wohl hatte ich schon lange von Großmamas Herkunft reden hören, als Kind schon hatte man mich meines Ahnherrn wegen verhöhnt, und wenn ich an Eltern und Verwandte schüchterne Fragen nach ihm zu richten wagte, so wurden sie rot und schalten mich; ich wußte nie recht, ob ich stolz sein oder mich nicht vielmehr seiner schämen sollte. Seine Briefe erst lehrten mich ihn lieben.
Als Großmama gestorben war und ich ihre Erinnerungen der Öffentlichkeit übergeben durfte, war es selbstverständlich meine Absicht, ihrer Herkunft der Wahrheit gemäß zu gedenken. Aber die engere und die weitere Familie, in deren Mitte ich lebte, entrüstete sich nicht wenig über mein Vorhaben; sie sah ihre Ehre dadurch bedroht, die Stellung ihrer Mitglieder in Staat und Gesellschaft gefährdet. Und ich, der Bande des Bluts noch gleichbedeutend erschienen mit Banden des Geistes und Herzens, fürchtete, sie durch Widerspruch zu zerreißen, und gehorchte. Daß dieser Gehorsam der Familie gegenüber durch eine Lüge vor der Öffentlichkeit erkauft wurde, daran dachte niemand. Nur mich quälte sie, und in der Empfindung, daß eine Zeit kommen werde, in der ich mein Unrecht gutzumachen vermöchte, bewahrte ich sorgfältig die Briefe Jeromes und weigerte mich wiederholt, sie zu vernichten. Indem ich sie nunmehr der Lebensbeschreibung meiner Großmutter einfüge, glaube ich ihr gegenüber eine Pflicht zu erfüllen. Und noch mehr vielleicht bin ich ihrem Vater die Veröffentlichung schuldig: nicht nur, daß sie seines Blutes war, zeigt sich darin, sondern auch, daß er es wert gewesen ist, diese Tochter zu besitzen.
Sein Name hat in Deutschland keinen guten Klang: der widerlichste Klatsch, dessen Geifer zur Höhe eines Napoleon, auch als er ein gestürzter Riese war, nicht heraufreichte, hielt sich dafür an seinen Brüdern und Schwestern schadlos. Halb Wüstling — halb Schwachkopf — so lebt Jerome in der Tradition der Nachkommen jener Deutschen, die sich zu seinem Hofe drängten, die von seiner allzu freigebigen Hand Titel und Würden, Vermögen und Grundbesitz dankbar entgegennahmen. Seine Briefe an meine Großmutter haben mich veranlaßt, ihn selbst in seinen Memoiren und seinem Briefwechsel, seine Familie, seine Zeitgenossen und die objektive Geschichtschreibung zu Rate zu ziehen, um seine wahre Erscheinung dadurch kennen zu lernen. Nur sehr wenig sieht sie der traditionellen gleich. Das auch vor der Öffentlichkeit festzustellen, das Bild seiner Persönlichkeit zu reinigen von dem Schmutz, mit dem man es beworfen hat, es in seiner Güte und Liebenswürdigkeit, wie in seiner erschütternden Tragik auferstehen zu lassen — wurde mir zum Herzensbedürfnis. Und da es stets einer der schönsten Züge meiner Großmutter gewesen ist, der Verleumdung zu steuern, wo sie ihr begegnete, glaube ich um so mehr in ihrem Sinne zu handeln, wenn ich in diesem Buche der Schilderung ihres Vaters Raum gewähre.
Unklar mußte leider das Bild ihrer Mutter bleiben. Wie sie auf jedem ihrer Porträte eine andere ist, so ist auch ihr Wesen nicht festzuhalten. Die Geliebte Jeromes wurde als ein so dunkler Fleck in der Familiengeschichte betrachtet, daß man versuchte, ihn so sehr als möglich zu verwischen. Ihr letzter Brief an ihre Tochter ist das einzige persönliche Zeichen ihres Daseins, das mir erhalten blieb. Was sonst wohl vorhanden sein mag, schläft wahrscheinlich unter dem strengen Schutze der Prüderie in Rumpelkammern und Familienarchiven den Schlaf des Todes. Auch die anderen Briefe, die ich dem Buch neu einverleiben konnte, sind an Umfang geringer, als es unter anderen Umständen hätte sein können. Sehr vieles mag der Vernichtung anheimgefallen sein, und die verschlossenen Familienschreine und fürstlichen Hausarchive, wo sich z. B. die Briefe an die Kaiserin Augusta, an die Herzogin von Orleans, an den Großherzog Karl Alexander und an andere finden dürften, öffnen sich mir nicht mehr. Wo es geschah — was ich nicht unterlassen will, dankbar zu erwähnen —, wie im Goethe-Schiller-Archiv und im Familienarchiv der Bonapartes, hat sich nichts gefunden.
Für eine Zeit, wie die unsere, die ihrer selbst in all ihrer verständigen Nüchternheit überdrüssig wurde, ist es charakteristisch, daß sie der Vergangenheit nachspürt, verborgene Schätze wieder ans Licht befördert, Toten neues Leben einflößt und ewig lebendige, die für sie lange verschollen waren, wieder auf sich wirken läßt. Viele sehen nichts anderes darin als ein Zeichen der Dekadenz, des Absterbens, weil es an alte Menschen erinnert, die mit steigenden Jahren immer mehr in der Erinnerung leben. Mir scheint, daß es vielmehr ein Zeichen neuen, werdenden Lebens ist, dem freilich, wie immer im Herbst, ein Absterben des alten vorangehen muß. Denn Sehnsucht drückt sich aus darin, und Sehnsucht ist immer etwas Junges, dem Erfüllung folgen muß. Diese Sehnsucht aber möchte dieses Buch nähren.
Aus Bonapartes Stamm
Jerome Napoleon
Wo alte Linden ihre Kronen breit und stolz gen Himmel wölben, ihre weit ausladenden Äste nach allen Richtungen auseinanderstrecken, da hat nicht nur die innere Lebenskraft sie zu so vollkommener Entwicklung befähigt, da hat die Natur ihnen auch den freien Raum gewährt, der solches Wachsen ermöglicht. Ihre jüngeren Geschwister und ihre Nachkommen erreichen niemals die Höhe und Stärke der Großen über ihnen: sie genießen ihres Schutzes, sie atmen dieselbe Luft; der Blütenreichtum, den der Sturm abweht von denen da droben, fällt duftend auf ihre jungen Häupter, aber mit ihrem vollen Strahlenkranz krönt sie die Sonne nicht — im Dämmer stehen sie, im Schatten der Titanen. Und das Zeichen ihres Lebens im Schatten verlieren die Epigonen nie ...
Am 9. November des Jahres 1784, einem rauhen Spätherbsttage, brachte Lätitia Bonaparte das letzte ihrer zwölf Kinder zur Welt: Jerome. Fünfzehn Jahre früher, als die Hochsommersonne über Ajaccio brannte und Herz und Geist der blühend schönen jungen Frau erfüllt war von den Kämpfen um Korsikas Freiheit, die sie, hoch zu Roß, ihrem Gatten zur Seite, das schlummernde Leben in ihrem Schoß, mitgekämpft hatte, war ihr zweiter Sohn geboren worden: Napoleon. Ihn trieb der strenge Vater und das rauhe Schicksal früh aus dem Schutz des Elternhauses; arm und unbekannt mußte er sich schon als Knabe aus eigener Kraft die Stellung schaffen. Anders Jerome. Sein Vater starb, als er ein Jahr alt war; seine Mutter, seine Geschwister, allen voran der ernste Bruder, der, als sei es selbstverständlich, an Stelle des Oberhauptes trat, umgaben das reizende Kind mit den zierlichen Gliedern und den großen lachenden Augen mit zärtlicher Liebe. Bis zu seinem dreizehnten Jahre blieb es bei der Mutter, während schon der Stern Napoleons immer leuchtender aufging