Im Schatten der Titanen. Braun Lily

Im Schatten der Titanen - Braun Lily


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auf die Vorhaltungen des nach Paris entsandten Ministers von Bülow nur die eine Antwort: "Ich nehme es, weil ich es brauche." Jerome berief seine Minister und diktierte eine Note, durch die er in schärfster Form als Entschädigung für Hannover Lippe, Anhalt, Waldeck, Schwarzburg und die sächsischen Herzogtümer verlangte. Reinhard gegenüber sprach er wieder von seiner Abdankung, die mehr und mehr ein Gebot der Ehre für ihn sei. Der kaiserliche Gesandte berichtete unverzüglich über diese Unterredung nach Paris und fügte hinzu: "Wenn jemals der König mir Gelegenheit gegeben hat, die Geradheit und Sicherheit seines Geistes zu bewundern und der Vornehmheit seiner Gesinnung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so war es bei dieser Gelegenheit."[29] "Ich glaube, hätte Jerome eine Armee von 300000 Mann, er würde mir den Krieg erklären!" rief Napoleon beim Empfang dieser Nachrichten.[30]

      Aber so groß auch Jeromes Entrüstung, so tief sein Stolz auch verletzt war — eine Empfindung behielt zuletzt bei ihm immer die Oberhand: die Bewunderung und Ehrfurcht vor der Größe seines Bruders. Mitten im härtesten Winter nach der Zurücknahme von Hannover zog er sich, um seinen Schmerz in der Stille zu überwinden, auf das Land zurück und schrieb von da aus an den Kaiser: "Entspricht es Ew. Majestät politischen Absichten, Westfalen mit dem Kaiserreiche zu vereinigen, so habe ich nur den einen Wunsch, davon sofort in Kenntnis gesetzt zu werden, um nicht in die Lage zu kommen, deren Maßnahmen, trotz des besten Willens, mich ihnen stets anzupassen, fortwährend zu durchkreuzen ... Ich bin aller Opfer, aller Beweise meiner Anhänglichkeit fähig, wenn Ew. Majestät es verlangt. Soll ich aber weiter regieren, so kann es nur unter Bedingungen sein, die mich nicht entwürdigen."[31] Die Antwort war — Mahnungen zur Kriegsbereitschaft, zu neuen Aushebungen, zum Unterhalt neuer französischer Truppendurchzüge. Mit einer Rücksichtslosigkeit, die alles Vorhergegangene übertraf, führte der Marschall Davout, Jeromes alter Feind, seine Armee durch Westfalen; in Kassel einziehend, ignorierte er den König, im ganzen Reiche hausten seine Soldaten wie in Feindesland. Und Napoleon schien blind und taub zu sein für das drohende Schicksal, das sich langsam vorbereitete, für die zähneknirschende Wut, die die Faust noch in der Tasche ballte, aber schon heimlich nach offenen Waffen Umschau hielt. Jerome sah das Unheil wachsen, und als einziger vielleicht, der es damals wagte, dem Imperator mit einer selbständigen Meinung gegenüberzutreten, schrieb er ihm am 5. Dezember 1811 folgenden denkwürdigen Brief:[32]

      "In einer Lage, die mich zum äußersten Vorposten Frankreichs macht, durch Neigung und Pflicht dazu getrieben, alles zu beobachten, was sich auf Ew. Majestät Interessen beziehen kann, ist es, denke ich, richtig und notwendig, Sie mit aller Offenheit über das zu informieren, was in meiner Nähe vor sich geht. Ich beurteile die Ereignisse vollkommen ruhig; ich sehe der Gefahr entgegen, ohne sie zu fürchten; aber ich muß Ew. Majestät die Wahrheit sagen, und ich hoffe, Sie vertrauen mir genug, um sich auf meine Art, die Dinge zu sehen, verlassen zu können.

      Ich weiß nicht, wie Ihre Generäle und Ihre Agenten Ihnen die jetzige Situation in Deutschland darstellen; wenn sie Ihnen von Unterwerfung, von Ruhe und Schwäche sprechen, so werden Sie von ihnen getäuscht und betrogen. Die Gärung ist aufs höchste gestiegen; die verwegensten Hoffnungen werden unterhalten und mit Begeisterung großgezogen; man hält sich an das Beispiel Spaniens, und wenn der Krieg ausbrechen sollte, so wird das ganze Land vom Rhein bis zur Oder der Herd einer ausgedehnten und tatkräftigen Empörung sein.

      Die Hauptursache dieser gefährlichen Bewegungen ist nicht allein der Haß gegen die Franzosen und der Unwille gegen das Joch der Fremdherrschaft, sie liegt noch weit mehr in den unglücklichen Zeiten, in dem gänzlichen Ruin aller Klassen, in dem übermäßigen Druck, den die Abgaben, die Kriegskontributionen, der Unterhalt der Truppen, die Durchzüge der Soldaten und die unausgesetzt sich wiederholenden Belästigungen aller Art ausüben. Es sind Ausbrüche der Verzweiflung von den Völkern zu besorgen, die nichts mehr zu verlieren haben, weil man ihnen alles genommen hat.

      Es ist nicht nur in Westfalen und in den Frankreich unterstellten Ländern, daß die Feuersbrunst ausbrechen wird, sondern auch in den Ländern aller Souveräne des Rheinbunds. Sie selbst werden die ersten von ihren Untertanen Unterworfenen sein, wenn sie nicht mit ihnen gemeinsame Sache machen ...

      Ew. Majestät braucht nicht anzunehmen, daß ich übertreibe, indem ich Ihnen das Unglück des Volkes schildere; ich kann Ihnen sagen, daß in Hannover, in Magdeburg und anderen wichtigen Städten meines Königreiches die Besitzer ihre Häuser im Stiche lassen und vergebens versuchen, sie zu den niedrigsten Preisen loszuwerden. Überall droht das Elend den Familien; der Aristokrat, der Bürger und der Bauer, überlastet mit Schulden, scheinen keine andere Hilfe mehr zu erwarten, als von einem Befreiungsfeldzug, den sie mit all ihren Wünschen herbeisehnen, auf den sie alle Gedanken richten.

      Dieses Bild entspricht in all seinen Einzelheiten den Tatsachen. Von den Hunderten von Berichten, die mir täglich zukommen, widerspricht ihm keiner. Ich wiederhole es Ew. Majestät: ich wünsche nichts so sehr, als daß Sie angesichts dieser Tatsachen die Augen öffnen und mit all der Überlegenheit Ihres Geistes urteilen mögen, um danach die Ihnen richtig erscheinenden Maßnahmen zu treffen ..."

      Selbst wenn der Inhalt dieses Briefes von Eindruck gewesen ist, — er kam zu spät, der unheilvolle Krieg gegen Rußland, wo Feuer und Frost sich vereinigten, um, weil Menschenkraft der großen Armee nichts anzuhaben vermochte, zum vernichtenden Feinde zu werden —, war schon beschlossen, und als einzige Antwort brachte der Kurier des Kaisers die mit eigener Hand in größter Eile hingeworfene Frage nach dem Stande der verfügbaren Streitkräfte Westfalens.[33] Wenige Monate später rückte Jerome an der Spitze seiner Truppen in Polen ein. Er war bestimmt, den rechten Flügel der Armee zu kommandieren und sich dem Heere des Prinzen Bagration gegenüberzustellen. Nach mühseligen Märschen im Regen und im Sumpf gönnte Jerome in Grodno seinen Truppen drei Ruhetage. Dem Kaiser wurde davon Meldung gemacht. Er sah eine Eigenmächtigkeit des Bruders darin, die seine sorgfältig erwogenen Pläne durchkreuzte, und befahl dem Marschall Davout, sobald seine Armee mit der Jeromes zusammenstieße, den Oberbefehl über beide zu übernehmen. Davout nahm die Gelegenheit wahr, in schroffster Form dem Befehl Folge zu leisten. Jerome reichte sein Entlassungsgesuch ein und verließ Polen noch am gleichen Tage. Nicht das Verlangen nach den Vergnügungen Kassels, — wenig verlockend mögen sie in dieser Zeit dumpfer Gewitterschwüle gewesen sein! —, trieb ihn zu diesem raschen Entschluß: sein tief verletzter Stolz allein hieß ihn handeln.[34] Und sein Entschluß war berechtigt; starrköpfig und falsch wurde seine Handlungsweise erst, als Napoleon ihn zu bleiben bat und er dennoch den Weg heimwärts fortsetzte. Im August kam er in Kassel an, zwei Monate später kehrten die traurigen Reste der westfälischen Armee in die Heimat zurück, durchzogen die jammervollen, von Frost und Hunger, Krankheit und Verwundungen gezeichneten Gestalten, die letzten Glieder der großen Armee, plündernd, stehlend und bettelnd das erschöpfte Land. Und schon wurden von Paris neue Forderungen laut: Magdeburg sollte mit 20000 Mann besetzt und auf ein Jahr verproviantiert werden, eine neue Armee galt es zu schaffen, ohne Aufenthalt Bataillone und Eskadronen formieren![35] Jerome wußte es: das war das Ende, und entrüstet wandte er sich an Reinhard, der ihn zur Eile in der Erfüllung der kaiserlichen Befehle nötigen wollte. "Wenn Westfalen dem Elend erliegen wird," rief er aus, "und die Einwohner sich lieber eine Kugel vor den Kopf schießen, als daß sie ihr letztes Stück Brot opfern, dann wird man Ihnen vorwerfen, daß Sie die wahre Lage verschwiegen haben. Ihre Pflicht wäre es, die Wahrheit zu sagen, selbst auf die Gefahr hin, in Ungnade zu fallen. Nach drei Monaten würde man Ihnen recht geben."[36] Sein Appell blieb ohne Erfolg. Und nun rüstete er sich mit vollem Bewußtsein zum Ende seines Königsdramas, das viele töricht — oder verlogen — genug waren, für eine fröhliche Operette zu erklären.

      Zunächst brachte er die Königin in Sicherheit: er sandte sie am 10. März 1813 mit einigen Damen ihres Hofes nach Paris, sie rücksichtsvoll in dem Glauben lassend, daß es sich nur um eine kurze Abwesenheit handeln würde. Nachdem ihm dann der Kaiser seine dringende Bitte, sich in Magdeburg, dem wichtigsten und am meisten gefährdeten Punkt seiner Monarchie, mit seinen Truppen einschließen zu dürfen, rundweg abgeschlagen hatte,[37] wandte er all seine Zeit und Kraft auf die Ausbildung der jungen Rekruten, ohne den Forderungen des Kaisers rasch genug nachkommen zu können. Infanterie, Artillerie, Husaren, Kürassiere — lauter blutjunge Westfalen, die, wie Jerome einmal in der Verzweiflung ausrief, sich oft noch vor dem eigenen Gewehr fürchteten und auf dem Pferde nicht festsaßen, — sollten


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