Im Schatten der Titanen. Braun Lily
empfindlicher, die von Frankreich versprochene finanzielle Unterstützung für die Equipierung der neuen Truppen blieb aus, und die Armeelieferanten wollten nur noch gegen sofortige Bezahlung liefern. Jerome verkaufte die Staatswagen, den größten Teil seines Marstalls, Silber und Kleinodien, um sie in Waffen und Uniformen zu wandeln.[38]
Noch einmal bat er den Kaiser bei einer persönlichen Begegnung in Dresden um einen Posten in dem großen Kampf, der bevorstand. Napoleon bot ihm, den er selbst zum König gemacht hatte, eine untergeordnete Stellung als Untergebener eines seiner Marschälle an. Jerome, in der bitteren Erinnerung an die noch nicht vernarbte Wunde, die ihm in Polen geschlagen worden war, lehnte ab. Aber mochte auch der Kaiser ihn an seiner verwundbarsten Stelle, seinem Stolze, treffen, seine persönlichen Dienste geringschätzen, — der Napoleonischen Sache, die auch die seine war, blieb sein Denken und Tun geweiht. Mit ruhigem Ernst, fast mit Heiterkeit, hinter der selbst seine Freunde die Überzeugung des Königs von der Unabänderlichkeit des kommenden Untergangs nicht zu ahnen vermochten, widmete er sich weiter der Reorganisation der Truppen und sandte sie immer wieder zur Armee, sobald ihre Ausbildung es ermöglichte. Nicht er, der wissen mußte, daß die Entblößung der Hauptstadt von allen Verteidigungsmitteln der Preisgabe seiner Person gleichkam, sondern Reinhard war es schließlich, der von der kaiserlichen Armee die Deckung Kassels gegen die Scharen der immer näher anrückenden Kosaken forderte. Umsonst! Die Angst der Bewohner wuchs zusehends, nur Jerome blieb ruhig. Im Morgengrauen des 28. September waren die Russen vor den Toren. Die in der Nacht und am Abend vorher unter des Königs Augen aufgeführten Barrikaden, von den Königshusaren verteidigt, an deren Spitze der vierundachtzigjährige General von Schlieffen focht wie ein Rekrut, waren von der russischen Artillerie bald überwunden. Der Ministerrat trat zusammen: er überwand schließlich den Widerstand des Königs und vermochte ihn dazu, die Stadt zu verlassen, um sich mit den bereits angekündigten Hilfstruppen der kaiserlichen Armee zu vereinigen. Seine erste Empfindung hatte ihm den richtigen Weg gezeigt: die Stadt zu verteidigen bis zum letzten Blutstropfen, zu fallen eher als davonzugehen oder sich zu ergeben; daß er ihr nicht folgte, — wer will ihn darum richten? Die Hoffnung ist eine starke, lebenerhaltende Kraft, bei einem Mann von 29 Jahren vor allem. Zu bleiben bedeutete für ihn gewissen Tod oder Schlimmeres: russische Gefangenschaft. Und Größere als er haben zur rechten Zeit zu sterben nicht verstanden!
Am Nachmittage desselben Tages kapitulierte Kassel vor Czernischeff. Fünf Tage später verließen die Russen die Stadt. Und nach zwei weiteren Tagen erschienen zum Erstaunen aller die ersten königlichen Truppen wieder. Jerome folgte ihnen von Koblenz aus. Aber in jeder Stunde, die ihn Kassel näher führte, schien sich der Himmel mehr zu verdüstern: Bayern hatte sich vom Kaiser losgesagt, Württemberg schloß sich unter der Führung von Jeromes Schwiegervater seinen Feinden an, Bremen hatte kapituliert, in Scharen desertierten die Soldaten, um sich den Gegnern anzuschließen, und vom Kaiser selbst keine Nachricht! Trotz alledem trieb es Jerome nach Kassel zurück, — niemand wußte, warum. Am Abend des 16. Oktober traf er ein; zwei Tage darauf folgte dem Kaisertraum der Bonapartes das furchtbare Erwachen der Leipziger Schlacht. Bis zum Abend des 24. Oktober drangen nur dunkle Gerüchte von dem, was geschehen war, in die Stadt, bis sich die Masse der Alliierten langsam heranwälzte. Wo ist der Kaiser? Diese eine Frage peinigte Jerome unausgesetzt. Hilfe dem Kaiser! Dieser Gedanke beherrschte ihn schließlich allein. Alle, die die Treue noch hielten, — es waren angesichts der wachsenden Desertion wenig genug —, ihm zuführen: dieser Wunsch wurde zum Entschluß. Mit einer kleinen, von allen Seiten zusammengezogenen Armee von 5000 bis 6000 Mann erreichte er Köln, ein anderer Truppenteil von demselben Umfang befand sich in Wesel. Nun, da er, ein König ohne Land und Krone, dem besiegten Kaiser gegenüberstand, hoffte er endlich als einfacher französischer General seine unter so schweren Opfern geschaffene und zusammengehaltene Armee in den Entscheidungskampf führen zu dürfen. Über seinen Kopf hinweg wurde dem Herzog von Tarent der Oberbefehl übergeben. So war er verurteilt, er, der treueste der Brüder, abseits zu stehen, als die letzten Kämpfe geschlagen wurden.
Napoleons Abdankung und der Einzug der Bourbonen machten auch Jerome zum Heimatlosen, Landesflüchtigen. Nachdem sein Schwiegervater, der König von Napoleons Gnaden, ihn in Württemberg, wo Katharina im Hause der Eltern Zuflucht glaubte finden zu können, zum Gefangenen gemacht, ihn unausgesetzt auf das ehrenrührigste behandelt hatte und seine tapfere treue Frau mit allen Mitteln der Überredung und der Drohung hatte bewegen wollen,[39] sich von ihm zu trennen, wurde ihm schließlich mit Weib und Kind, das ihm Katharina in der Zeit der tiefsten Erniedrigung geboren hatte, von jenem politischen Rechenkünstler Metternich, der in dem letzten Trauerspiel der Napoleoniden die Stelle des Mephisto spielen sollte, Triest als Aufenthaltsort angewiesen. Er wurde bewacht wie ein Gefangener; trotzdem erreichte ihn die Nachricht von Napoleons Flucht aus Elba, seinem Triumphzug durch Frankreich, und es gelang ihm, aller Bewachung und aller Gefahr zum Trotz, nach Frankreich zu entkommen, der erste und der einzige der Brüder des Kaisers, der sich zu seiner Fahne meldete. Mit dem Kommando einer Division belohnte ihn Napoleon, die bei Belle-Alliance den äußersten linken Flügel der Armee bildete, und aus deren Reihen die ersten Schüsse fielen, das Signal zur furchtbaren Schlacht. Gegen den Wald und das Schloß von Hougoumont stürzte Jerome tollkühn mit den Seinen, und überall, wo das Gewühl am dichtesten war, wehte sein weißer Mantel.[40] Als es zu Ende ging, blieb er in nächster Nähe Napoleons. "Zu spät, mein Bruder, hab' ich dich erkannt," soll der Kaiser im Augenblick, da sein Stern auf immer verlöschte, zu ihm gesagt haben.[41] Die Sage meldet, daß sie beide der erlösenden Kugel warteten. Wer aber zu so schwindelnder Höhe stieg, muß bis zum tiefsten Abgrund niedersteigen: zu Tausenden fielen die alten Krieger um sie her, ihnen aber war bestimmt, Schlimmeres zu ertragen als den Tod: die Verlassenheit.
Jeromes Leben war von da an, wie das aller Bonapartes, ein unstetes Wanderleben, unter ständigen, quälenden Sorgen. Wo er hinkam, war er ein Gefangener, von den Kreaturen Metternichs bewacht, der ihn in einem Bericht an die deutschen Souveräne für "einen der gefährlichsten und unruhigsten Köpfe der Bonaparteschen Familie" erklärte, und auf dessen Veranlassung die Mächte den Vertrag von Fontainebleau, durch den die Bourbonen verpflichtet worden waren, den Mitgliedern der Familie Bonaparte bestimmte Revenuen zukommen zu lassen, umstießen, weil es zu gefährlich sei, "den verwegensten der kaiserlichen Brüder, Jerome, mit Geldmitteln zu versehen."[42] Erst als der einsame gefesselte Adler auf fernem Felsen die große Seele ausgehaucht hatte, als sein junger Sohn der langsamen österreichischen Seelenvergiftung erlegen war und die Überreste des Welteroberers in der Erde des Landes ruhten, das sein Geist und sein Schwert zwei Jahrzehnte lang zum ruhmreichsten der Erde gemacht hatte — erst dann war es dem alternden Jerome, dem letzten der großen Napoleoniden, vergönnt, in Frankreich auszuleben. Zum Gouverneur der Invaliden ernannt, hütete er den toten Bruder, wie er dem lebenden gedient hatte, und starb, ein Greis, im Schatten des Titanen, unter dem sein Leben verflossen war.
Ist das das Bild des "Königs Lustik", das uns von allen Moralpredigern und guten Patrioten von klein auf als abschreckendes Beispiel verderblicher Sündhaftigkeit vor Augen geführt wurde? Haben in diesem Leben, vor allem in den sechs Jahren des westfälischen Königtums, von denen ein Jahr immer reicher war an Kämpfen nach innen und außen als das andere, alle jene schwülen Geschichten Platz, die die lange Regierungszeit eines Ludwig XV. kaum ausfüllen könnten? Es scheint, daß der Bruder des Mannes, den der Ruhm zu den Größten der Erde erhob, ein Opfer der historischen Legende werden mußte, weil Haß und Neid nicht emporreichte bis zu Napoleon selbst; die Ehre, den Namen dieses Halbgottes zu tragen, mußte er mit Verfolgung und Verbannung bezahlen.
Jerome war ein lebensfroher Mensch, mit einem empfänglichen, leicht zu entflammenden Herzen; der antike Schönheitskultus von Florenz, der Stadt seiner Ahnen, schien vor allem in ihm wieder lebendig geworden zu sein. In seiner Freigebigkeit kannte er keine Grenzen, und Freude zu bereiten, war für ihn die größte Freude. Seine erste Jugend, seine ganze Erziehung, in der die Frage nach dem materiellen Wert der Dinge nie eine Rolle spielte, unterstützten die Entwicklung dieser Seiten seines Wesens. Er war ein grandseigneur, — es gibt keine deutsche Bezeichnung dafür. Mit dem Maßstab des Kleinbürgers gemessen, war er ein Verschwender. Daß er es in einem anderen Sinne nicht sein konnte, dafür zeugt die finanzielle Lage seines Königreichs, der ständige Kampf mit den durch die Forderungen der Napoleonischen Politik entstehenden großen pekuniären Schwierigkeiten. Gewiß: sein Hof, der eines jungen strahlenden Fürsten,