Im Schatten der Titanen. Braun Lily
schrieb Reinhard nach Paris: "Die Gräfin Pappenheim ist zurückgekehrt und wohnt gegenüber dem Schloß in der Wohnung, die der Oberhofmarschall zuletzt innegehabt hat. Ihr Mann ist noch immer in Paris in der Behandlung des Dr. Pinel."[61] Kurze Zeit später zog ein stiller Gast in Stammen ein, und zwei Jahre noch blickten die armen, blöden Augen über die Fluren seiner Väter hinaus, die er so sehr geliebt hatte. Diana besuchte ihn zuweilen, er kannte sie nicht mehr.
Die drohenden Gewitterwolken, die sich um das Schicksal ihres Geliebten zusammenzogen, vor denen so manche, die ihn in Tagen des Glücks umschmeichelt hatten, feige entflohen, fesselten sie nur noch mehr an seine Seite, gaben ihrer Liebe die Weihe gemeinsam getragenen Leids. Und ein Kind von ihm trug sie wieder unter dem Herzen, ein Kind, das vor der Welt keinen Vater haben würde. Sie prunkte nicht mit ihrer Liebe, denn nicht Glanz und Einfluß verlangte sie von ihm, und der König war weit davon entfernt, sich wie ein prahlerischer Roué vor der Welt mit der schönen Geliebten zeigen zu wollen. Darum legte sich schützend der Schleier des Geheimnisses um sie, darum enthalten selbst die späteren Skandalgeschichten kein Wort von Diana von Pappenheim.
Ihre Entbindung stand nahe bevor, als die Russen in Kassel einzogen. Die Angst um sie, die den König folterte, trieb ihn noch einmal nach Kassel zurück zu jenem kurzen Aufenthalt, den niemand begriff und den seine Feinde dahin deuteten, daß er im Schloß verwahrte Reichtümer noch heimlich habe entfernen wollen. Er hatte noch gerade Zeit, die Geliebte in Schönfeld in Sicherheit zu bringen, dann war mit dem Königstraum der Liebestraum vorbei, und niemals sahen sie sich wieder!
In der Zelle des stillen Pariser Klosters Notre-Dame des Oiseaux saß ein Vierteljahrhundert später eine junge Nonne am Schreibtisch und schrieb einer fernen, unbekannten deutschen Schwester diese Zeilen:
"... Und nun, meine liebe Jenny, will ich die Zweifel zerstreuen, die Deine Gedanken zuweilen bewegen, denn mehr als einmal habe ich, meine geliebte Schwester, mit Madame Duperré von Deiner und meiner Geburt gesprochen. Sie war, wie Du ganz richtig sagst, die intimste Vertraute unseres Engels von Mutter, ihr übergab mich Mama im Augenblick meiner Geburt. Damals, 1813, brachte der König, — genötigt, sein Reich zu verlassen —, noch die geliebte hochschwangere Frau nach dem Schlosse Schönfeld, wo ich geboren wurde und dessen Namen ich trug. Da Mama genötigt war, in Deutschland zu bleiben, und mich nicht mit sich nehmen konnte, denn Herr von Pappenheim war schon seit langem wahnsinnig und von ihr getrennt, vertraute sie mich ihrer besten Freundin an, nachdem sie ihren Schmuck und alle ihre Wertsachen verkauft hatte, um meine Existenz sicherzustellen. In der Verzweiflung dieser Stunden, wo sie glaubte, als Buße für ihre Sünden alle Bande zwischen sich und dem König zerreißen zu müssen, folgte sie dem Rate der Freundin und teilte ihm mit, ich sei gestorben. Madame Duperré sagte mir, daß sie in ihrem ganzen Leben nichts so bitter bereut habe, wie diesen Rat, den sie erteilte, denn des Königs damals tiefverwundetes Herz litt nicht nur sehr unter der Nachricht, es wäre für ihn eine Freude gewesen, für mich sorgen zu können. Bei Dir lagen die Verhältnisse anders. Du wurdest geboren, als unser Vater noch regierte und Mama und Herr von Pappenheim formell zusammenlebten. Das ermöglichte Deine scheinbare Legitimität; der ganze Hof jedoch wußte, daß Du des Königs Tochter seiest, und die Natur selbst schien es beweisen zu wollen, indem sie Dich schon als kleines Kind zu Deines Vaters genauem Ebenbild formte. Aber auch Mama hat es wiederholt Madame Duperré versichert, und als ich mit unserem Vater, der sich inzwischen überzeugen konnte, daß ich nicht gestorben und nicht mit Dir identisch bin, das erstemal zusammenkam, sprach er mir sofort von Dir und erzählte mir alles genau so, wie Madame Duperré es mir schon tausendmal wiederholt hatte. Wir beide sind die einzigen Kinder aus dem Liebesbund zwischen unserer Mutter und dem König. Gottfried und Alfred sind nicht unsere rechten Brüder, denn der eine war schon geboren, als die Pappenheims an den Hof kamen, und den anderen trug sie gerade unter dem Herzen. Ich verstehe vollkommen, meine geliebte Schwester, daß die Rücksicht auf das Andenken Deiner Mutter und die Wohlfahrt Deiner Kinder Dich dazu bestimmen, Deine Beziehungen zu Papa vor ihnen zu verschleiern. Mein und sein Wunsch beschränken sich darauf, daß Du Deinem Herzen freien Lauf läßst, Deinem Vater all die Liebe entgegenbringst, die er verdient und die unsere verklärte Mutter für ihn von uns fordert.
Immer wieder hat sie in ihrem Briefwechsel mit mir von unserer Herkunft erzählt und mir das Versprechen abgenommen, Dir nichts davon zu sagen. 'Im Augenblick aber,' so schrieb sie mir, 'wo die Verhältnisse Dir eine Begegnung mit Deinem Vater gestatten werden, was so lange unmöglich ist, als er im Exil lebt, und wo er Dir von Deiner Schwester spricht, soll es Deine erste Aufgabe sein, Jenny aufzuklären und sie in meinem Namen zu bitten, all die Liebe und Zärtlichkeit, die ein Kind seinem Vater schuldig ist, ihm entgegenzubringen und ihn nicht des Glückes zu berauben, der Zuneigung seiner Tochter sicher sein zu dürfen.' Dieser Brief, liebste Schwester, aus dem ich Dir diese Zeilen abschreibe, ist der einzige, den ich noch von unserer Mutter besitze, — auf ihren Wunsch mußte ich ihre Briefe vernichten —, aber dieser eine genügt auch, um alle Deine Zweifel zu beseitigen. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hat, will ich auch ihn verbrennen. In diesen stürmischen Zeiten wissen wir niemals, was geschehen kann. Gerade uns Klosterschwestern kann die Revolution gefährlich werden, und ich will nicht, daß irgend etwas von unserem Engel von Mutter in Hände fallen soll, die es entweihen. Schweren Herzens trenne ich mich von dieser letzten Reliquie, aber dem Andenken und der Liebe zu unserer Mutter muß ich dies Opfer bringen ...
Papa verläßt mich soeben, er trägt mir alles Zärtliche an Dich auf. Wie sehnt er sich danach, Dich zu umarmen, aber da es in diesen Zeiten nicht möglich ist, mußt Du ihn und mich dadurch entschädigen und unsere Trennung erträglich machen, daß Du recht oft schreibst. Je näher ich unseren Vater kenne, desto mehr liebe und verehre ich ihn. Ich versichere Dich, meine liebe Jenny, man hat viel Böses von ihm erzählt, dessen er nie fähig gewesen ist. Viel ist in seinem Namen geschehen, wovon sein gütiges Herz nichts wußte, und Neid und Haß, die dem Glück wie der Größe auf den Spuren folgen, haben sein Bild beschmutzt und verzerrt. Wir haben die Aufgabe, ihn durch unsere Liebe viel unverdientes Leid vergessen zu machen ...
Deine Schwester Pauline."
Das Leben hatte das Haar des Vaters bleichen, der Tod die schönen Augen der Mutter schließen müssen, ehe Jenny erfuhr, von wessen Blut sie war, und daß hinter Pariser Klostermauern ihr noch eine Schwester lebte.
In der Familie wußte jeder, daß diese Frau mit den napoleonischen Zügen eine fremde Blume war, nicht dem friedlichen Hausgärtchen deutscher Familiensippe entsprossen. Ihr selbst war es ein nur dunkel geahntes Geheimnis geblieben. Auf welche Weise sie es erfuhr, weiß ich nicht, denn die ersten Briefe der Nonne, ihrer Schwester, an sie, befanden sich nicht in dem mir übergebenen Paket. Es enthielt nur die folgende kleine Auswahl aus der während vieler Jahre bis zu Jeromes Tode im Jahre 1861 und bis zu dem der Nonne in den achtziger Jahren lebhaft geführten Korrespondenz, die bloß durch wiederholten Aufenthalt meiner Großmutter in Paris unterbrochen wurde. Die Briefe bedürfen keines Kommentars. Nur tote Blätter sind es, und die sie schrieben, schlafen schon lange den ewigen Schlaf, aber die Liebe, die in ihnen atmet, füllt sie mit warmem Blut und lebendigem Leben.
Von Diana blieb nicht viel erhalten. Ein paar Bilder, von denen jedes ein anderes Antlitz zeigt: das süße, lachende Mädchen zuerst, eine schöne, kühle Frau zuletzt. Und ein Brief an Jenny, ihre Tochter. Wie der des liebenden, hoffnungsvollen Bräutigams der einzige ist, der von des unglücklichen Pappenheim Hand, trotz des Jahrhunderts, das über ihn hinwegging, erhalten blieb, so ist der Brief der sterbenden Diana der einzige, der von ihr zeugt. In jenem lag, dunkler Ahnungen voll, die Zukunft verborgen, in diesem weint und schluchzt der Schmerz der Vergangenheit. Hier ist er:
Weimar, 20. Oktober 1844.
Meine liebe Jenny!
Ich frage nicht mehr, ob ich schreiben darf — ich schreibe! Denn ich kann Dich versichern, daß es mir schlechter geht als im Augenblick der Abreise. Eine tiefe Melancholie erfüllt meine Seele, eine schreckliche Mutlosigkeit beherrscht mich. Wer nur trösten will, glaubt mir versichern zu müssen, daß gar keine Gefahr vorhanden ist, und ich kann nicht einmal daran zweifeln! Schon ein Monat schrecklichster Qualen, und noch kein Schritt näher der Ewigkeit. Und all diese Leiden sollen sich noch oft wiederholen, ehe das Ziel erreicht ist. — O mein Gott, welchen Prüfungen willst Du mich noch unterwerfen!
Ich