Gesammelte Werke. Джек Лондон

Gesammelte Werke - Джек Лондон


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jetzt an stand er oft hier auf der andern Seite der Straße im Schatten eines Baumes und rauchte unzählige Zigaretten. Eines Nachmittags sah er ihre Mutter aus einer Bank kommen, und das überzeugte ihn von neuem von dem ungeheuren Abstand, der Ruth von ihm schied. Sie gehörte der Klasse an, die mit Banken zu tun hatte. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in einer Bank gewesen und stellte sich vor, daß diese Einrichtung nur für die ganz Reichen und Mächtigen bestand.

      In gewisser Weise war eine moralische Umwälzung in ihm vorgegangen. Ihre körperliche und geistige Reinheit hatte ihre Wirkung auf ihn ausgeübt, und er fühlte einen heißen Drang, selbst rein zu sein. Er mußte es sein, wenn er je würdig werden wollte, dieselbe Luft wie sie zu atmen. Er bürstete sich die Zähne und schrubbte sich die Hände mit einer Scheuerbürste, bis er einmal im Schaufenster eines Drogisten eine Nagelbürste sah und ihren Zweck erriet. Er ging hinein, kaufte sie, und der Kommis, der seine Nägel sah, empfahl ihm auch eine Nagelfeile. So wurde er Besitzer noch eines Toilettengegenstandes. Zufällig stieß er in der Bibliothek auf ein Buch über Körperpflege, und sofort entwickelte sich bei ihm eine Neigung für ein tägliches kaltes Morgenbad, zum großen Erstaunen Jims und zum Ärger Bernard Higginbothams, der für derartige vornehme Übergeschnapptheiten nichts übrighatte und ernsthaft überlegte, ob er Martin nicht für das Wasser extra bezahlen lassen sollte. Ein weiterer Fortschritt waren Bügelfalten in seinen Hosen. Als Martins Interesse für derartige Dinge einmal geweckt war, bemerkte er schnell den Unterschied zwischen den gebeutelten Knien in den Hosen der arbeitenden Klasse und der geraden Linie vom Knie bis zum Fuß, die er bei Männern besserer Herkunft sah. Er lernte auch, wie er es machen mußte, und drang in die Küche seiner Schwester ein, um Bügeleisen und Plättbrett zu finden. Das erstemal hatte er Pech und verbrannte eine Hose, so daß sie völlig unbrauchbar wurde und er sich eine neue kaufen mußte, eine Ausgabe, die wiederum den Tag seiner Abreise näherrückte.

      Aber diese Reformen gingen weiter als bis zu seiner äußeren Erscheinung. Zwar rauchte er immer noch, aber er trank nicht mehr. Bisher hatte er Trinken für eine sehr angemessene Beschäftigung für Männer gehalten und war stolz auf seinen starken Kopf gewesen, der ihn befähigt hatte, die meisten Männer unter den Tisch zu trinken. Sooft er einen alten Schiffskameraden traf – und es gab viele in San Franzisko –, lud er ihn wie in alten Tagen ein und wurde wieder eingeladen, aber er selbst forderte nur alkoholfreie Getränke und ließ sich ihre Neckereien gutlaunig gefallen. Und wenn sie dann allmählich redselig wurden, beobachtete er sie und sah, wie das Tier in ihnen erwachte und sie übermannte, und er dankte Gott, daß er jetzt anders war als sie. Sie mußten ihre Grenzen vergessen, und wenn sie berauscht waren, wurde ihr benebeltes, dummes Hirn so weitschauend wie das der Götter, und jeder einzelne herrschte in eben dem Himmel, den sein berauschtes Verlangen ihm schuf. Martins Drang nach starken Getränken war verschwunden. Er war auf eine neue Art berauscht – berauscht von Ruth, die die Flamme der Liebe in ihm entzündet und ihm einen Funken höheren, ewigen Lebens gezeigt hatte; berauscht von Büchern, die ein Ameisenkribbeln von Verlangen und Entbehrung in seinem Hirn geweckt hatten; berauscht von dem Gefühl persönlicher Reinheit, die er erstrebte, die ihn noch gesunder und kräftiger machte, als er früher gewesen war, und die seinen ganzen Körper mit einem Gefühl physischen Wohlbehagens durchbebte.

      Eines Abends ging er in der Hoffnung, sie vielleicht zu sehen, ins Theater, und von der Galerie aus sah er sie auch wirklich. Er sah sie durch den Mittelweg gehen mit Arthur und einem fremden jungen Mann mit einer mächtigen Tolle und einer Brille, bei dessen Anblick ihn augenblicklich Unruhe und Eifersucht befiel. Er sah, wie sie ihren Orchesterplatz einnahm, und viel mehr sah er an diesem Abend nicht – nur, undeutlich in der Ferne, ihre feinen weißen Schultern und einen Schwall blaßgoldenen Haares. Aber andere hatten auch Augen, und jedesmal, wenn er den Blick über die Umsitzenden gleiten ließ, bemerkte er einige Plätze weiter in der Reihe vor sich zwei junge Mädchen, die sich umdrehten und ihn mit dreisten Augen betrachteten. Er war immer recht gutmütig gewesen. Von Natur aus war er durchaus nicht abweisend. In alten Tagen würde er wiedergelächelt und sie dadurch noch ermutigt haben. Jetzt aber war es anders. Er lächelte zwar, wandte aber den Kopf ab und bemühte sich, nicht mehr hinzusehen. Mehrmals jedoch, wenn er die beiden jungen Mädchen ganz vergessen hatte, wurde sein Blick von ihrem Lächeln gefangen. Er konnte sich weder an einem Tage verändern, noch seine angeborene Gutmütigkeit vergewaltigen, und deshalb lächelte er in diesen Augenblicken die beiden jungen Mädchen an, nur aus reinem warm-menschlichen Gefühl. Es war ihm nichts Neues. Er wußte, daß sie ihre Hände nach ihm ausstreckten. Aber jetzt war es etwas anderes. Unten im Parkett saß die Einzige in der ganzen Welt, so anders – so erschreckend anders – als diese beiden jungen Mädchen seiner eigenen Klasse, daß er für die nur Mitleid und Kummer fühlte. Er wünschte im Innern, daß sie einen geringen Bruchteil IHRER Güte und Herrlichkeit erlangen könnten. Aber um keinen Preis wollte er sie kränken, weil sie die Hände nach ihm ausstreckten. Er fühlte sich nicht dadurch geschmeichelt, im Gegenteil, eher ein wenig beschämt, daß seine eigene Niedrigkeit es ihnen erlaubte. Hätte er dem Kreise Ruths angehört, so hätten diese jungen Mädchen, das wußte er, keine Annäherung versucht. Und bei jedem Blick, den sie ihm sandten, war ihm, als ob der Stand, dem er angehörte, nach ihm griffe, um ihn niederzuhalten.

      Er verließ seinen Platz, ehe der Vorhang nach dem letzten Akt gefallen war, denn er wollte sie sehen, wenn sie herauskam. Es standen immer viele Männer vor dem Theater, und er brauchte nur die Mütze in die Stirn zu ziehen und sich hinter einem andern Mann zu verstecken, damit sie ihn nicht bemerkte. Er war einer der ersten, der das Theater verließ, aber kaum hatte er sich auf den Bürgersteig gestellt, als auch schon die beiden jungen Mädchen herauskamen. Er wußte gut, daß sie es auf ihn abgesehen hatten, und in diesem Augenblick hätte er seine Anziehungskraft auf Frauen verfluchen können. Er merkte, daß sie ihn gesehen hatten, denn sie gingen, gleichsam zufällig, schräg über die Straße, um in seine Nähe zu gelangen. Dann gingen sie langsamer, tauchten mitten im dichtesten Gewühl neben ihm auf, und die eine von ihnen tat, als ob sie ihn zum erstenmal bemerkte. Sie war ein schlankes, dunkles Mädchen mit schwarzen, herausfordernden Augen, die den seinen lächelnd begegneten. Er lächelte zurück.

      »Hallo!« sagte er.

      Das geschah rein mechanisch; er hatte dasselbe so oft unter ähnlichen Umständen, bei einer ersten Begegnung, gesagt. Weniger konnte er ja übrigens auch nicht tun. Bei der großen Nachsicht und Freundlichkeit seines Wesens konnte er wirklich nicht weniger tun. Das schwarzäugige junge Mädchen lächelte heiter und einladend und machte Miene, stehenzubleiben, ebenso wie ihre Freundin, die Arm in Arm mit ihr ging. Er überlegte schnell. Es war nicht auszudenken, daß sie jetzt herauskommen sollte und ihn hier stehen und mit den beiden reden sehen. Als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, trat er neben die Dunkeläugige und ging mit ihr weiter. Hier kannte er keine Verlegenheit. Hier war er zu Hause, und er war ein Meister in der leichten, mit Slang und heiterer Neckerei gemischten Unterhaltung, die stets der erste Schritt zu weiterer Entfaltung derartiger schnell gemachter Bekanntschaften war. An der Ecke, wo der Hauptstrom in derselben Richtung weiterfloß, bog er in die Querstraße ab. Aber das junge Mädchen mit den schwarzen Augen packte ihn am Arm und ging, ihre Begleiterin mit sich ziehend, mit.

      »Halt, Bill! Warum so eilig? Meinst du, daß du uns gleich wieder loswerden kannst?«

      Er blieb stehen und wandte sich ihnen lächelnd zu. Über ihre Schultern hinweg konnte er die Menge sehen, die sich im Schein der Straßenlaternen vorüberdrängte. Hier war es weniger hell, und er konnte sie unbemerkt sehen, wenn sie vorbeikam. Sie mußte vorbeikommen, denn der Weg führte zu ihrem Hause. »Wie heißt sie?« fragte er das kichernde junge Mädchen und machte eine Kopfbewegung nach der Dunkeläugigen.

      »Frag' sie selbst«, lautete die Antwort, die fast von Lachen erstickt wurde.

      »Na also, wie heißt du denn?« fragte er und wandte sich zu der andern.

      »Du hast mir ja auch nicht erzählt, wie du heißt«, antwortete sie.

      »Du hast mich ja auch nicht gefragt«, antwortete er lächelnd. »Übrigens hast du es gleich erraten, Bill, jawohl.«

      »Ach, geh!« Sie sah ihm mit einem brennenden einladenden Blick in die Augen. »Wie heißt du – aber wirklich!«

      Wieder sah sie ihn an. Alle Jahrhunderte des Weibes von ihrer ersten Geschlechtsregung


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