Gesammelte Werke. Джек Лондон
andere Wörter im Kopf – Wörter, die ich in Büchern gefunden habe, aber ich kann sie nicht aussprechen, und deshalb gebrauche ich sie nicht.«
»Es ist weniger was, als wie Sie es sagen. Sie brauchen nur etwas mehr Grammatik. Jetzt werde ich Ihnen ein Buch holen und zeigen, wie Sie anfangen sollen.« Als sie aufstand, fiel ihm etwas ein, das er in den Büchern über den guten Ton gelesen hatte, und er erhob sich linkisch, in schrecklicher Angst, daß es doch nicht richtig war, und daß sie es als Zeichen seines Aufbruchs ansehen würde.
Als sie mit der Grammatik wiederkam, schob sie einen Stuhl neben den seinen – er dachte darüber nach, ob er ihr hätte helfen sollen – und setzte sich neben ihn. Sie blätterte in der Grammatik, und ihre Köpfe näherten sich einander. Er hatte Mühe, ihr, als sie ihm jetzt einen Arbeitsplan machte, zu folgen, so bestürzt und benommen war er darüber, daß sie ihm jetzt so nahe war. Als sie ihm aber die Bedeutung der Konjugation zu erklären begann, vergaß er sie über seiner Arbeit. Er hatte nie von diesen Dingen gehört und war vollkommen bezaubert von dem Einblick, den er durch sie in den Mörtel der Sprache erhielt. Er beugte sich tiefer über das Buch, und ihr Haar berührte seine Wangen. Er war nur einmal in seinem Leben ohnmächtig geworden, aber in diesem Augenblick fühlte er sich wieder einer Ohnmacht nahe. Er konnte kaum atmen, und sein Herz preßte ihm das Blut in die Kehle, daß er fast erstickte. Nie war sie ihm so erreichbar erschienen wie jetzt. Es war ihm, als wäre in diesem Augenblick eine Brücke über den Abgrund zwischen ihnen geschlagen. Aber sein Gefühl für sie war deshalb nicht weniger erhaben. Sie war nicht zu ihm herabgestiegen. Er war es, der in die Wolken gehoben und zu ihr getragen wurde. Die Ehrerbietung, die er in diesem Augenblick für sie hegte, glich religiöser Ehrfurcht. Ihm war, als sei er ins Allerheiligste eingedrungen, und langsam und vorsichtig entzog er seinen Kopf der Berührung, die auf ihn wie ein elektrischer Schlag wirkte, und die sie gar nicht bemerkt hatte.
Achtes Kapitel
Mehrere Wochen vergingen, in denen Martin Eden seine Grammatik studierte, die Bücher über den guten Ton wieder vornahm und alle Werke, die sein Interesse erregten, verschlang. Von seinen bisherigen Kameraden sah er keinen. Die jungen Mädchen im Lotus-Klub wunderten sich, daß er verschwunden war, und quälten Jim mit Fragen, und einige der jungen Leute, die sich an den Boxkämpfen bei Rileys zu beteiligen pflegten, freuten sich, daß Martin sich nicht mehr zeigte. Er machte eine neue Entdeckung unter den Schätzen der Bibliothek. Wie die Grammatik ihm den Mörtel der Sprache gezeigt hatte, so zeigte dieses Buch ihm den Mörtel der Poesie, und er begann sich über Versmaß, Konstruktion und Form, diese Grundlagen der von ihm geliebten Schönheit, zu unterrichten, ja, er fand jetzt die Ursache der Schönheit. Noch ein Buch fiel ihm in die Hände, das von der Poesie als repräsentativer Kunst handelte – ein erzählendes Buch mit vielen Beispielen aus dem Besten der Literatur. Nie hatte er einen Roman mit der Begeisterung gelesen, mit der er dieses Werk studierte. Und sein unbelasteter, frischer zwanzigjähriger Geist eignete sich unter dem Ansporn seines Verlangens alles, was er lernte, mit einer männlichen Kraft an, die sonst bei Bücherwürmern recht ungewöhnlich ist.
Wenn er jetzt von seiner höheren Warte aus zurückblickte, so erschien ihm seine frühere Welt – diese Welt von Erde, Meer und Schiffen, mit Seeleuten und schlechten Frauenzimmern – sehr klein; und doch mischte sie sich mit seiner neuen Welt und erweiterte sie. Seine Seele strebte nach Einheit, und er war überrascht, als er die ersten Berührungspunkte zwischen den beiden Welten erblickte. Dazu verwandelten ihn die erhabenen Gedanken und die Schönheit, die er in den Büchern fand. Immer unerschütterlicher wurde sein Glaube, daß jeder, der sozial über ihm stand wie Ruth und ihre Familie, diese Gedanken dachte und nach ihnen lebte. Er lebte in der Niederung und hatte nur den einen Wunsch, sich von dem Niedrigen, das sein ganzes Leben lang an ihm geklebt hatte, zu reinigen, und sich in die höheren Regionen der oberen Klassen zu erheben. Während seiner ganzen Kindheit und Jugend hatte er unter einer Unrast gelitten; was er wünschte, hatte er nie gewußt und er hatte vergebens gesucht, bis er Ruth traf. Und jetzt war diese Unrast qualvoll geworden, und er wußte endlich, klar und sicher, daß es Schönheit, Wissen und Liebe waren, die er suchte.
In diesen Wochen sah er Ruth ein halb dutzendmal, und jedes Mal war ihm eine neue Inspiration. Sie half ihm bei seinem Sprachstudium, berichtigte seine Aussprache und ließ ihn auf die Arithmetik los. Aber ihre Gespräche drehten sich lediglich um die Arbeit. Er hatte zuviel vom Leben gesehen, und sein Geist war zu reif, um sich mit Brüchen, Kubikwurzeln und Analyse zufriedenzugeben; es kamen Stunden, in denen sie von ganz andern Dingen sprachen – von den letzten Dichtungen, die er gelesen, und den letzten Dichtern, die er studiert hatte. Und wenn sie ihm ihre Lieblingsdichter vorlas, dann war der Gipfel alles Entzückens für ihn erreicht. Keine von all den Frauen, die er je sprechen gehört, hatte eine Stimme wie die ihre gehabt. Ihr leisester Ton war ein Sporn für seine Liebe, und jedes Wort, das sie aussprach, durchbebte ihn mit Freude und Entzücken. Es war diese Stimme an sich, ihre Ruhe und ihr musikalischer Rhythmus, dieses weiche, volle, unbestimmbare Produkt der Kultur und einer sanften, liebevollen Seele. Wenn er ihr lauschte, klangen in seiner Erinnerung ein Echo von rauhen Schreien barbarischer Weiber und – wenn auch in geringerem Maße – die kreischenden Stimmen der Fabrikmädchen seiner eigenen Klasse. Und durch einen rein chemischen Prozeß begannen sie vor seinem inneren Auge aufzumarschieren und die Herrlichkeit Ruths durch den Gegensatz noch zu erhöhen. Was aber sein Glück noch vollkommener machte, war das Bewußtsein, daß ihre Seele mit dem Gelesenen harmonierte und bebend die Schönheit des niedergelegten Gedankens in sich aufnahm. Sie las ihm ein großes Stück aus »Die Prinzessin« vor, und er sah oft ihre Augen sich mit Tränen füllen, so empfänglich war sie. In solchen Augenblicken entrückte ihn ihre Bewegung über den Alltag hinaus, bis er sich wie ein Gott fühlte und ihm war, als sähe er das Antlitz des Lebens und läse darin die tiefsten Geheimnisse. Und wenn er dann gewahr wurde, wie seine Empfänglichkeit gewachsen war, sagte er sich, daß dies Liebe, und daß Liebe das Größte in der Welt war, und durch seine Erinnerung huschten die Gemütsbewegungen und Sehnsüchte, die er früher gekannt hatte – Weinrausch, Liebkosungen von Frauen, Boxkämpfe mit ihrem rohen Geben und Nehmen –, und alles erschien ihm gleichgültig und häßlich im Vergleich mit der erhabenen Leidenschaft, die er jetzt fühlte.
Ruth durchschaute die Situation nicht. Sie hatte keine Herzenserfahrungen. Ihr einziges Wissen in dieser Beziehung stammte aus Büchern, in denen die Geschehnisse des täglichen Lebens durch die Phantasie in das Feenreich der Unwirklichkeit verpflanzt waren. Und sie ahnte nicht, daß dieser derbe Seemann im Begriff war, sich in ihr Herz zu schleichen und gebundene Kräfte zu lösen, die eines Tages losbrechen und sie wie Feuerflammen durchlodern mußten. Sie kannte nicht den Feuerbrand der Liebe. Ihre Kenntnis der Liebe war rein theoretisch, und sie dachte sie sich als ein lindes Flämmchen, milde und zart wie fallender Tau oder wie das Kräuseln eines stillen Meeres und so kühl wie die samtweiche Dunkelheit eines Sommerabends. Sie dachte sich die Liebe wie ein ruhiges freundschaftliches Gefühl, das dem Geliebten in einer blumengesättigten Atmosphäre ätherischer Ruhe diente. Sie ahnte nichts von den gewaltsamen Kämpfen der Liebe, ihrer sengenden, brennenden Hitze, ihren unfruchtbaren Wüsten von ausgedörrter Asche. Sie kannte weder ihre eigene Macht noch die der Welt, und die Tiefen des Lebens waren für sie ein Meer von Illusionen. Das ruhige, freundschaftliche Verhältnis, das zwischen ihren Eltern bestand, war für sie das Ideal der Liebe zwischen Mann und Weib, und sie erwartete, selbst eines Tages ohne schroffen Übergang oder starke Reibungen mit einem geliebten Manne in dasselbe ruhige, angenehme Dasein hinüberzugleiten.
Und so kam es, daß sie in Martin Eden etwas Neues, ein fremdartiges Wesen sah, und daß sie die Wirkung, die er auf sie ausübte, mit diesem Neuen, Fremdartigen erklärte. Das war nur natürlich. Eine ähnliche, unerklärliche Unruhe hatte sie beim Anblick wilder Tiere in der Menagerie, bei heftigem Sturm oder beim Anblick eines Blitzes und seines leuchtenden Zickzacks gefühlt. Es war darin etwas von der ewigen Weltordnung, und etwas von der ewigen Weltordnung war auch in ihm. Er kam zu ihr mit einem Hauch der großen Stürme und der unendlichen Räume. Die Glut der Tropensonne leuchtete auf seinem Gesicht, und in seinen schwellenden, geschmeidigen Muskeln war die Lebenskraft der Urzeit. Er trug Narben, war von der geheimnisvollen Welt roher Männer