Moriz. Friedrich Schulz
hoffte Malchen zu sehen, aber vergebens. Ich ward zehnmal ungeduldig und wieder geduldig, eh' es mir einfiel, daß ich sie vor Endigung der Schule nicht würde zu sehen bekommen. Also entschloß ich mich, unterdessen meinen Phylax zu holen. Nicht ohne Furcht, der Martha in die Augen zu fallen, stahl ich mich auf unsern Hof, und fand meinen künftigen Reisegefährten in seiner Hütte schlafend. Ich nahm ihn beym Ohr und er riß die Augen und seinen großen Rachen gähnend auf. Als er sahe, daß ich es war, machte er beydes wieder zu, und steckte den Kopf unter, um wieder einzuschlafen. »Nein, nein, komm!« sagte ich voller Ungeduld und zupfte ihn beym Ohre. Nun stand er auf und ging mit.
Ich kam glücklich ohne bemerkt zu werden vom Hofe herunter. Es war mir unbeschreiblich weh um das Herz, als ich noch einmal nach dem Hause meines Papa zurücksah; aber diese aufsteigende Wehmuth änderte meinen Entschluß nicht. Ich ging gerade nach dem Schlosse und versteckte mich in dem Baumgarten, wo wir gewöhnlich zu spielen pflegten, wenn wir der Zucht des Magisters entgangen waren.
Eilftes Kapitel.
Die Gewalt des Naturtriebes.
»Der arme Moriz!« sagte Malchen, als sie in den Garten trat: »Es wird ihm übel gehn! Aber ich bin an allem Schuld!« Sie nahm die Schürze vor die Augen.
Er wird sich schon durchbeißen! sagte Louischen.
»Ja, durchbeißen!« brummte der Junker: »Er wird seinen Theil schon kriegen! Der Herr Magister will es dem Papa sagen!«
Ach, der dumme Magister auch! sagte Malchen.
»Ey warte, das sag' ich ihm wieder!« unterbrach sie ihr Bruder.
Sags, sags, sags! riefen die beyden Mädchen, und fuhren auf ihn zu, eine nahm ihn bey der linken, die andre bey der rechten Hand, und so sprangen sie mit ihm zum Garten hinaus, und warfen ihm die Thür hinter dem Rücken zu.
Nun bekam ich Muth. Bis jetzt hatte ich mich nicht hervorgewagt, weil ich besorgte, der Junker möchte sich davon stehlen und den Magister rufen. Aber von den beyden Mädchen hatte ich nichts zu fürchten.
Als sie mich sahen, kamen sie gesprungen und nahmen mich bey der Hand.
»Du hast wieder 'was Schönes gemacht!« sagte Louise.
»Du armer Moriz,« sagte Malchen schluchzend: »wenn sie dir 'was thun wollen, so schieb die Schuld auf mich!«
Auf Sie? fiel ich hitzig ein. Warum?
»Ich habe dir doch den Kranz aufgesetzt!«
Der Magister wird's dem Papa sagen! fuhr Louise fort.
»Glaub' es nicht, Moriz,« unterbrach sie Malchen: »sie will dir nur bange machen. Er wird wohl nicht hingehen.«
Bey diesen Worten blinkte sie mit den Augen auf Louisen. Diese verstand den Wink und verschluckte die Betheurung, daß er ganz gewiß zum Papa gehen würde. Ich bemerkte dies und wurde um nichts ruhiger.
So fest ich mir vorgenommen hatte, Malchen nur mit zwey Worten zu sagen: ich will fort! so wenig fähig war ich dazu. Der Vorsatz lag mir centnerschwer auf dem Herzen! Alle Augenblicke wollt' ich ihn herabwälzen, aber, wenn es dazu kam, fehlten mir Worte und Muth.
Ich schlenderte stumm und unentschlossen neben den beyden Mädchen her, und je fester ich mir vornahm, mein Herz auszuschütten, desto schwerer ward es mir. Zuletzt glaubte ich, meine Unschlüßigkeit rühre von Louischens Gegenwart her; aber auch daran lag es nicht, denn sie entfernte sich bald nachher, um zu horchen, ob es Papa schon wüßte, und doch blieb ich so unruhig und unentschlossen, als vorher, wurde es sogar mit jeder Sekunde immer mehr und mehr. Ich bekümmerte mich wenig darum, ob Louischen eine freudige oder fürchterliche Nachricht zurückbringen würde, und Malchen, wie es schien, eben so wenig. Wir waren beyde gleichtief mit uns beschäftigt. Sie, mit ihrem mitleidigen Herzen und mit ihren Augen, die in Thränen schwammen, und ich zunächst mit dem Entschlusse, ihr meine Flucht zu entdecken.
Wir kamen unvermerkt aus dem Garten und gingen Hand in Hand auf ein kleines Gebüsche zu, das an denselben stieß. In der Mitte war ein Rasenplatz; hier setzte sich Malchen nieder und ich mich zu ihr. Sie schlug ihren rechten Arm fest um meinen Nacken, ich meinen linken eben so fest um den ihrigen.
Ich weiß nicht, was für eine wunderseltsame Empfindung sich meiner bemächtigte. Ich dachte weder an Magister, noch Papa, noch Marthen. Alles, was mir heute begegnet war, kam mir wie ein Traum vor, dessen Figuren mit jedem Blick auf Malchens rothe Wangen, sich weiter und weiter entfernten. Ich war meiner Zunge nicht mächtig, sie eben so wenig. Ich umschloß sie mit jedem Athemzuge inniger, sie mich, und so sanken wir in das blumigte Gras zurück. Ich sah nicht, und hörte nicht, und eine Thräne nach der andern lief mir über die Backen. Die Empfindungen, die mir dieselben erpreßten, waren nicht traurig, nicht bitter: sie waren so himmlisch, so unaussprechlich süß! Mein Mund begegnete dem ihrigen, Lippe heftete sich auf Lippe fest und innig: es war ein ewiger Kuß!
Malchens Herz pochte dem meinigen durch die Schnürbrust fühlbar entgegen, und ihre Augen fielen langsam zu. Die meinigen blieben halb offen, und ließen nur einen schwachen Schimmer herein. Vor meinen Ohren flüsterte ein leises Lispeln und Schwirren, wie wenn man im Begriff ist einzuschlummern. Manchmal war mirs, als wenn sich ein kältlicher Schauer auf meiner Scheitel entspönne; er floß hinab bis zum Herzen, von da schoß er brennend zurück zum Kopfe, und von da, wie ein Feuerstrom, durch die innersten meiner Nerven und Fibern. Ich zitterte, Malchen noch stärker. Dann und wann machte sie eine kleine Bewegung, sich aufzuraffen; aber während des Entschlusses erstarb die Hand, die mich sanft auf die Seite schieben sollte.
Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Lage geblieben seyn würden. Ich ward ihrer nicht überdrüßig, und Malchen, wie es schien, eben so wenig. O! sie wurde mit jedem Augenblick entzückender! Ewig und ewig hätte ich so liegen bleiben mögen, aber –
Zwölftes Kapitel.
Die Reise geht fort.
Urplötzlich rief eine bekannte Stimme: »Wollt ihr auseinander!« – Wir erschracken heftig, sprangen aber nicht auf – »Junge,« rief es von neuem: »willst du die Hand da weg thun!« und in eben demselben Augenblicke brannte eine kräftige Maulschelle auf meinem Backen.
Und wenn ich sterben soll, so weiß ich diese Stunde noch nicht, wo meine Hand gelegen hat. Ich war ausser mir in jenen Augenblicken; ich wußte nicht, daß ich Hände hatte, ich wußte nicht einmal, daß ich lebte.
Wir sprangen beyde mit gleichen Füßen auf, rieben uns die Augen, und vor uns stand – Malchens Mama. Ich wollte ausreißen, aber sie erhaschte mich beym Fittig und zog mir über den andern Backen noch so eine Schelle.
»Gottloser Junge,« rief sie dabey, »auf ein andermal steck die Hand da wieder hin!«
Ich stand mit offnen Munde da, und zitterte am ganzen Leibe. Malchen hatte keinen Athem und drehete an ihrer Schürze.
»Wo du dich wieder hier sehen lässest« – rief ihre Mama und wollte von neuem auf mich los; aber mein Phylax stand neben mir und wies ihr seine großen Zähne.
Sie zog sich zurück, ergriff Malchen beym Arm und puffte sie zum Garten hinaus. »Du sollst deinen Lohn auch bekommen!« rief sie drohend zurück, und verschwand.
Ich stand wie versteinert. Das war für mich ein Tag der Angst und des Schreckens! Was für Verbrechen ich heute eins auf das andre häufte! Und da sollte ich Muth genug gehabt haben, nach Hause zurückzugehen?
Komm Phylax, sagte ich zu meinem Gefährten, und die Thränen liefen mir über die Backen: hieher kommen wir nicht wieder! – Du armes Malchen! Nun hab' ich dirs doch nicht sagen können!
Ich drückte