Orbáns Ungarn. Paul Lendvai
waren von Anfang an nur unzureichend zu Widerstand fähig, sie fehlten entweder gänzlich oder versagten. Auch wenn man die Geschichte der ganzen Epoche in den Blick nehmen muss, lässt sich die personalisierte Herrschaft Orbáns doch in erster Linie aus seiner Lebensgeschichte heraus erklären.
Die Tatsache, dass die meisten politisch oder finanziell Mächtigen im Umkreis Orbáns von ganz unten, aus schwierigen Verhältnissen, überwiegend nicht aus Budapest, sondern aus einem sozial randständigen Umfeld in der Provinz kommen, hat ungarische Autoren sogar zu gewagten Vergleichen von manchen Fidesz-Spitzenpolitikern mit den Helden in den Romanen von Balzac (Lucien de Rubempré) und Stendhal (Julien Sorel) verführt. Doch sind diese Hinweise trotz mancher Parallelen in Haltung und Lebensart bei einigen neuen Orbán-Freunden (wie bei der schillernden Hintergrundfigur Árpád Habony5) deshalb falsch, weil die Umstände des sozialen Aufstiegs von Orbán selbst und der einflussreichsten Fidesz-Leute um ihn herum überhaupt nicht der etwa in Balzacs »Verlorenen Illusionen« beschriebenen Zeit in Paris entsprechen.
Die zwei im Ton massiv unterschiedlichen Orbán-Biografien (insgesamt 1020 Seiten), die der Politologe und Publizist József Debreczeni innerhalb von knapp sieben Jahren, allerdings vor dem entscheidenden Wahlsieg 2010, geschrieben hat, ebenso wie Interviews und TV-Aufnahmen aus der Frühzeit, liefern eher als das enzyklopädische Sittengemälde Frankreichs in den Büchern Balzacs den Schlüssel zum Verständnis jener besonderen Verhältnisse in der langen und widerspruchsvollen Kádár-Ära, die das Leben der Familie Orbáns und seiner Freunde prägten.6
Eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen
Über das Leben der Eltern des am 31. Mai 1963 geborenen Viktor Orbán und über seine Kindheit im winzigen, trostlosen Dorf Alcsútdoboz rund 50 Kilometer westlich von Budapest wissen wir das meiste von ihm selbst. Zuerst wohnte die ganze Familie, auch mit dem um zwei Jahre jüngeren Bruder, auf engstem Raum mit den Großeltern väterlicherseits in ihrem Haus. Die zentrale Figur in der Familie war der legendäre Großvater. Der körperlich sehr kräftige Hafenarbeiter rückte im Zweiten Weltkrieg ein, kam an der Ostfront zum Einsatz und kehrte nach dem Zusammenbruch der Zweiten Ungarischen Armee auf abenteuerlichem Weg aus der Kriegsgefangenschaft in Österreich unversehrt in die Heimat zurück. Mit seiner Frau, einer ehemaligen Putzfrau, siedelte er sich schließlich in diesem Kaff Alcsútdoboz an. Der Großvater war zeitweilig auch als eine Art Wundarzt (Feldscher) neben dem örtlichen Tierarzt beschäftigt. Viktor bewunderte diese starke Persönlichkeit, die 48-jährig noch maturierte, nur um sich zu behaupten. Dieser außergewöhnliche Mensch dürfte auch die Leidenschaft für Fußball schon beim fünf- oder sechsjährigen Viktor entfacht haben. Großvater und Enkel haben regelmäßig zusammen die Übertragungen der Fußballspiele im Rundfunk angehört und die Sportzeitung gelesen.
Nach Streitigkeiten zwischen seiner Mutter und der Großmutter übersiedelte die Familie später mit dem zehnjährigen Viktor ins etwas größere Nachbardorf Felcsút. In einem baufälligen Haus ganz am Ende der Hauptstraße musste man sozusagen wieder von vorne anfangen. In diesen Jahren wuchs Viktor zwar in geordneten Verhältnissen, jedoch zweifellos in sehr ärmlichen Umständen auf. Erst rückblickend in Interviews ruft er auch für sich selbst in Erinnerung, wie unglaublich hart er mit seinen Geschwistern vor, während und nach der Grundschule auf dem Feld, am Anfang auch bei den Nachbarn und immer auch während der Ferienzeit, arbeiten musste: Rüben ziehen, Kartoffeln auflesen, Maiskolben sammeln und die Schweine und Hühner füttern.
Es gab kein Fließwasser, heißes Wasser war ein Luxus, das Wasser musste in einem Blechgeschirr auf dem Gaskocher aufgewärmt werden, dann wusch man sich im Waschbecken. Man kann sich leicht vorstellen, was es für einen aufgeweckten Jungen mit starkem Bewegungsdrang bedeutet haben muss, unter solchen Umständen aufzuwachsen. Noch 15 Jahre später schilderte der erfolgreiche Jungpolitiker, damals bereits als Fidesz-Vorsitzender, welch »unvergessliches Erlebnis« es war, das erste Mal, 15-jährig, ein Badezimmer zu haben und den Hahn für das Warmwasser einfach aufzudrehen. Dass es eine andere Welt des Wohlstands gibt, wusste er damals noch nicht aus eigener Anschauung.
Orbán machte auch nie einen Hehl aus der Tatsache, dass der soziale Aufstieg seiner Eltern mit der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung des Kádár-Regimes verbunden war. In den Siebziger- und Achtzigerjahren entstand in Ungarn der Typus des erfolgreichen Kleinbürgers, den der Politologe László Lengyel als den »Homo Kádáricus« im Gegensatz zum »Homo Sovieticus« bezeichnet hat. Nach dieser Analyse lebte dieser in der Stadt und auf dem Lande aus diversen Nebeneinkünften. In der Blütezeit des »reifen Kádárismus« wurden das öffentliche und das Privatleben nach der Devise getrennt: »Wir politisieren oben – ihr lebt unten.« Diese stillschweigende Abmachung, in der sich die Staatspartei und das Volk gleichermaßen der Grenzen des Möglichen bewusst waren, ließ damals eine ungarische Spielart des Kommunismus zu.
So ein »Homo Kádáricus« war zweifellos der Vater, der 1940 geborene Győző Orbán, seit 1966 Parteimitglied. Im örtlichen Agrarkollektiv in Felcsút gehörte er sogar der Parteileitung an und war Chef der Maschinenabteilung der Kollektivwirtschaft. Harte Arbeit und zugleich permanentes Lernen waren Schlüssel zum Ausbruch der Familie aus den ärmlichen Verhältnissen. Der Vater war 30 Jahre alt, als er die zuvor abgebrochenen Studien fortsetzte und die Universität mittels eines Fernkurses als Maschinenbauingenieur absolvierte. Auch die Mutter wurde auf dem zweiten Bildungsweg nach dem Abschluss einer Hochschule zur Heilpädagogin.
Bei dem guten Schüler Viktor war schon früh die Neigung zur Disziplinlosigkeit erkennbar, die sich auch in späteren Jahren immer wieder einmal Bahn brechen sollte. Als Zweitkleinster in der Klasse war er zwar kein Anführer, kämpfte jedoch ohne Angst bei Raufereien.
Er selbst gibt zu, dass er ein »unglaublich schlimmes Kind war. Ungezogen, frech, gewalttätig. Nicht sympathisch. Immer wieder wurde ich aus allen Schulen hinausgeworfen … Die Erwachsenen konnten mich nicht leiden und ich sie auch nicht … Zuhause hatte ich ständig Disziplinprobleme; mein Vater hat mich jährlich ein-, zweimal verprügelt.« Von der Schule bis zum Militärdienst und Studium an der Rechstfakultät blieb seine Devise unverändert: »Wenn ich eine Ohrfeige bekomme, gebe ich zwei zurück.« In einem unbedachten Moment erzählte der Jungpolitiker, dass er sogar noch 17-jährig wegen rüpelhaften Benehmens von seinem Vater verprügelt wurde.
Die Jahre am Gymnasium
Der soziale Aufstieg der Familie fiel zeitlich mit der Aufnahme Viktors in eine der angesehensten Mittelschulen Ungarns in der Stadt Székesfehérvár und der Übersiedlung aus dem winzigen Dorf Felcsút in diese traditionsreiche einstige Krönungsstadt zusammen. Hier erlebte der 15-jährige Viktor nicht nur das kleine Wunder des ersten Badezimmers in der Zweizimmerwohnung mit 54 Quadratmetern, sondern musste auch die Bewährungsprobe der Begegnung mit der urbanen Umgebung und mit den Mitschülern (31 Mädchen und nur 6 Burschen) bestehen, von denen viele bessergestellte Eltern hatten. In einem Interview behauptete Orbán später, dass es ihm nach einem halben Jahr mit Hilfe seiner Mutter, aber auch dank seines Selbstbewusstseins gelungen sei, in seiner Sprache und im Lebensstil die ländlichen Merkmale zu überwinden. Auch in der Mittelschule geriet der junge Heißporn übrigens in Konflikte und wurde sogar des Internats verwiesen. Zum Glück hatte sein Vater inzwischen eine Stelle und die erwähnte Wohnung in der Stadt bereits gefunden.
Obwohl der umtriebige Gymnasiast in den ersten zwei Klassen sogar als Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes (KISz) verschiedene gesellschaftliche und sportliche Events mit organisierte, hat Orbán nie versucht, sich rückwirkend zu einem jungen Kämpfer gegen das Regime hochzustilisieren. Im Gegenteil, er habe weder mit dem geliebten Großvater noch mit seinen Eltern über Politik gesprochen. Politik war kein Thema in der Familie, man las keine Zeitung, hörte keine politischen Nachrichten. Sie passten sich dem verglichen mit den anderen Ostblockländern milder und erträglicher gewordenen Kádár-Regime an. Mit den Worten Orbáns: »Es ist merkwürdig, aber es gibt keinen Grund in der Geschichte meiner Familie, der eine Erklärung geliefert hätte, warum ich Antikommunist geworden bin. Mein Vater war Parteimitglied. Die Familie wollte sich nicht in die Politik einmischen. Eine typische Reaktion auf die post-1956-Stimmung. Man sagte mir, lerne fleißig, arbeite