Orbáns Ungarn. Paul Lendvai
Prozent, 1992 23 Prozent und sank erst 1993 unter 20 Prozent. Die früher unbekannte Arbeitslosigkeit erreichte zeitweilig 12 Prozent. Tausende Unternehmen wurden liquidiert und eine halbe Million Stellen verschwanden.
Unter dem doppelten Druck der lautstarken linken und liberalen Opposition und des extrem rechten, nationalistischen, antisemitischen und zugleich mehrheitsfähigen Flügels in seiner eigenen Partei konnte der todkranke Regierungschef die ihm menschlich und wohl auch politisch näher stehende Realpolitik der Kompromisse nicht durchführen. Trotz seiner stark gesunkenen Beliebtheitswerte erwiesen dem nach seinem Tod im Parlament aufgebahrten Ministerpräsidenten fast eine Viertelmillion Menschen die letzte Ehre. Dem Begräbnis wohnten Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt bei. József Antall war im Gegensatz zu den meisten Spitzenpolitikern seit der Wende untadelig, wahrhaftig und in jeder Hinsicht persönlich unbestechlich.
Fidesz links von der Mitte im Parlament
In den Jahren der Antall-Regierung wurden die 22 Fidesz-Abgeordneten mit ihrem ganzen jugendlichen Stil, bärtig und langhaarig, in Blue Jeans und mit offenem Hemd, mit verbaler Aggressivität und salopper Schlagfertigkeit nicht nur im Parlament, sondern auch darüber hinaus immer populärer. Sie vertraten nicht nur in der Wirtschafts-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik liberale Positionen, sondern hatten auch keine Hemmungen, nationalistische und antisemitische Untertöne bei den Regierungsparteien sofort und scharf zu verurteilen. Auch hinsichtlich der engen Beziehungen zwischen der Koalition und der katholischen Kirche hielten sie sich manchmal mit beißender Kritik nicht zurück.
Als Fraktionschef der Partei vertrat Viktor Orbán in Reden und Interviews diese liberale Linie ohne Wenn und Aber. Nach seinem Rechenschaftsbericht billigte der Parteitag 1992 den Antrag zur Aufnahme in die Liberale Internationale. Orbán wurde Vizepräsident und war im Herbst 1993 stolzer Gastgeber der Liberalen Weltkonferenz in Budapest. Auch dank der Fernsehübertragungen aus dem Parlament wurde er Anfang 1991 mit 73 Punkten bereits Dritter und Fodor Vierter auf der Liste der populärsten Politiker. Dass er im April 1993 ohne Gegenkandidat mit überwältigender Stimmenmehrheit zum ersten Vorsitzenden des Fidesz gewählt wurde, bestätigte im Alter von 30 Jahren seine unbestrittene Führungsposition.
Einige (und von der heutigen Opposition oft gegen ihn verwendete) Zitate aus seinen programmatischen Reden oder Interviews lassen keine Zweifel über seine damalige Haltung in manchen Grundfragen der Politik aufkommen: »Die Führung der Regierungsparteien und besonders des MDF neigen sehr dazu, die Kritik an der Regierungspolitik so abzulehnen, als ob die Opposition oder die Medien das Ansehen Ungarns untergraben, die ungarische Nation selbst angreifen würden. Solche Behauptungen versprechen nicht viel Gutes für die Zukunft der Demokratie. Eine solche Haltung deutet darauf hin, dass die Führer der Regierungspartei dazu neigen, ihre Parteien und ihre Wähler mit dem Land, mit der Nation zu verwechseln. Manchmal, in Momenten der Begeisterung, haben sie das Gefühl, dass ihre Macht nicht die Folge einer einmaligen Entscheidung einer gewissen Anzahl von ungarischen Staatsbürgern ist, sondern dass sie in irgendeiner mythischen Art die ewigen Interessen des ganzen ungarischen Volkes ausdrückt.«10 Oder aus seiner Parteitagsrede am 7. Februar 1992: »Wir haben es immer abgelehnt, so zu kämpfen, dass auf einer Seite die Reinen sind, auf der anderen die Bösen, auf der einen Seite die Patrioten stehen, auf der anderen die Landesverräter … Der völkisch-nationale Gedanke, die populistische Politik steht im scharfen Gegensatz zum Liberalismus. Die Liberalen fordern Freiheit für das Volk, so dass es Unternehmen betreiben und wählen kann. Die Populisten dagegen wollen das Volk höher stellen … Es ist klar, der MDF sucht gegen die Gesellschaft politische Verbündete in den Kirchen. Die Kirchen können nur dann die ihnen gebührende Position in der modernen Gesellschaft haben, wenn sie ihre Autonomie schützen und zurückgewinnen. Wenn sie aber von den Akteuren des politischen Lebens manche als Feinde, andere als Verbündete qualifizieren, werden sie selbst auch zu politischen Akteuren … Der Fidesz sollte in der nächsten Legislaturperiode eine völlig offene, liberale Volkspartei ohne Altersgrenzen werden.«
In diesen Jahren der wachsenden Spannungen, ausgelöst durch die Wirtschaftskrise und viele Zeichen einer demonstrativen Wendung nach rechts, einschließlich antisemitischer Tendenzen und Maßnahmen zur Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Medien, stieg die Popularität des Fidesz als einer von den Sünden der Vergangenheit unbelasteten Jugendpartei von Monat zu Monat. Im Jahr 1992 zeigten die Umfragen, dass der Fidesz bei den Befragten schon 30 Prozent Zustimmung erhielt und bei jenen, die entschlossen waren, an der Wahl im Mai 1994 teilzunehmen, sogar 45 Prozent! Kein Wunder, dass die Meldungen über die sprunghafte Steigerung ihrer Beliebtheit Viktor Orbán und seinen engsten Freunden zu Kopf stiegen und im inneren Kreis laut Gábor Fodor schon über die Zusammensetzung der künftigen Regierung, natürlich unter der Federführung des Fidesz, spekuliert wurde.
Spannungen mit den echten Liberalen
Hinter der glänzenden Fassade der politischen Erfolge zeichnete sich ab 1992 zuerst eine politische Differenzierung und später eine tiefe Kluft zwischen dem absoluten Führungsanspruch Orbáns und dem nach wie vor äußerst populären Fodor ab. Dieser von Stimmungen abhängige und auch kulturell interessierte Politiker bewies allerdings im Machtkampf innerhalb der Fidesz-Führungsgremien (wie auch in seiner späteren Karriere) weder Durchsetzungskraft noch Entschlossenheit. Es ging aber auch um grundsätzliche Unterschiede in der Bündnispolitik des Fidesz. Im Mittelpunkt stand von Anfang an das immer spannungsgeladenere Verhältnis zu den von urbanen, linken Intellektuellen gegründeten Freien Demokraten, deren parlamentarische Fraktion viermal größer war als die des Fidesz. Während Fodor mit dem damaligen Wortführer des SzDSz, János Kis, eine persönliche Freundschaft verband, betonten Orbán und sein engster Weggefährte, der impulsive und gegen Fodor laut allen Quellen aus persönlichen Gründen feindlich eingestellte László Kövér, die Eigenständigkeit der Partei in alle Richtungen. »Wir wollen nicht die Jugendorganisation des SzDSz sein«, sagte Orbán mehrmals, und seine Linie wurde offensichtlich von der Mehrheit der leitenden Gremien unterstützt.
Bei der Entfremdung und dem später offenen Konflikt zwischen dem Fidesz und den älteren Liberalen darf man die persönlichkeitsbezogenen und schichtspezifischen Unterschiede nicht übersehen. Die maßgeblichen SzDSz-Politiker waren überwiegend linke Intellektuelle, Philosophen, Soziologen, Ökonomen, die mit dem Marxismus gebrochen hatten und oft aus ex-kommunistischen, bürgerlichen, zum Teil jüdischen Familien kamen. Sie waren belesen, weltoffen und sprachkundig, im Gegensatz zur ersten Generation der Fidesz-Intellektuellen aus meist ländlicher oder kleinstädtischer Umgebung. Die maßgeblichen Fidesz-Politiker waren außerdem überwiegend Juristen mit praktischen Kenntnissen. Darüber hinaus waren die Unterschiede im Lebensstil und in der Familientradition zwischen den beiden Gruppen oft augenfällig. In einem Rückblick auf seine Gymnasiastenzeit sagte Orbán in einem oft zitierten Videointerview im Frühjahr 1988: »In unserem Freundeskreis gab es Jungen, die aus einem anderen Umfeld kamen. Das Milieu, aus dem ich stamme, hatte überhaupt keine spezifische kulturelle Tradition. Eine solche Angestelltenschicht … mein Vater hatte eigentlich keine Verbindung zum Bauerntum; wir hatten zwar Tiere, also es gab eine solche Tätigkeit, aber in unserem Dorf gab es schon lange keine bäuerliche Kultur, keine Arbeiterkultur … um von bürgerlicher Kultur überhaupt nicht zu sprechen … Ich kam aus einer solchen Unkultiviertheit, aus einem solchen eklektischen Etwas, aber es gab Jungen, deren Väter Geistliche waren und aus einer protestantischen Tradition kamen. Und auch ein oder zwei Burschen, die aus einer herkömmlichen bürgerlichen Tradition kamen … Nur einer war älter, Lajos Simicska; er war der klügste von uns.«
Diese tief verwurzelten Unterschiede in der Kindheit, in Erziehung, Lebensstil und Standard prägten zuerst wohl eher unbewusst, später aber immer offensichtlicher die Haltung Orbáns und seiner engsten Freunde gegenüber den oft überheblich, sogar arrogant auftretenden liberalen Politikern. Die anfängliche Bewunderung für die intellektuelle Brillanz mancher liberaler oder linker Politiker wandelte sich im Lauf der Jahre in eine von Minderwertigkeitskomplexen genährte Abneigung, später fast in offene Hassgefühle. Die Abwendung von den liberalen Positionen und die Rückbesinnung auf die bodenständigen, nationalen Werte im Gegensatz zu den »fremdherzigen« linksliberalen Regierungen zieht sich wie ein roter Faden durch die späteren