Orbáns Ungarn. Paul Lendvai
von politischer Kommunikation und »Medienmanagement«.
Im Einklang mit diesen lehrreichen Erfahrungen aus den vermeintlichen Versäumnissen seines Vorgängers hat Orbán bereits als Oppositionsführer seinen vielleicht ältesten und für Finanztransaktionen »genialen« Freund aus dem Gymnasium und dem Militärdienst, Lajos Simicska, als Dirigenten der Geldbeschaffung für den Fidesz beauftragt.
Der Schwenk nach rechts
Nur neun Monate nach der Absage an einen Schwenk nach links oder rechts bekannte sich Orbán am siebten Parteitag im April 1995 ohne Wenn und Aber zum Kurswechsel nach rechts: »Nach meiner Ansicht liegt die Blockbildung, die Entstehung eines sozialistischen Mitte-Links- und eines gemäßigten Mitte-Rechts-Kräftefeldes mit bürgerlicher Dominanz im Interesse des Landes … In der Mitte haben wir allein, gegen die Linke und die Rechte, keine Chance. In meinem Denken ist die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der Linken nicht drin. Meine Antwort ist, dass Fidesz die Zusammenarbeit mit den Kräften rechts der Mitte suchen müsse.« Der neuen Linie entsprechend heißt nunmehr die Partei: Fidesz – Ungarische Bürgerliche Partei.
Die für viele überraschende Kehrtwendung spiegelte sich bald auch in der Sprache und im persönlichen Stil wider. Immer mehr früher salopp gekleidete, bärtige Rebellen waren »bürgerlich« angezogen und frisiert. In den Reden der Fidesz-Abgeordneten, allen voran natürlich in der Rhetorik des Parteivorsitzenden, standen neben aktuellen politischen und wirtschaftlichen Fragen immer häufiger die Bekenntnisse zur Nation, zum Ungartum, zur Heimat, zu nationalen Interessen, zur Anständigkeit, zum Bürgertum, zur Familie, zur Heimatliebe im Vordergrund. Es war ein gleitender und später beschleunigter Übergang zu den früher verpönten und karikierten konservativen Werten, zu einem Auftreten Schulter an Schulter mit den katholischen und protestantischen Kirchen und vor allem zum bewussten Ausspielen des Mythos der ungarischen Nation gegenüber den linken und liberalen politischen Rivalen.
Scharfe Kritiker von links behaupteten, die Fidesz-Leute seien prinzipienlose Chamäleons, stets bereit, ihren Mantel nach dem Winde zu drehen. Diese emotionalen Vorwürfe verfehlten ihr Ziel, weil sie die tieferen Beweggründe des zweifellos zielbewussten und meisterhaft vollzogenen Schwenks nach rechts übersahen. Nach der Abspaltung des schwachen und geschickt isolierten linken Flügels nutzte Orbán gegen den Linksblock seine einzige realistische Chance für einen künftigen Erfolg: die rechtskonservative, national-populistische Option. Im ersten frei gewählten Parlament war auch der Fidesz unvermeidlich die linke Opposition einer rechtsgerichteten Regierung gewesen. Nun war es, gegen das enorme Übergewicht einer sozialistisch-linksliberalen Regierung, natürlich umgekehrt. Deshalb konnte Orbán am 27. September 1994 im Parlament, unter dem Applaus der Kleinen Landwirte und der Christdemokraten, an die Adresse der linksliberalen Koalition spöttisch Willy Brandts berühmte Gleichung über die deutsche Wiedervereinigung zitieren: »Es wächst zusammen, was zusammengehört.«
Das Trauma von Trianon und andere Demütigungen
Bei der Erklärung des Wandels der Fidesz-Führung darf man die lange verborgen gebliebene Sprengkraft der nationalen Frage, also vor allem des Trianon-Traumas, nicht vergessen. Was Nietzsche »Feigheit vor der Realität« nannte, galt sowohl für das 40 Jahre lange Schweigen des kommunistischen Regimes über die nationale Tragödie wie auch für das Verdrängen der Auseinandersetzung mit dem von den Rechtsnationalisten hochgespielten Thema durch die postkommunistische Linke. Am 4. Juni 1920 wurde im Schloss Trianon im Park von Versailles jener Vertrag unterzeichnet, der zwei Drittel des Territoriums des historischen Ungarn und 40 Prozent seiner Bevölkerung unter den drei Nachbarstaaten Rumänien, Tschechoslowakei und Jugoslawien verteilte. 3,2 Millionen Ungarn gerieten unter Femdherrschaft. Dass Ungarn infolge des Kriegsbündnisses mit Hitler-Deutschland 40 Prozent der verlorenen Gebiete zurückgewann und sie dann nach dem Krieg wieder verlor, war Tabuthema unter dem Kádár-Regime. Selbst damals erklärten 70 Prozent der Befragten, der Friedensschluss von Trianon erfülle sie mit tiefer Verbitterung.
Das nationale Missgeschick durch das Verhängnis von Trianon, die Kriegsniederlage, das Schicksal der Auslandsungarn und die Psychose der nationalen Gefährdung gehören seit Generationen zur Tradition jener christlichen Mittelklasse, die nach dem Konzept der Fidesz-Führung die Kernschicht der künftigen großen, nationalen Volkspartei bilden sollte. Dieser historische Faktor hat vor allem auch auf dem Land die Menschen besonders stark geprägt.
Man muss beim persönlichen Handeln der Fidesz-Spitzenpolitiker aus der kleinen Gruppe der Gründungsväter bedenken, dass sie mit sehr wenigen Ausnahmen Intellektuelle der ersten Generation waren, aus ländlichen Familien stammten, wenn auch, laut den Analysen der besten Kenner, diese eher atheistisch eingestellt waren und die Mehrheit von ihnen nicht getauft wurde.
Auf der Flucht aus der Provinz in die Hauptstadt verbrachten sie die meiste Zeit eher untereinander in ihrem Bibó-Kollegium als an der Universität. In ihrem Verhältnis zu den Freien Demokraten (SzDSz) spielte nicht nur der Wille zur Unabhängigkeit eine wichtige Rolle. Bei der persönlichkeitsbezogenen Interpretation der politischen Aktionen sollten, wie schon erwähnt, auch die Unterschiede im sozialen Status und in der persönlichen Bildung zwischen manchen wichtigen Akteuren nicht übersehen werden. Wie von mehreren kenntnisreichen Beobachtern vermerkt, dürften diese Unterschiede ebenso wie die überhebliche Haltung mancher SzDSz-Würdenträger bei den jüngeren und damals weniger erfahrenen Fidesz-Politikern Minderwertigkeitskomplexe oder Ressentiments ausgelöst haben. Das persönliche Element war wohl bestimmend bei der Unfähigkeit Orbáns, Kompromisse zu schließen, und bei seinem Reflex, auf politische Niederlagen oder unbewusste Demütigungen mit einer Vernichtungsstrategie zu reagieren.
Kämpfen und siegen
Die besten Kenner seiner Persönlichkeit betonen immer wieder die ungeheure Bedeutung des Fussballs nicht nur bei der Geburt der politischen Mannschaft des Fidesz, sondern auch bei seiner Taktik und Strategie in der Politik. Wie ein bitterer Gegner einmal formulierte, wollte Orbán immer gleichzeitig Schiedsrichter und Linienrichter, Mittelstürmer und Torhüter sein. Er selbst bestritt nie, dass er immer Ministerpräsident sein wollte, und verglich den politischen Kampf mit einem offensiven Fussballspiel. Er kann Niederlagen nur ertragen, wenn er weiß, dass mit hartem Training und fester Entschlossenheit, mit raffinierter Taktik zur Ausnützung der Schwächen des Gegners und mit einem erfolgsorientierten Team die gestrige Niederlage beim nächsten Mal in einen Sieg umgewandelt werden kann.
Bei der wohl aufschlussreichsten, jedoch kaum bekannten Geschichte über den ungarischen Ministerpräsidenten handelt es sich um den Film – »Spiel mir das Lied vom Tod«, ein Italo-Western des Regsiseurs Sergio Leone, gedreht im Jahr 1968 (mit Claudia Cardinale, Henry Fonda und Charles Bronson), der aber nur in den Siebzigerjahren im kommunistischen Ungarn gespielt wurde. Zweieinhalb Stunden lang wird der dramatische Kampf um ein Stück Land erzählt, das eine Bahngesellschaft für den Bau einer Bahnlinie kaufen will. Die Familie will es nicht verkaufen. Eine Gangsterbande rottet im Auftrag der Firma die Familie aus, nur die Ehefrau überlebt. Dann aber erscheint als Racheengel Charles Bronson und erschießt den Bandenchef, der einst seinen älteren Bruder ermordet hatte. Die Gerechtigkeit siegt.
Diesen Film habe Viktor Orbán laut dem Bericht seines polnischen Biografen Igor Janke »mindestens fünfzehn Mal« gesehen. Warum? Was hat ihn an diesem Film so hingerissen? Orbán wörtlich: »Alles! Eine heroische Geschichte. Am Anfang scheint die Geschichte hoffnungslos zu sein. Tag und Nacht nur Hindernisse, nichts gelingt. Um zu bestehen und zu siegen, genügt es nicht, dass er schießen und mit seiner Faust ordentlich zuschlagen kann. Er muss auch sein Gehirn benützen und auch die Großherzigkeit darf ihm nicht fremd sein. Das ist sehr wichtig. Du musst deine Feinde begreifen, du muss herausfinden, was sie in Wirklichkeit bewegt, und dann, wenn sich die Dinge zuspitzen, darfst du vor dem Kampf nicht zurückschrecken, greif an und siege!«12
Dieses Motto galt nicht nur für die vier Jahre an der Spitze der Opposition, sondern gilt in einem tieferen Sinn für das ganze Leben dieses Machtpolitikers. Für ihn ist Politik je nach Situation eine Mischung aus einem Western und einem Fußballspiel. Allerdings