Orbáns Ungarn. Paul Lendvai

Orbáns Ungarn - Paul  Lendvai


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Er bewies jedenfalls schon zwischen 1994 und 1998 Durchsetzungskraft und Entschlossenheit angesichts einer übermächtig erscheinenden Regierung und einer zersplitterten Opposition. Der Fidesz, von den liberalen und zweifelnden Elementen befreit, bildete unter Orbán trotz der Wahlniederlage fortan eine verschworene Gemeinschaft im Kampf gegen die linksliberale Regierung. Die Steigerung seiner Beliebtheitswerte und der Applaus aus den Sitzreihen der anderen Oppositionsparteien bestätigten den Eindruck, dass jene Gruppen, die sich ihm und seiner Partei anschließen oder kooperieren, das Gesetz des Handelns zurückgewinnen könnten.

       Ein Reformpaket mit Folgen

      Die politische Offensive der kleinen Fidesz-Mannschaft entfaltete sich deshalb so überraschend erfolgreich, weil die Regierung von Gyula Horn wegen innerparteilicher Flügelkämpfe in der MSzP die ersten acht Monate praktisch verloren hatte. Es ging, wie so oft vorher und nachher, um die Maßnahmen zur Vermeidung eines drohenden finanziellen Bankrotts. Gyula Horn, der symbolische und überzeugte Vertreter des »kleinen Mannes aus der Kádár-Ära«, hatte zuerst geglaubt, er könnte großzügige Kreditzusagen des für die Grenzöffnung so dankbaren deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl gewinnen und so die einschneidenden Sparmaßnahmen vermeiden. Das deutsche Hilfsangebot blieb aber weit hinter seinen Erwartungen zurück. Daher musste Horn das bis heute radikalste Reformkonzept samt einer umfassenden Privatisierung akzeptieren und zähneknirschend in der Sozialistischen Partei durchsetzen.

      Überfallsartig präsentierte der neue Finanzminister Lajos Bokros – in engem Einvernehmen mit dem Chef der Nationalbank György Surányi – am 12. März 1995 zusammen mit Gyula Horn das berühmt-berüchtigte »Bokros-Paket« mit einschneidenden Abstrichen vom Lebensstandard der Durchschnittsungarn. Die Abschaffung sozialer Begünstigungen, die Einschränkung der Löhne und Pensionen, die Einführung von Studiengebühren an den Universitäten und Hochschulen, die gleitende Abwertung des Forints mit einem geschätzten Kursverlust von 26 bis 27 Prozent jährlich sowie andere Steuer- und Zollmaßnahmen reduzierten den Lebensstandard drastisch: Die Reallöhne fielen 1995/1996 um 18 Prozent (nach einem Rückgang um 20 Prozent zwischen 1990 und 1994!) und die Kaufkraft der Renten sank um 25 Prozent. Zwei Kabinettsminister traten aus Protest sofort zurück.

      Durch das »Bokros-Paket« gewann Ungarn das Vertrauen des Auslandskapitals und der internationalen Finanzinstitutionen (Währungsfonds und Weltbank) fast schlagartig wieder. Das Budgetdefizit wurde dann bis Anfang 1998 von 10 Prozent auf 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und die Nettoverschuldung von 21 Milliarden auf 8,7 Milliarden Dollar reduziert. Hand in Hand mit der finanziellen Stabilisierung gelang der sozial-liberalen Regierung eine groß angelegte Privatisierung des Staatseigentums.

      Im Rückblick war dieses Paket wirtschaftlich ein Durchbruch, politisch ein Selbstmord. Obwohl nach dem erzwungenen Rücktritt des mutigen Finanzministers die Reformkonzepte verwässert wurden, begann ab März 1995 der unaufhaltsame Abstieg der sozial-liberalen Regierung. Anfang 1996 lag die Opposition in den Umfragen bereits um 19 Prozent voran. Zum massiven Einbruch des Lebensstandards des »kleinen Mannes«, den ja Ministerpräsident Horn zu vertreten behauptete, kam dann der berüchtigte (verglichen mit der wuchernden Korruption der Orbán-Ära ab 2010 freilich geradezu läppische) Tocsik-Skandal. Es ging darum, dass jede der beiden Koalitionsparteien für ihre Auftragsvermittlung an die Juristin Márta Tocsik jeweils 112 Millionen Forint, eine art »kickback«, erzwungen und erhalten hatte.13 Andere zwielichtige Transaktionen und die staatspolitisch zwar richtigen, aber von den Vertretungen der Auslandsungarn stark kritisierten Grundverträge mit Rumänien und der Slowakei waren auch Wasser auf die Mühlen der Opposition. Orbán griff die Regierung auch in diesen Fragen, mit Unterstützung der Kirchen (trotz der bedeutenden Konzessionen bei der staatlichen Finanzierung im Abkommen mit dem Vatikan), immer schärfer an.

      In einer seiner wichtigen programmatischen Eklärungen am Tag der Bürgerlichen Opposition am 12. Juni 1997 in der Musikakademie hörte man die später von seinen Kritikern oft zitierte Aussage: »Die ungarische Regierung ist trotz unserer Verfassungsgesetze fremdartig, steht nicht unter nationalem Einfluss.« Das nationale Moment wurde immer stärker mit dem Bekenntnis zum Bürgertum ergänzt. In seiner Rede am Fidesz-Parteitag im Februar 1998 verwendete Orbán laut der Statistik seines Biografen Debrezceni auf elf Manuskriptseiten nicht weniger als achtzig Mal das Wort »Bürger«. Ein Rundschreiben der katholischen Bischofskonferenz, das am Ostersonntag in den Kirchen vorgelesen wurde, ließ eine klare Stellungnahme für die bürgerlichen Rechtsparteien erkennen.

      Vier Jahre nach dem kläglichen Fiasko des Fidesz errang die nunmehr eindeutig von Viktor Orbán dominierte Opposition, trotz des Stimmenvorsprungs der Sozialisten in der ersten Runde, durch die Listenverknüpfungen in der zweiten, entscheidenden Runde bei der Verteilung der Mandate in den Einzelwahlkreisen eine klare Mehrheit. Der kurz zuvor noch unvorstellbare Aufstieg des Fidesz zur dominierenden politischen Kraft war die eigentliche Sensation. Für die nächsten vier Jahre wurde die politische Bühne vom »Meteor am politischen Himmel Ungarns« (so Biograf Debreczeni), von der größten Begabung und dem zugleich umstrittensten Machtpolitiker, Viktor Orbán, dominiert.

       Kapitel 5

       DER JUNGE KOMET

      Der überraschende Sieg des Fidesz 1998 machte den Weg frei für einen Umbau des Staatsapparates durch die dominierende politische Kraft. In der zweiten Wahlrunde konnte der Fidesz durch die Unterstützung der anderen Rechtsparteien in den Wahlbezirken die Zahl seiner Mandate auf 148 versiebenfachen. Zusammen mit den wiedererstarkten Kleinlandwirten (48 Mandate) und dem geschrumpften MDF (19 Mandate) bildete Viktor Orbán eine rechtskonservative Koalitionsregierung mit einer starken absoluten Mehrheit. Auf die Unterstützung der 14 Abgeordneten der von dem während der Antall-Regierung aus dem MDF ausgeschlossenen rechtsradikalen Schriftsteller István Csurka gegründeten rechtsextremistischen und antisemitischen Partei MIÉP war er nicht angewiesen. Der Biograf des Regierungschefs, József Debreczeni, zitierte einen Ausspruch Orbáns, allerdings noch aus dem Jahr 1992: »Die Kleinlandwirte-Partei ist am weitesten entfernt vom Fidesz … Mit ihnen eine Koalition zu bilden, darf nicht einmal in unseren schlimmsten Träumen geschehen.« Ironisch fügte der enttäuschte Autor hinzu: »Träume werden manchmal wahr.« Wenn man aber die häufigen Richtungswechsel auch bei rechten sowie linken Parteien im Westen in Betracht zieht, bleibt die Schlussfolgerung unvermeidlich, dass es einen politischen Zynismus gibt, der Werte nur so lange respektiert, als sie nicht mit den eigenen Interessen zusammenstoßen.

       Der PR-Profi

      Der entschlossene und zügige Ausbau des Amtes des Ministerpräsidenten als durchsetzungsstarkes Zentrum der Willensbildung bei gleichzeitiger Schwächung der parlamentarischen Kontrollmechanismen kennzeichnete bereits die vier Jahre der ersten Orbán-Regierung. Im Einklang mit der aus den USA übernommenen PR-Rhetorik stand die Person des Regierungschefs im Mittelpunkt der Kommunikation. Mit vielen charakteristischen Einzelheiten beschreibt Biograf Debreczeni den von der Einmannführung dominierten Regierungsstil. Im Gegensatz zu allen seinen Vorgängern legte zum Beispiel Orbán zwei Tage vor den Ministern den Amtseid als Ministerpräsident ab. Wann immer der 35-jährige Regierungschef den Konferenzsaal vor Beginn der Sitzung des Ministerrates betrat, erhoben sich alle (auch die wesentlich älteren) Minister zur Begrüßung. Es gab in der Regel keine Diskussionen über die vorher im kleinen Kreis um Orbán besprochenen und beschlossenen Vorlagen. Besonders kritisiert wurde die Tatsache, dass über die Sitzungen des Ministerrates weder ein Protokoll angefertigt noch ein Tonband aufgenommen wurde. Nur Zusammenfassungen wurden später verfasst. Diese Praxis war beispiellos, zumal sowohl während der Doppelmonarchie als auch in der Horthy-Ära und sogar während der kommunistischen Parteidiktaturen immer Protokolle über die Kabinettssitzungen aufggenommen worden waren.

      Schon damals löste der Beschluss der Regierung, die Tagesordnung des Parlaments zu ändern, weit verbreitete Kritik aus. Statt wöchentlicher Sitzungen während der ordentlichen oder außerordentlichen Parlamentssessionen wurden nun nur mehr alle drei Wochen Parlamentssitzungen einberufen, dadurch wurde auch das Recht der sofortigen Interpellation


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