Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman. Kathrin Singer
»Hat sie nicht. Hat sie nicht!«, triumphierte sie sofort. »Sie will doch morgen nach München auf Schnäppchen-Suche für Wintersachen. Neue Anoraks und so. Nur für uns.«
»Feinste Sachen werden preislich herabgesetzt und sind dann erschwinglich, Baron«, belehrte Wilma ihn mal wieder.
»Soso. Na, ich geh ihr mal entgegen.«
Wenn er seine Marie mit einer Umarmung empfangen konnte, glitt auch der Unmut über Wilmas ständige Besserwisserei an ihm ab. Auch die Probleme mit der Baubehörde und dem Landratsamt wurden zu Nichtigkeiten. Daran hatte sich seit ihrem ersten zarten Kuss vor vielen Jahren nichts geändert. Und das war gut so!
Er trat in die feuchte Dunkelheit hinaus. Marie stieg gerade aus ihrem Wagen. In der Mitte des Hofes bemerkte sie ihn, schlug sich das Wolltuch um den Kopf und beschleunigte ihre Schritte.
»Puh! Jetzt schneit’s auch noch. Das fehlt mir gerade!«, seufzte sie, als er sie in die Arme nahm. Stefan schmunzelte. Marie gehörte zum Glück zu den Frauen, die weder Freude, noch Ärger, Wut oder Trauer unterdrückten. Bei ihr wusste er immer, woran er war.
»Du hättest deine Freundin Anette ja zum Essen mitbringen können, anstatt nach der Chorprobe wieder so lange mit ihr im Auto zu schwatzen, Liebling!«, scherzte er.
»Anette!«, schnaufte Marie an seiner Schulter. Sie richtete sich auf und sah ihn vorwurfsvoll an. »Du hast Nerven! Ich bin doch zu ihr gefahren, weil sie sich übers Handy nicht meldet. Zum zweiten Mal hat sie heute unentschuldigt die Chor-Probe geschwänzt. Ich weiß gar nicht, was die sich eigentlich denkt.«
»Du warst deshalb bei ihr zu Hause?«
Marie nickte. »Sie war nicht da. Ich hab’ Sturm geklingelt. Alle Fensterjalousien sind unten, als ob sie verreist wäre. Das hätte sie mir doch sagen können!«, schimpfte sie weiter. »Morgen wollen wir nach München zum Shopping. Und bei der Partitur für die dritte Stimme hat sie mir auch Hilfe versprochen. Ich versteh’ sie nicht.« Langsam bewegten sie sich aufs Haus zu. »Sie ist meine beste Freundin, Stefan. Aber sie bringt mich noch so weit, im Gymnasium anzurufen und ihre Kollegen zu fragen, was mit ihr los ist.«
»Nichts ist los, mein Schatz. Anette hat eben auch ein Anrecht auf ein eigenes Leben.« Er hielt ihr die Tür auf. Aber Marie rührte sich nicht von der Stelle. Sie blitzte ihn empört an.
»Eigenes Leben? Also, Stefan! Wir sind ihr Leben! Sie hat doch sonst keinen! Sie gehört zu unserer Familie! Das sagt sie selbst.«
Stefan erwiderte ihren Blick voller Liebe. Seine Marie, die ehemals fast verarmte Herrin auf diesem Hof, war die wunderbarste Ehefrau, die er sich nur denken konnte. Beim Anblick ihres Gesichts mit den hohen Wangenknochen und den kühn geschwungenen Brauen über den olivfarbenen Augen weitete sich jedes Mal sein Herz. Und er hätte die Arme ausbreiten und außer ihr und den Kindern das gesamte Universum umarmen können.
Maries Lippen schoben sich schmollend hervor. Sie ahnte ja nicht, was in ihm vorging. »Nimm Annette bloß nicht in Schutz! Sie muss doch wissen, was sie an uns hat. Mit ihren Kollegen verbindet sie privat kaum etwas, nur ihre Schüler geben ihrem Leben einen Sinn …, ja, und wir. Und unsere Kinder.«
»Trotzdem haben wir kein Recht, zu viel von ihr zu verlangen. Wenn sie verreisen möchte, soll sie’s tun.«
»Unsinn! Jetzt in der Schulzeit? Bis zu den Zeugnissen und den kurzen Faschingsferien sind es noch vier Wochen.«
»Bist du denn sicher, dass ihr nichts fehlt?«
»Natürlich. Anette war noch nie krank. Du kennst sie doch.«
Ja, Stefan kannte Anette Lichtner gut. Seit die junge Lehrerin vom Gymnasium in Altendorf vor zwei Jahren in den Kirchenchor eingetreten war, hatte sich zwischen ihr und Marie eine innige Freundschaft entwickelt. Marie, die als Einzelkind aufgewachsen und nach dem frühen Tod ihrer Mutter schwere Zeiten durchlebt hatte, sah in Anette sogar eine Art Schwester-Ersatz. Reserl, Jossi und Dany liebten die Dreißigjährige wie eine Tante, und er schätzte an ihr, dass sie Marie zuweilen nach München überredete. Damit brachte sie zusätzlich Farbe in Maries arbeits- und pflichtenreiches Leben. Und einen guten Einfluss übte Anette auf die neuerdings so aufmüpfige und trotzige Reserl aus.
Aber das alles war kein Grund, von ihr zu erwarten, dass sie der Familie Weißenberg jede ihrer freien Stunden opferte.
»Komm erst mal rein, mein Schatz. Das Essen steht auf dem Tisch.«
Er sah noch, wie Kater Pascha aus der Tür schlüpfte. Dann schloss er sie und half Marie aus dem Anorak, um die letzten Sekunden allein mit ihr im schummrigen Gang für einen zärtlichen Kuss zu nutzen.
*
Zwei Stunden später fuhr Stefan in seinem Geländewagen die Anhöhe hinab. Über den Wiesen lag tatsächlich eine dünne Schicht Neuschnee. Mit rhythmischen Ticken schob der Scheibenwischer die Flocken von der Windchutzscheibe.
Er dachte an Marie, die sich gleich, nachdem die Kinder im Bett waren, an ihren Stutzflügel im Kaminzimmer gesetzt hatte, um sich nun ohne Anette mit der Partitur für die dritte Stimme eines Chorals abzuquälen. Sie hatte die Noten heftig hingekritzelt und die Violin-Schlüssel mit wütendem Schwung aufs Blatt gesetzt. Als er sie umarmte und Anette noch einmal in Schutz nehmen wollte, wäre er fast explodiert. Da wusste er, er musste sie allein lassen, wie meistens, wenn es ihr um den Kirchenchor ging.
Nun war er auf dem Weg zum Stammtisch im Gasthof Seehof, wo er als Lieferant des köstlichen Weißenberg-Gemüses gern gesehen und allmählich sogar wie ein Einheimischer respektiert wurde. Er traf dort den Bürgermeister, Kollegen aus der Umgebung und manchmal auch den Pfarrer an. Man tauschte sich übers Wetter und wichtigere Ereignisse aus, aber oft ging es zurzeit um den verstorbenen Landarzt, für den sich kein geeigneter Nachfolger finden ließ.
Stefan freute sich auf ein Feierabend-Bier und wollte gerade ein Liedchen vor sich hinpfeifen, als sein Handy brummte. Nach wenigen Metern hielt er auf der Landstraße. Sein erster Gedanke galt Marie. Hatte sie es sich anders überlegt und brauchte ihn doch als Stimmungsaufheller an diesem Abend?
»Stefan!«, hörte er Anettes Stimme. »Stefan, bitte, ich brauch deine Hilfe. Komm bitte sofort zu mir. Klingel einmal kurz und zweimal lang.« Ihre Stimme bebte.
»Was ist los, Anette?«
»Frag nicht. Ich erklär’s dir, wenn du bei mir bist.«
»Geht es dir nicht gut?« Nur so konnte er sich ihren plötzlichen Hilferuf erklären. Sonst telefonierte sie immer nur mit Marie.
»Meine Gespräche werden abgehört. Bitte, komm!«
Stefan stockte der Atem. Er wendete und raste los. Wer hörte Anettes Gespräche ab? Brachte sie da was durcheinander? Anette Lichtner unterrichtete im Altendorfer Gymnasium Latein in der Unterstufe und Geschichte in der Mittel- und Oberstufe. Wie geriet sie da in Agentenkreise? Sie stammte aus einer Lehrersfamilie am Chiemsee und war eine mustergültige Pädagogin. Sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und war bei den Altendorfern beliebt, weil sie immer den richtigen Ton fand, ohne ihre akademische und recht umfassende Bildung anklingen zu lassen.
Ja, und wenn sie mit seinen Kindern auf dem Weißenberg-Hof tobte oder mit Marie über den letzten Film diskutierte, konnte sie so herzlich lachen, wie sie es in der Schule wohl nie wagte.
Zwanzig Minuten später parkte er in einer stillen Straße der Kleinstadt Altendorf. Während er auf das schlichte Apotheken-Haus zuging, in dessen erster Etage sich Anettes Wohnung befand, bemerkte er die heruntergelassenen Jalousien. Tatsächlich! Alles war so, wie Marie es ihm beschrieben hatte. Da wurde auch er unruhig.
Er klingelte, wie Anette es wünschte, und drückte gegen die Tür. Bevor er eintreten konnte, schaute er aufmerksam die Straße entlang. Nichts geschah hier an einem Abend, außer dass der Schnee leise rieselte. Es war zwanzig nach neun, und in einem Ort wie Altendorf begann da schon die Schlafenszeit.
Anette erwartete ihn oben an der Treppe. Sie war fünf Jahre jünger als seine Marie und hätte glatt als ihre kleine Schwester durchgehen können,