Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman. Kathrin Singer
war herrliches Wetter. Er fuhr die Landstraße zur Autobahn entlang und entdeckte am Wald bereits einen Hauch zarten Grüns. Primeln, dachte er. Wunderbar! Wenn es so sonnig blieb, konnte er mit den Kindern bald einen Strauß für Marie pflücken.
Der Gedanke an seine geliebte Marie ließ ihn die Luft heftig ausatmen. Das waren die Schuldgefühle, die ihn heute plagten. Hätte er ihr heute Morgen vorschlagen sollen, mit nach München zu kommen? Marie hätte Fragen gestellt. Darum war es ihm ganz recht, wenn sie mal wieder Frau Osterloh besuchte.
Aber es bedrückte ihn doch, ihr den wahren Grund seiner Fahrt nach München zu verschweigen. Mit den feinen Antennen einer liebenden Ehegattin kam Marie schnell dahinter, wenn etwas nicht stimmte. Und musste er dann sein Versprechen brechen und ihr von Anettes verzweifelter Suche nach einem Lebensgefährten oder Ehemann erzählen? Nein, das brachte er auch nicht übers Herz. Ein Baron von Weißenberg hielt sein Versprechen.
Auch, wenn Anette und Doktor Bahring sich heute im Café am Dom begegneten und sofort Gefallen aneinander fanden, durfte er ja noch nicht plaudern. Erst, wenn dieser Arzt Anettes Vorstellungen entsprach und beide ein glückliches Paar waren, konnte er sich von der Last dieses Geheimnisses befreien.
»Puuh!«, machte Stefan und stieß ein Gebet zum Himmel aus. »Lass Anette den Kopf verlieren, bitte! Damit sie endlich glücklich ist und zu uns zurückkehrt!«
Eine knappe Stunde später saß er in einer Nische des Cafés. Den Cappuccino vor sich hatte er noch gar nicht angerührt, als er einen gut aussehenden und korrekt gekleideten Mann bemerkte, der mit einem großen Tulpenstrauß an den Tischen vorbeiging. Ob das Doktor Frank Bahring war? Dann hatte Annette einen guten Griff getan. Das Äußere des Kardiologen war wirklich ansehnlich. Stefan trank einen Schluck. Aber wo blieb Anette? Hatte sie im letzten Moment etwa Angst bekommen? War er dann vergeblich nach München gefahren? Warum hatte sie ihn nicht angerufen?
Kaum hörbar zischte er durch die Zähne. Anette würde sich doch nicht zu einem Problemmädchen entwickeln und ihn noch Monate lang in Trab halten?
Da sah er sie kommen! Stefan staunte. War sie das? Was war mit ihr los? Sie schien ihm völlig verändert! Ein flotter Haarschnitt und dazu geschminkte Lippen! Und nichts von ihrem Trachten-Look! Sie trug einen Hosenanzug wie Marie und dazu ein modisch gemustertes, weites Tuch um die Schultern geschlungen! Alle Achtung!
Angespannt, als habe er sich in einen Krimi vertieft, beobachtete er die Begrüßung der beiden. Anette lachte. Nicht laut, aber doch bis zu ihm vernehmbar. Der Tupenstrauß wanderte in ihren Arm, Doktor Bahring rückte ihr galant den Sessel zurecht und winkte der Bedienung, um nach einer Vase zu fragen. Dann setzte er sich so, dass er Stefan den Rücken zuwandte.
Eine Stunde verging. Die beiden unterhielten sich prächtig, und nachdem Stefan einen zweiten Cappuccino und ein Glas Tomatensaft getrunken hatte, spürte er, dass sein Magen damit nicht zufrieden war. Es zog ihn heim auf den Weißenberg-Hof und an den Abendessentisch mit seiner Familie. Aber wie lange wollte Anette sich noch mit ihrem Verehrer befassen? Konnte er sie allein lassen?
Schließlich erhob er sich und schlenderte an ihrem Tisch vorbei zu den Toilettenräumen. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich ihre Blicke. Ihre Augen strahlten, das stand schon mal für ihn fest.
Als er die Räumlichkeiten für Herren wieder verließ, blieb er länger im Vorraum stehen. Und tatsächlich! Prompt huschte Anette vorbei.
»Gut gemacht, Stefan. Danke, danke, danke.«
»Aber ich werde jetzt heimfahren«, verkündete er zaghaft, weil er mit einem Protest rechnete.
Da schlang sie die Arme um ihn. »Ja, fahr nur! Ist er nicht süß, Stefan? Richtig schnuckelig! Er führt mich nachher zum Essen aus!«
»Und du bist sicher, er rückt dir nicht auf die Pelle?«
»Bestimmt nicht! Der Mann hat Format! Und Humor! Ich frage mich wirklich, was ihn dazu brachte, auf meine Anzeige zu schreiben. Er sieht soo gut aus. Er ist ein Traummann, Stefan!«
Und schon wieder hob sie sich auf die Zehenspitzen und legte die Arme um seinen Nacken. »Danke, Stefan! Für deine Hilfe und alles andere, womit du mich aufgebaut hast!« Husch!, spürte er ihre Lippen an seiner Wange. Und ihr Blick verriet ein unverhofftes Glück, das die ganze Welt und natürlich Herrn Doktor Bahring einschloss.
»Lass ihn nicht sehen, dass du hier im Vorraum einen Fremden umarmst, Anette!«, füsterte er amüsiert. »Das hält der tollste Traummann nicht aus!« Damit entwand er sich ihr und schlenderte durchs Café zu der Bedienung, um seine Rechnung zu begleichen.
Draußen dämmerte es schon. Aber ein feiner Duft des kommenden Frühlings zog durch die Stadt. Wenn es ihn trotzdem auf schnellstem Weg zum Weißenberg-Hof zog, dann nur, weil er sich nach Marie, Reserl, Jossi, dem Autoschlüssel-Dieb Dany und zu Wilmas gutem Abendessen zog.
*
Es war ja erst Vorfrühling, aber die Sonne zeigte sich schon mit aller Kraft. Am frühen Morgen schickte sie die ersten Strahlen ins Schlafzimmerfenster von Stefan und Marie. Sie krochen über die Decke und direkt auf ihre Nasenspitze zu.
»Tschi!«, machte Marie und schlug die Augen auf. Noch schlaftrunken lächelte sie Stefan an, der sich schon über sie gebeugt und sie liebevoll betrachtet hatte. »Guten Morgen, mein Liebster!« Sie schlang die nackten Arme um ihn und schmiegte ihr Gesicht an seins. »Was war das nur für eine Nacht!«, hauchte sie lächelnd. »Wie zu unseren besten Jugendzeiten!«
»Beste Jugendzeiten? Sind wir nicht mittendrin?« Er küsste sie.
»Angeber! Du mein allerleidenschaftlichster Angeber!«
»So? Meinst du? Du hast dafür im Schlaf gemurmelt, meine Marie!«
Sie stöhnte leise. »Ja, ein schrecklicher Traum! Ich habe mit Anette gestritten. Es ging um Frau Osterloh …!«
»… und ihre Migräne?«
Sie stützte sich auf. »Darüber scherzt man nicht, Stefan. Sie tut mir leid.« Dann schlug sie die Augen zu ihm auf. »Irma Osterloh ist doch eine nette Frau. Aber so eine Freundin wie Anette wird sie mir nie. Und doch …« Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Verstehst du endlich, wie viel Anette und mich inzwischen trennt? Kein Kirchenchor, keine gemeinsamen Abende oder Ausflüge mehr.Wenn ich nur wüsste, was ich ihr angetan habe.«
»Du? Du kannst keinem etwas antun, mein Liebling.« Stefan wandte sich von ihr ab. Sie sollte ihm nicht ansehen, wie er nach Worten suchte. »Anette ist jetzt eben mal mit sich selbst beschäftigt. Wahrscheinlich steht sie an einem Scheideweg. Und wenn sie ihre Richtung gefunden hat, kommt sie zu uns zurück.«
»Scheideweg? Wie kommst du denn darauf? Ist Anette meine Freundin oder deine? Ich kenne sie doch besser. Sie ist keine Frau, die am Scheideweg steht. Die lebt für ihren Beruf und geht zufrieden auf ihre Zukunft zu.« Mit der Faust berührte sie leicht seinen Rücken. »Gib doch zu, dass sie dich auch enttäuscht. Und unsere Kinder …«
Draußen machten sich die Kinder bemerkbar. Gleich würden Dany und Jossi zu ihnen hereinstürmen. Stefan, der einem längeren Gespräch über Anette ausweichen wollte, drehte sich zu Marie um. Er sah sie verliebt an.
»Bleib noch etwas liegen, mein Engel. Ich bringe die Kinder heute weg. Aber grüble nicht mehr. Dich trifft keine Schuld.« Seine Lippen strichen über ihre Stirn, er zog sie kurz in seine Arme. Dann verließ er das Bett und verschwand nach nebenan ins Bad.
»Danke, Schatz!«, rief sie ihm nach. »Ich hole unsere drei dann aber ab. Vorher fahre ich mit Frau Osterloh zum Friseur nach Traunstein, bin aber rechtzeitig am Kindergarten und vor der Schule.«
Da öffnete sich die Tür. Dany stürmte halb angezogen herein, Jossi brachte ihre Haarspange zu Marie, damit sie ihren Schopf zusammenfasste, und zum Schluss folgte Reserl mit der Frage, ob sie zu einem dicken Pullover nicht endlich den langen bunten Rock von Wilma als Hexenrock zur Schule anziehen dürfe. Das redeten Stefan und Marie ihr mal wieder erfolgreich aus.
Später, als Marie Stefans Wagen draußen anfahren hörte, legte sie sich mit geschlossenen Augen in die