DER ZAR. Ted Bell

DER ZAR - Ted  Bell


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Hebel links neben dem Lenkrad und blendete ab. Na bitte. Das war besser. Weniger Schnee, mehr von der Straße.

      Er hatte nicht damit gerechnet, bei seiner nächtlichen Fahrt mitten in die Pampa geradewegs in einen üblen Schneesturm zu geraten. Er war ein russischer Einwanderer und wohnte in Brooklyn, wo es anständige Highways gab, etwa den Brooklyn Queens und Long Island Expressway. Ja selbst den Santa Monica Freeway drüben in L.A. ließ er sich gefallen, aber diese Piste hier? Norddakota? Vergiss es, Mann. Er kam sich vor wie auf dem Mars.

      Als er auf seine protzige Goldarmbanduhr schaute und sah, wie spät es war, beschleunigte er und geriet leicht ins Schlingern. Dabei wanderte die rote Nadel des Tachometers an der 80 vorbei. Hoffentlich war das eine Karre mit Antriebsschlupfreglung. Eigentlich hatte er gedacht, diese neuen Autos besäßen Schalter dafür, doch ein solcher ließ sich nicht finden. Er verstand zwar nicht so recht, was Antriebsschlupfreglung bedeutete, doch für ihn klang der Begriff schlüssig. Als es noch kräftiger zu schneien begann, blieb er stehen, um nach der Funktion zu suchen.

      Kein leichtes Unterfangen. Am Armaturenbrett gab es eine ganze Menge Knöpfe und Schalter, doch keiner deutete auf diese Reglung hin. Dass Detroit den Bach runterging, war kein Wunder. Kein Schwein wusste mehr, wie man mit den blöden Karren umzugehen hatte. Aus unerfindlichem Grund hatte einige Jahre zuvor irgendein Intelligenzbolzen in Motown gemeint, ein jeder in Amerika wünsche sich Bedienfelder, die dem Cockpit einer Boeing 747 gerecht geworden wären. Jetzt sahen alle Autos innen so aus, und niemand hatte eine Ahnung davon, welche Taste wozu gut war.

      Beim Kramen im Handschuhfach fand er natürlich keine Betriebsanleitung, nur seinen Mietvertrag, eine Faltkarte des Bundesstaates, die er nicht brauchte, und seinen .38er Revolver mit kurzem Lauf, den er am liebsten nicht gebrauchen würde. Da ihm wirklich die Zeit fehlte, um sich länger mit diesem Problem herumzuschlagen, zog er wieder nach links auf die Fahrbahn der Interstate 94 und setzte seinen Weg nach Westen fort. Wenn das mal gut geht …

      Vielleicht, so redete er sich letztlich ein, gehörte die Antriebsschlupfreglung zur Standardausstattung dieses Wagens. Obwohl er ein wenig fester aufs Gas trat, wäre er ungefähr eine Stunde zuvor beinahe in einen Graben abgedriftet – zweimal. Die Straße auf jenem Abschnitt war so mies gewesen, dass die Fahrt mit dem Versuch gleichzusetzen gewesen war, einen Schulbus über einen zugefrorenen See zu bringen. Verflucht!

      Das Auto, ein schwarzer Mustang Coupé, den er bei Hertz am Flughafen Bismarck gemietet hatte, verfügte über eine anständige Heizlüftung, zumindest wenn man den Knopf zum Einschalten ausfindig machte. Er war nur zufällig bei der Suche nach dem Antriebsschlupf-Dingsbums darauf gestoßen, genauso wie er endlich aus Versehen auf die Power-Taste des Radios gedrückt hatte. Ein schwacher Trost, dass dank eines früheren Mieters mehrere gute Sender gespeichert waren … Das musste ein findiger Elektrotechniker oder Kampfpilot gewesen sein, denn sonst bekam das wohl keiner hin. Knopf versenkt, Einsatzziel erreicht, Ende der Durchsage.

      Paddy hörte sich eine Chicagoer Talkshow an, die die ganze Nacht andauerte. Der Empfang war ziemlich gut, die Sendung auch – The Midnight Hour –, und der Moderator hieß Greg Noack. Heute ging es um die Todesstrafe, worum auch sonst? Der alte Stumpy sollte an diesem Abend nämlich unter die Nadel kommen.

      Alle im Land, nicht nur in Chicago, redeten über Charles Edward Stump, den man besser unter seinem Spitznamen kannte: Stumpy der Babymörder. Nun ja, alles drehte sich um seine bevorstehende Hinrichtung. Dieser Falle hatte die Aufmerksamkeit der Medien auf der ganzen Welt erregt, also nicht nur die der Regenbogenpresse.

      Um genau zu sein, fuhr Fjodor Strelnikow, der schon seit seiner Kindheit Paddy gerufen wurde, in dieser absoluten Elendsnacht just wegen Mr. Stump durchs Ödland von Norddakota. Die Hinrichtung war für null Uhr anberaumt, also in exakt zwei Stunden und sechs Minuten, wie er bei einem neuerlichen Blick auf die Uhr erkannte. Stumpys Abschiedsparty ging im Little Miss über die Bühne, wie das Staatsgefängnis Little Missouri unmittelbar außerhalb der Stadt Medora in Norddakota im Knastjargon abgekürzt wurde.

      Bis dorthin waren es von hier aus noch annähernd 67 Meilen.

      Paddy drückte das Pedal noch ein Stück weiter zum Bodenblech durch. Er hatte zwar Zeit genug, um zu tun, was er tun musste, wollte es aber nicht zu knapp werden lassen. Rein dort, Lieferpflicht erfüllen und schleunigst wieder raus aus diesem beschissenen Staat. Er musste davon ausgehen, dass der Laden gerammelt voll sein würde, weil sich all die Demonstranten und Medienvertreter dort tummelten. Bei 100 Meilen die Stunde beschleunigte er nicht weiter.

      »Die Frage, auf die es ankommt, lautet: Ist Charles Stump geistesgestört?«, warf jemand im Radio ein.

      »Geistesgestört?«, wiederholte Greg Noack. »Jemand, der acht neugeborene Säuglinge in ihren Brutkästen tötet, während ihre Mütter auf der Entbindungsstation ein paar Türen weiter schlafen, ist völlig krank, Mann!«

      »Genau darauf wollte ich hinaus, Greg. Stumpy ist wegen Unzurechnungsfähigkeit schuldfrei. Warum will das rechten Schwachköpfen wie dir oder Rush Limbaugh nicht einleuchten?«

      In diesem Tonfall ging es Anruf um Anruf weiter. Die Tränendrüsendrücker bevölkerten den Äther in dieser Nacht scharenweise. So wie es aussah, hatten sich neben der Reporterriege zwischen 300 und 400 Personen bei Minustemperaturen vor den Toren der Haftanstalt Little Miss versammelt. Man zündete Kerzen an – viel Glück bei dem Wetter –, protestierte gegen die Todesstrafe, pochte auf geistige Verwirrung des Täters zum Zeitpunkt der Morde, Stumpy sei schließlich von seiner durchgeknallten Mutter missbraucht worden, bla, bla …

      Als ob dies eine Entschuldigung sei! Der Kerl sollte nicht über den Jordan gehen, weil er angeblich auch ein Opfer war? Schon klar. Heutzutage durfte sich jeder zum Opfer stilisieren. Hitler war auch eins gewesen, ganz bestimmt. Seine Mama hatte ihn geschlagen, wenn mal wieder was in die Hose gegangen war. Bei diesem Typen, dem momentan vermutlich verhasstesten Menschen auf der Welt, bestanden keine Zweifel, und trotzdem liebäugelte der Gouverneur zu dieser Stunde mit Strafaufschub. Ernsthaft? Politik. Genug damit. Wenigstens die Geschworenen vor Gericht hatten den Schneid besessen, Stumpy als skrupellosen Kindermörder abzuurteilen.

      Paddy Strelnikow indes wusste, dass mehr hinter Stumpy steckte.

      Viel mehr.

      Er hatte den Mann zu seinem Hobby erkoren, als er mehrere Monate zuvor von der Moskauer Obrigkeit mit seinem gegenwärtigen Auftrag betraut worden war. Vor Aufsetzen seines Berichts hatte er alle Transkriptionen des Prozesses gelesen, hier und dort jemandem einen Drink spendiert, Krankenschwestern verhört, die in der Tatnacht Schicht hatten, außerdem den Typen von der Polizeihundestaffel, der auf die verscharrten Babyleichen gestoßen war, sowie die für die Festnahme zuständigen Beamten, den Gerichtsmediziner – die ganze Bagage.

      Danach war er auf ein Schwätzchen mit Mrs. Stump nach Lorraine im Staat Illinois gefahren, wo sie schon seit 1993 in einer Klapsmühle Kreuzworträtsel löste. Schöne Geschichten konnte sie erzählen, diese kleine Weißhaarige mit ihren knapp 40 Kilo und einem gehörigen Riss in der Schüssel …

      Laut Mom in ihrem properen Hauskleid mit langen Ärmeln, die man einmal ganz um den Oberkörper gewickelt und mit stabilen Schnallen am Kreuz fixiert hatte, habe sich der junge Charlie als kleiner Wicht die Zeit damit vertrieben, Insekten, Goldfische, Nagetiere und zuletzt Kätzchen in eine alte Mikrowelle im Keller der Familie zu stecken. Er hatte sie auf der höchsten Leistungsstufe des Geräts gegrillt. Dann war er zu höher entwickelten Lebensformen übergegangen.

      Arzthelfer Stumpy, ihr Goldjunge, habe jahrelang Säuglinge und ältere Kinder vergewaltigt und umgebracht, so seine Mom zu Paddy, wobei da ein Funkeln in ihren auf unheimliche Weise hervorgetretenen, blauen Augen gewesen war. Und was dann? Na, Stumpy hatte gemeint, die Angehörigen seiner Opfer zur Weihnachtszeit anrufen und mit Andeutungen, ihr Nachwuchs sei noch am Leben, in den Wahnsinn treiben zu müssen. Woher sie das alles wisse, hatte er gefragt. Sie sei im Obergeschoss gewesen und habe an ihrem anderen Telefon zugehört – daher. Dies waren die Vorstellungen der Familie Stump von Feiertagsunterhaltung, ihre besonderen Weihnachtsgrüße.

      Sein letzter Bericht enthielt all diese Informationen. Er hatte ihn an seinen Vorgesetzten geschickt, der ihn an seinen eigenen Boss weitergegeben hatte, der wiederum


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