Der Wendekreis: Novellen. Jakob Wassermann

Der Wendekreis: Novellen - Jakob Wassermann


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er damit gemeint haben? Abgesehen von Kießling, schildern ihn auch sonst Leute, die ihn kannten, nicht als schlecht; es sind meist Leute, denen man ein unbefangenes Urteil zutrauen darf. Sie bezeichnen ihn als schwachen, leicht verführbaren Charakter, als einen Menschen ohne Verwurzelung gleichsam; ausschweifend wie einer, der sich betäuben will, arbeitsscheu wie einer, der fortwährend auf der Flucht ist und verfolgt wird, lasterhaft aus innerer Öde, aber keineswegs schlecht. So beurteile auch ich ihn jetzt. Aber von wem fühlte er sich eigentlich verfolgt? wem hat er getrotzt? was war zu betäuben? Ich glaube, wir beide, Urbas, wir wissen es. Wenn auch die ganze Welt darüber sich den Kopf zerbricht, wir wissen es. Bis zu jenem Abend in der Kammer haben Sie es nicht gewußt. Dort haben Sie es erfahren.«

      Er atmete auf; sein Gesicht zuckte wie von inneren Stößen; er schien etwas sagen zu wollen, aber er vermochte es nicht. Doch die Lichter und Schatten in diesem kantigen, kraftvoll bewegten und wahrhaftigen Antlitz hatten ihre eigene Beredsamkeit; das düstere Staunen, der fast abergläubische Schrecken über die plötzliche Enthüllung dessen, was er für sein unantastbares, ewig verwahrtes Geheimnis gehalten, war von ihm gewichen, aber da er das Geheimnis nicht mehr zu schützen hatte, war auch das Gemüt der schweren Last entledigt; daher dies tiefe Aufatmen, das mich bewegte. Ich fand mich verpflichtet, ihm noch über die letzten Hemmnisse zu helfen, und ich sagte: »Erwägt man es genau, so sind die Menschen weit übler daran als die Tiere. Die Tiere können einander nicht mißverstehen. Die Menschen mißverstehen einander im Blut wie im Geist; der Bruder den Bruder, der Freund den Freund, der Vater den Sohn. Jeder steckt in seinem Mißverstehen wie in einem schwarzen Kellerloch, aber eine wunderliche Verblendung macht, daß er es für eine hellerleuchtete Wohnstube hält. Und wenn er meint, daß der Herrgott selber sich um ihn bemüht und ihn zu seinem Sprachrohr auserwählt, so zeigt sichs am Ende, daß es bloß der Teufel war. Dreizehn Jahre lang war Ihr ganzes Trachten auf einen Sohn gerichtet, und wie er dann da war, haben sie achtzehn Jahre lang gebraucht, um dahinter zu kommen, was es mit ihm für eine Bewandtnis hatte; und da wars zu spät. Ists also nicht kläglich bestellt um die menschliche Vernunft und Weisheit? Wozu noch fernerhin sich verstecken, Urbas? Welchen Zweck soll es haben, sich eines Verbrechens anzuschuldigen, das Sie nicht begangen haben? sich Mörder zu nennen an dem, der sich selbst den letzten Weg gewiesen hat? Wozu das frevle Spiel mit der irdischen Gerechtigkeit? wozu, Mann, wozu?«

      »Das will ich Ihnen einbekennen, wozu,« sagte Urbas, »weil nun meine Partie doch ganz und gar verloren ist. Ich will es Ihnen einbekennen, aber haben Sie Geduld mit mir; es fällt mir schwer.« Seine Blicke suchten innen; seine Finger bewegten sich, als suchten auch sie: das einschränkendste und unbedingteste Wort, die verläßlichste Übermittlung. Er begann stockend: »Es ist wahr, ich bin hinüber zu ihm, um ihm das Geld zu geben. An Amerika hab ich nicht gedacht; nur möglichst schnell fort mit ihm, dacht ich, und möglichst weit, damit einem wenigstens der Gendarm im Haus erspart wird. Ich bin hinübergegangen, und weils finster in der Kammer war, hab ich erst die Kerze anzünden müssen, und da ist er auf seinem Bett gelegen und hat mich angeschaut. Es ist wahr, er hat das Geld nicht genommen; er hat das Gesicht zur Wand gedreht und die Zähne geknirscht und gesagt, ihm könne das nicht mehr nützen. Ich bin vor der Bettstatt gestanden und spreche zu ihm: steh auf, wenn dein Vater vor dir steht. Da dreht er das Gesicht wieder zu mir, und weil eitel Spott und Hohn drin geschrieben ist, schwillt mir der Zorn, und ich sage: steh auf, wenn dein Vater vor dir steht. Er aber spricht: warum soll ich denn aufstehen, da Ihr mich niedergeworfen habt? Die Fäuste ballen sich mir wie von selber, und ich frage: wie denn? wie soll ich dich denn niedergeworfen haben, du Luder? Da kommt es aus seinem Mund hervor: Ihr. Weiter nichts. Ihr, sagt er. Ich blick ihn an, und er blickt mich an, und eine Zeit vergeht so, dann wieder: Ihr. Darin war soviel Gift und Wut und Geifer und solch ein verkrampftes, rabenböses Grollen, daß mir der Speichel im Munde bitter wird. Was denn, Ihr? ruf ich ihn an; was denn, Ihr? O Ihr, spricht er hinter den Zähnen hervor, Ihr seid mir auf der Brust gehockt, mein Lebenlang. Da schwieg ich. Ihr habt gut vor mir stehn und blitzen mit Euren Augen, fährt er fort; soll denn das nicht endlich aufhören, daß Ihr mich anschaut mit Euren Augen? So ists immer mit Euch gewesen; anschaun, anschaun, und kein Wort. Hinterm Tische sitzen und alles von einem wissen, und kein Wort. Weit habt Ihr mich gebracht mit Eurem Anschaun und Anschaun. Warum habt Ihr mich nicht genommen und zu mir geredet? Niemals ein einziges Wort geredet? Da muß einen ja die Verzweiflung packen. Wie soll er denn da nicht zu den Menschern und zu den Saufbrüdern laufen? Die reden doch, die lachen doch, die haben doch ein gutes Wort für einen, die sagen Hü und Hott, und man weiß, wie man mit ihnen dran ist. Ihr aber, hab ich gewußt, wie ich mit Euch dran bin? Er liegt wieder auf der Lauer, dacht ich; er hat was gegen dich vor, dacht ich. Ein Büblein war ich noch, ist mir schon der Bissen im Hals steckengeblieben, wenn Ihr zur Tür hereingetreten seid. Hundertmal und hundertmal hab ich zu Euch hingewollt, aber die Angst vor Euch hat mirs verwehrt. Was hab ich denn verbrochen? dacht ich, und wie ich dann was angestellt, war mir wohl und hab wenigstens gewußt, warum, und so hat mirs nie Ruh gelassen, bis ich nicht was Heilloses getan und den Leuten die Galle aufgeregt. Ja, ich bin schlecht, aber ich weiß nicht, ob ichs von Geburt bin; ja, ich bin zum Lumpenkerl geworden, aber Ihr braucht Euch deshalb nicht wie der heilige Geist vor mir aufpflanzen, sondern solltet nachprüfen, was Ihr an mir gefehlt habt. Denn es hätte sein können, daß ich Euch hochgeehrt hätte, wies in den zehn Geboten steht und kirre gewesen wäre wie ein Star. Das hätte sein können, weils in mir war und bloß herausgetrieben worden ist. Bin ein Hundsfott geworden, und das Leben ist mir leid, und die Menscher und die Saufbrüder sind mir leid, und es freut mich nicht mehr. Dieses spricht er, und noch einiges, ich habs vergessen, und wälzt sich auf der Bettstatt; und knirscht mit den Zähnen; und flennt; und lacht ingrimmig; und kehrt sich wieder zur Wand; und schweigt. Ich denke mir: Urbas, die Seele da ist hin, aber deine vielleicht auch. Worte hatt ich keine. Es war eben so; was hätts gefruchtet, meinen Schöpfer anzuwinseln? Worte hatt ich keine. Ich geh hinaus. Im Hofe schreit ich bis zum Zaun. Es ist alles so friedlich wie in Frühjahrsnächten, wenn die Wurzeln in der Erde ihren Saft spinnen. Ich schaue zu den Sternen hinauf, aber das kann mir nicht dienen. Ich mache die Stalltür auf und schnuppre die saure, warme Luft, und einer von den Ochsen hebt den Kopf, indes er mit den Zähnen mahlt. Da überläufts mich schauerlich, und ich denke: du mußt zurück in die Kammer, und wenn du gleich keine Worte findest, irgendwas muß sein. Nun bin ich zurückgegangen, und wie ich eingetreten war, ist er bereits in seinem Blut gelegen. Da bin ich dann eine lange Weile gestanden, dann hab ich mir gesagt: wenn dem so ist, so bist du der Mörder; hat er die Schuld bei dir gut, so mußt du sie bezahlen. Das ist es, was ich einzubekennen habe.«

      Er kreuzte beide Hände über der offenen Bibel, und mit leiserer Stimme und sonderbar umschattetem Blick fuhr er fort: »Ich habe einen Traum gehabt, den will ich Ihnen noch erzählen. Es war in der Nacht, bevor sich das ereignet hat. Der Knecht tritt in die Stube und spricht: Bauer, die Gäule sind eingeschirrt, wir wollen fahren. Ich geh hinaus, es liegt tiefer Schnee, die Pferde stehn am Wagen, und ich fahre. Mit eins verlieren wir die Straße, und die Gäule waten im Schnee bis an den Bauch. Da seh ich auf einmal den Hof hinter mir brennen und das Schneefeld ist rot beschienen. Die Gäule fangen an zu laufen und ziehn mich an der Leine mit, daß mir der Atem ausgeht. Ich kann die Leine nicht loslassen, sie ist um die Hand herumgeschlungen, und wie wir gegen die Altmühl herunterkommen, dort bei der Eisenbahnbrücke, wo das Wasser sechzig Ellen breit ist und mehr als zehn tief, da rennen die Gäule noch toller, und die Brandlohe bedeckt den ganzen Himmel. Der Fluß ist zugefroren, die Gäule drauf zu, und ich denke mir in meiner Angst: wirds die Pferde samt dem Fuhrwerk tragen? Die Gäule, schwere Ackergäule, sausen das Ufer hinunter, aber das Eis hält. Da steht der Simon am andern Ufer, und weil die Tiere auf der gefrornen Bahn weiterrennen, schrei ich zu ihm hinüber: Hilf, Simon. Und er: ich muß heimgehen, der Stall brennt, das Haus brennt. Und ich, ich kann mich nicht auf den Wagen schwingen, die Gäule schleifen mich bereits, schrei in der höchsten Not: Hilf, Simon, lös’ mich vom Riemen los. Und er: müßt Euch selber vom Riemen lösen, uns zweie trägt das Eis nicht. Da ruf ich ihm zu: alles ist dein, die Gäule und das Fuhrwerk, hilf um Gotteswillen. Nun kehrt er um, und wie er umkehrt, stehen die Gäule still; aber wie er den ersten Schritt tut, kracht das Eis, und wie er das hantige Pferd am Zügel faßt, bricht das Eis, und Fuhrwerk und Gäule und ich samt dem Simon versinken im Wasser. Und im Versinken bin ich aufgewacht.«

      Er verstummte. Er erwartete keine Einrede mehr, ich hatte auch keine mehr. Mit Erstaunen beobachtete ich, wie sein


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