Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Walther Kabel
Kummers hatten etwas Melodisches an sich.
Ich schlich leise näher, ganz leise. Nun bog ich um das Gestrüpp. Es bildete hinter der Eberesche etwas wie eine Laube. Und dort saß ein junges Weib mit wundervollem Blondhaar, das in breitem Zopf um das Hinterhaupt gelegt und vorn lose gescheitelt war.
Eine Ahnung sagte mir: Die blonde Madonna!
Von dem Gesicht konnte ich nichts sehen; das bedeckten die Hände, während die Ellenbogen sich auf die hochgezogenen Knie stützten.
Gerade jetzt stieß das Mädchen, das ein blauggraues, einfaches Leinenkleid trug, unter dem ein paar gelbe Halbschuhe mit großen Schleifen hervorlugten, ein paar Worte aus …
„Ich halte es nicht länger aus, – oh, die Schmach, – die Schande …!!“
Das verstand ich ganz deutlich.
Schon wollte ich mich wieder davon schleichen, als mir noch zum Glück einfiel, daß ich ja jetzt ein würdiger, älterer Herr war, der es wohl wagen durfte, die Bekümmerte anzusprechen und zu trösten mit dem Vorrecht der reifen Jahre.
Ich zog mich also leise zurück und näherte mich, laut aufhustend, von vorn der kleinen Naturlaube.
Das blonde Kind war erschrocken aufgesprungen und zeigte mir nun ein tränenfeuchtes Gesicht von einer Reinheit der Linien und einem Liebreiz, daß ich nun meiner Sache völlig sicher war. Es konnte nur Torys Madonna sein!
Ich nickte ihr freundlich zu, brachte weiche Milde in meine Stimme und sagte:
„Glauben Sie einem alten Manne, liebes Kind, der in seinem Leben viel durchgemacht, sehr viel Trübes, für jedes Herzeleid gibt es ein Heilmittel – für jedes!“
Sie schämte sich wohl der Tränen, trocknete verstohlen die großen, dunklen, schwermütigen Augen und erwiderte verzagt:
„Für das meine nicht, – nein, – für das meine nicht …!!“
„So hat schon mancher gesprochen, mein Kind! Jeder Schmerz läßt nach. Die Zeit lindert alles, die Zeit und – die Arbeit.“
Sie schaute zu mir empor ohne Scheu. Und dann schüttelte sie langsam den Kopf und meinte dumpf und in trüber Verzweiflung:
„Sie kennen die Ursache meines Leides nicht. Wenn Sie in meiner Lage wären, – Sie würden sich auch so überflüssig auf der Welt dünken wie ich!“
Zwei einzelne Tränen rannen über ihre Wangen. Um den roten Mund zuckte es.
„Überflüssig dünkt sich nur ein schwacher Charakter,“ sagte ich ernst. Und fügte hinzu: „Darf ich mich ein Weilchen zu Ihnen setzen? –
Sehen Sie, der Zufall hat uns hier zusammengeführt. Vielleicht wird aus diesem Zufall eine Fügung der Vorsehung. Mein Beruf zwingt mich, menschliche Charaktere zu studieren, um sie richtig …“
Ich stockte. Beinahe hätte ich gesagt: ‚um sie richtig schildern zu können …‘ Zur rechten Zeit fiel mir noch ein, daß ich jetzt nicht mehr der Schriftsteller Dr. Karl Wilde, sondern der Kanzleisekretär Reinhold Henning war …!! Und deshalb beendete ich den Satz „richtig beurteilen zu können …“
Ihre großen, ehrlichen Augen glitten über mich prüfend hin. Aber ich bestand diese Prüfung.
„Sie haben so etwas Gütiges an sich, mein Herr, das Vertrauen einflößt,“ erwiderte die Madonna leise. „Wenn ich Ihnen die Ursache meines Kummers auch nicht angeben darf, so wird es mir vielleicht doch wohltun, einmal mit einem guten Menschen plaudern zu können.“
Das war gewiß eine seltsame Antwort für dieses junge Geschöpf! – „Mit einem guten Menschen …!“ Das klang, als ob sie sonst dazu verurteilt war, mit Leuten umzugehen, die sie nicht achten konnte, die sie in ihren Schwächen erkannt hatte.
Ich setzte mich auf eine grasbewachsen Erdscholle.
„Sie weilen hier zur Kur, mein Herr, nicht wahr?“ fragte sie zwanglos. „Wir wohnen ja schon so lange in Heubude, daß ich jeden Ortseingesessenen von Ansehen kenne.“
Ich nickte. „Leider darf ich nur einige Tage mich an Gottes freier Natur erfreuen. Der Urlaub ist kurz. Dann geht es wieder an die Arbeit. Aber ich werde trotzdem frohen Herzens an meinen Schreibtisch zurückkehren, wenn ich nur die Überzeugung mitnehmen darf, Sie, mein Kind, ein wenig seelisch wieder aufgerichtet zu haben. –
Nicht wahr, Sie legen doch keinen Wert darauf, daß ich Ihnen meinen Namen nenne und meinen Beruf?! Wozu hier fern von den Stätten, wo die Menschen sich unter dem Zwange ungeschriebener Ehrgesetze sogenannter guter Umgangsformen bewegen, sich ebenfalls unter diese Gesetze beugen? Ist es nicht viel poetischer, wenn in Ihrer Erinnerung – vielleicht! – für kurze Zeit ein alter Herr lebt, der nichts wollte als Sie trösten und Ihnen etwas von seiner Lebensweisheit abgeben …?!“
„Oh – Sie haben recht! Ich liebe das Förmliche gewiß nicht!“ –
So plauderten wir weiter, wohl eine Stunde lang. Ich erzählte ihr von einem Freunde, der Schriftsteller sei und der sich in all seiner Einsamkeit bei seiner Arbeit so wohl fühle.
Der Schriftsteller interessierte sie. –
„Schreibt er Romane?“ fragte sie. „Oh, ich möchte so gern wissen, wie sie so einen Roman entwerfen, die Schriftsteller, überhaupt wie’s gemacht wird …“
Sie war köstlich in ihrer zwanglosen Offenheit. Bald hatte sie wirklich das große Leid vergessen, lächelte schon mitunter. Behutsam änderte ich den Ton, wurde heiterer, führte sie mit mir hinaus aus ihrem düsteren Alltagsgrau in ein Sonnenland, erzählte von dem Freunde, dem Schriftsteller, von dem Junggesellenleben, dem Balkon mit den Blumen und den Radieschenkästen, von der geschwätzigen Aufwärterin, mischte kleine Erlebnis sein, flocht billige Weisheitssprüche bei … –
Dann sah sie nach der silbernen Uhr mit einem Male, sprang auf …
„Oh, schon so spät!! Schade! Ich muß heim! – Und ich danke Ihnen von Herzen für diese Stunde …“
Wie schön sie war – wie schön!! – Sie reichte mir die Hand …
„Es ist mir, als hätten Sie mir einen belebendem Trank gereicht,“ sagte sie schlicht. „Sie haben mich wirklich getröstet. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich noch lachen könnte …“
„Der Arzt will sie noch weiter behandeln, liebes Kind. Wenn Sie also morgen Zeit haben …“ meinte ich mit väterlicher Güte.
„Zeit? Ja, das wohl! Aber ich darf Ihnen die Ihrige nicht stehlen.“
„Ei ei!! – – Plötzlich so förmlich?! Wozu Phrasen, Kind?!“
„Gut denn – vielleicht komme ich sogar heute Abend noch her … Es ist mein Lieblingsplätzchen …“ –
Sie kam wirklich. Und wieder saßen wir nebeneinander.
Die Abenddämmerung verwischte die Umrisse des Waldes, der Bäume auf dem Rain. Ein paar Rehe traten vorsichtig aus einer Schonung heraus auf den Acker. Ein erstes Glühwürmchen umschwirrte uns. Weihnachtsduft umgaben uns. Die Glocke des Dorfkirchleins bimmelte …
Die Madonna war gekommen, und die erste Kur hatte vorgehalten. Ich sah keine Tränen mehr.
Wie ehrlich junge Mädchen doch sein können, wenn sie ein graues Haupt neben sich wissen, wie gern sie dann jedem aufquellenden Gefühl folgen …!
Plötzlich haschte die Madonna nach meiner Hand, nahm sie zwischen ihre beiden lebenswarmen Hände und sagte bewegt:
„Oh – wie gut Sie sind – wie gut! Noch nie hatte ich zu einem Menschen solches Vertrauen gehabt wie zu Ihnen …“
Da kann ich mir zum erstenmal wie ein Betrüger vor …! – Hätte sie geahnt, wer neben ihr saß, – wie ein scheues Reh wäre sie geflüchtet …!! –
Der Mond lugte schon über die Wipfel der Kiefern, als sie sich verabschiedete … – –