Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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»Den Schlüssel her!« Sie ließ von ihm ab, machte einen Schritt zum Fenster hin, beugte sich hinab, als wollte sie hinunterrufen. Er zu ihr hin, stieß sie vom Fenster fort, schloß es ab. Sie eilte auf die Wohnungstüre zu. Er war sofort neben ihr, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein. Dann faßte er ihre beiden Hände. »Gib’s gutwillig her, Mutter.« – »Ich hab’ nichts«, flüsterte sie durch die krampfhaft geschlossenen Zähne. – »Ich weiß, daß du was hast. Ich weiß, daß du’s da hast. Gib was her, Mutter.« – Sie war erbittert, sie hatte keine Angst, sie haßte ihn. »Und wenn ich tausend Gulden hätte, nicht einen Kreuzer so einem Menschen.« – Er ließ einen Augenblick von ihr ab, schien etwas ernüchtert. »Mutter, ich will dir was sagen. Gib mir die Hälfte von dem, was du hast, ich brauch’s zum Abfahren. Ich hab’ kein’ Posten, abfahren muß ich. Wenn s’ mich diesmal erwischen, krieg’ ich ein Jahr oder zwei.« – »Um so besser«, zischte sie. – »So? Glaubst? Na gut.« Und er stürzte wieder auf den Schrank zu, schlug mit der Faust darauf. Es half nichts; er überlegte einen Augenblick, zuckte die Achseln, nahm dann aus der Tasche ein Stemmeisen und sprengte die Türe auf. Wieder stürzte Therese auf ihn zu, versuchte, seine Arme zu fassen, er stieß sie fort, wühlte unter den Wäschestücken, entfaltete sie, schleuderte eins nach dem andern auf den Fußboden. Wieder versuchte Therese seine Arme zu fassen. Er stieß sie von sich, so daß sie bis zum Fenster flog, und fuhr fort, in der Wäsche zu wühlen, die einzelnen Stücke hinauszuschleudern ; indessen hatte Therese einen inneren Fensterflügel geöffnet, schon wollte sie den äußeren auftun, da war er wieder bei ihr und riß sie zurück. »Räuber!« 386 schrie sie, »Diebe!« Er, mit geröteten Augen, heiser, vor sie hin gepflanzt: »Willst es hergeben oder nicht?« – »Räuber!« schrie sie noch einmal. Nun packte er sie, hielt ihr mit der einen Hand den Mund zu und schleppte, schob, stieß sie in das kleine Schlafkabinett bis vor ihr Bett. »Hast es vielleicht da wo? In der Matratzen? In den Polstern?« Er mußte sie nun wieder loslassen, um im Bett zu wühlen. Und sofort schrie sie wieder: »Diebe! Räuber!« Da hatte er sie schon mit einer Hand an beiden Armen gepackt, mit der andern verschloß er ihr den Mund. Sie stieß mit den Füßen nach ihm. Er ließ nun ihre Hände los, faßte sie am Hals. »Räuber! Mörder!« schrie sie. Er begann, sie zu würgen; sie sank neben dem Bette nieder, er ließ ihren Hals locker, nahm ein Taschentuch, knüllte es zusammen, steckte es ihr in den Mund, nahm ein Handtuch, das am Waschtisch hing, band ihr die Hände zusammen. Sie röchelte, hatte große, starre Augen, die im Dunkel zu ihm aufleuchteten. Nur vom Nebenzimmer her fiel ein Lichtstrahl herein. Er, wie ein Rasender, suchte überall im Bett, riß die Polsterüberzüge auf, sah in der Waschschüssel, im Krug, in der Kommode, unter dem Bettvorleger nach; plötzlich aber hielt er inne, denn von draußen tönte die Klingel, und durch die zwei geschlossenen Türen hörte er Stimmen. Kein Zweifel, man hatte die Mutter rufen gehört, und vielleicht auch den Lärm, den er mit den Fäusten und mit dem Stemmeisen verursacht hatte. Rasch löste Franz das Handtuch von seiner Mutter Händen, rasch zog er den Knebel aus ihrem Mund, sie lag auf dem Boden, röchelte, atmete. »Es is ja nix g’schehn, Mutter«, rief er plötzlich. Ihre Augen waren offen. Sie blickte, sie schaute. 387 Nein, tot war sie nicht. Es konnte nicht viel geschehen sein.

      Wieder die Klingel, dreimal, fünfmal, immer rascher hintereinander. Was sollte man tun? Zum Fenster hinaus? Drei Stock tief? Wieder ein Blick auf die Mutter. Nein, es war nichts geschehen. Sie blickte mit offenen Augen, bewegte die Arme, ja, ihre Lippen zuckten. Die Klingel schrillte ununterbrochen weiter. Es blieb nichts übrig, als zu öffnen. Man konnte dann immer noch an den Leuten vorbei, hinunter über die Treppe und auf die Straße. Wenn sie nur nicht da auf dem Boden läge wie tot. Er beugte sich herab zu ihr, versuchte sie aufzurichten. Aber es war, als wenn sie sich wehrte. Sie schüttelte sogar den Kopf. Also, tot war sie nicht. Nein. Ohnmächtig. Oder stellte sie sich nur so, um ihn zu verderben?

      Die Klingel schrillte weiter. Klopfen zuerst, dann Faustschläge an die Tür. »Aufmachen! aufmachen!« brüllte es draußen. Franz stürzte in den Vorraum, die Wohnungstür zitterte unter den klopfenden Fäusten draußen. Es blieb nun einmal nichts übrig, er mußte öffnen. War es möglich! Nur zwei Frauen standen da und sahen ihn entgeistert an. Er stieß sie beiseite, lief die Treppen hinab. Da hörte er hinter sich: »Aufhalten! Aufhalten!« Auch eine Männerstimme tönte mit. Sie kam von oben. Und noch ehe er durch das Haustor auf die Straße trat, hatte ihn schon irgendwer von rückwärts bei den Schultern ergriffen. Er konnte sich nicht losmachen. Er schimpfte und schrie. Dann wurde er stumm. Aus war’s. Aber die Mutter war ja nicht tot. Ohnmächtig höchstens. Was wollten denn die Leute von ihm? Es war der Mutter doch bestimmt 388 nichts geschehen. Rings um ihn standen Leute. Auch ein Polizist war zur Stelle.

      Die beiden Frauen waren indes in die Wohnung hineingestürzt und sahen das Fräulein Therese Fabiani ausgestreckt zu Füßen des Bettes liegen. Gleich hinter ihnen kamen andere, noch eine Frau, noch ein Mann, man legte Therese auf das zerwühlte Bett. Sie blickte um sich, zu reden vermochte sie nicht. Sie erkannte wohl auch kaum die Leute, die allmählich in das Zimmer traten, die Nachbarn, den Polizeikommissär, den Polizeiarzt, verstand wohl auch die Fragen nicht, die man an sie richtete. Man stand daher vorläufig von einer Konfrontation ab, der Tatbestand war ja leicht festgestellt, der Arzt konnte auch konstatieren, daß anscheinend keine lebensgefährliche Verletzung vorlag. Die Wohnung wurde amtlich verschlossen und Therese noch in der gleichen Nacht ins Spital geschafft.

      Dort wurde festgestellt, daß ein Kehlkopfknorpel gebrochen war, was die Vorhersage ungünstiger gestaltete, auch für den Sohn. Aussagen der Hausbewohner ergaben, daß die Lehrerin Therese Fabiani die Schwester des Abgeordneten Faber sei, und so wurde dieser noch im Laufe der Nacht von dem Verbrechen verständigt, das an seiner Schwester begangen worden war. In frühester Morgenstunde erschien er in Begleitung seiner Frau am Bette der Leidenden, die in einer Extrakammer lag. Es hatte sich erhöhte Temperatur eingestellt, was die Ärzte nicht so sehr auf die Verletzung als auf den Nervenschock zurückführen zu müssen glaubten. Ihr Bewußtsein war offenbar gestört, sie erkannte die Besucher nicht, die sich bald entfernten. 389

       Inhaltsverzeichnis

      Gegen Mittag erschien Alfred an ihrem Bett, der die Sache aus der Zeitung erfahren hatte. Um diese Zeit war die Temperatur gesunken, doch waren Delirien eingetreten. Unruhig warf sich Therese hin und her mit bald offenen, bald geschlossenen Augen und flüsterte unverständliche Worte. Auch den neuen Besucher schien sie vorerst nicht zu erkennen. Nachdem der behandelnde Sekundarius sich zu dem Herrn Dozenten Dr. Nüllheim über den Fall fachlich ausgesprochen, ließ er ihn allein bei der Kranken. Alfred setzte sich an ihr Bett, fühlte ihren Puls, er war schwach und erregt. Und nun, als ginge von dieser einstens geliebten Hand eine Wirkung auf die Leidende aus, die andern gleichgültigen Berührungen versagt war, schien die Unruhe der Kranken nachzulassen; und als der Arzt den Blick eine Weile ohne besondere Absicht auf ihre Stirn, ihre Augen gerichtet hielt, geschah noch Merkwürdigeres: diese Augen, die bisher, auch wenn sie geöffnet waren, offenbar niemanden zu erkennen vermocht hatten, schimmerten wie in allmählich erwachendem Bewußtsein. Die verfallenen, gleichsam verdämmernden Züge erhellten, strafften, ja verjüngten sich; und wie Alfred sich näher zu ihr herabbeugte, flüsterte sie: »Dank.« Er wehrte ab, faßte nun ihre beiden Hände und sprach tröstliche, herzliche Worte, wie sie sich auf seine Lippen drängten. Sie schüttelte den Kopf, immer heftiger, nicht nur, als wenn sie von Trost nichts hören wollte, es war klar, daß sie ihm irgend etwas zu vertrauen hatte. Er beugte sich noch näher zu ihr, um sie zu verstehen. Und sie begann: 390 »Du mußt es vor Gericht sagen, versprichst du mir das?« – Er dachte, das Delirium beginne wieder. Er legte die Hand auf ihre Stirn, versuchte sie zu beschwichtigen. Aber sie sprach, vielmehr sie flüsterte weiter, da sie kein lautes Wort hervorbringen konnte: »Du bist ja Doktor, dir müssen sie glauben. Er ist unschuldig. Er hat mir nur vergolten, was ich ihm getan habe. Man darf ihn nicht zu hart strafen.« Wieder versuchte Alfred, sie zu beruhigen. Sie aber sprach hastig weiter, als ahnte sie, daß ihr nicht mehr viel Zeit gegönnt sei. Was sich in jener fernen Nacht ereignet und was doch nicht Ereignis geworden war – was sie zu tun begonnen und doch nicht bis zu Ende getan – woran ihr Wunsch mehr gewirkt hatte als ihr Wille – wessen sie sich immer wieder erinnert und was sie sich doch niemals ins


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