Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
sich auf die Räder. Ein schmaler, ziemlich holpriger Seitenweg zwischen Wiese und Wald führte sie bald zu einem unerbaulich kahlen, zweistöckigen Haus, das sich durch ein mürrisch braunes Schild als Wirtshaus zu erkennen gab. Auf der Wiese, die durch die Straße vom Haus geschieden war, stand eine große Menge von Tischen, manche mit einstmals weiß gewesenen, andre mit geblümten Tüchern bedeckt. Hart an der Straße, an einigen zusammengerückten Tischen, saßen zehn oder zwölf junge Leute, Mitglieder eines Radfahrklubs. Mehrere hatten ihre Röcke abgelegt, andre trugen sie flott übergehängt; auf den himmelblauen, gelb eingefaßten Sweaters prangten Embleme in erhabener roter und grüner Stickerei. Mächtig, aber nicht sehr rein tönte ein Chorlied zum Himmel auf: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.«
Heinrich überflog die Gesellschaft mit einem raschen Blick, kniff die Augen zusammen und sagte zu Georg, mit zusammengepreßten Zähnen und heftig betont: »Ich weiß nicht, ob diese Jünglinge bieder, treu und mutig sind, wofür sie sich jedenfalls halten; daß sie aber nach Wolle und Schweiß duften, ist gewiß, und daher wäre ich dafür, daß wir in angemessener Entfernung von ihnen Platz nehmen.«
Was will er eigentlich, dachte Georg bei sich. Wäre es ihm sympathischer, wenn hier eine Gesellschaft von polnischen Juden säße und Psalmen sänge?
Beide schoben ihre Räder zu einem entferntem Tische hin und ließen sich nieder. Ein Kellner erschien, in schwarzem, von Fett-und Gemüseflecken übersäten Frack, fegte mit einer schmutzigen Serviette heftig über den Tisch, nahm die Bestellungen entgegen und verschwand.
»Ist es nicht jämmerlich«, sagte Heinrich, »daß in der nächsten Umgebung von Wien beinahe überall so verwahrloste Wirtshäuser stehen? Es macht einen geradezu trübsinnig.«
Georg fand diese übertriebene Wehmut nicht angebracht. »Ach Gott, auf dem Land«, meinte er, »man nimmt es eben mit. Es gehört fast dazu.«
Heinrich ließ diese Auffassung nicht gelten, begann den Plan zur Gründung von sieben Hotels an den Wienerwaldgrenzen zu entwickeln und berechnete eben, daß man dazu höchstens drei bis vier Millionen benötige, als plötzlich Leo Golowski dastand. Er war im Zivilanzug, der, wie oft bei ihm, eines etwas bizarren Elements nicht entbehrte. Heute trug er zu einem hellgrauen Sacco eine blaue Samtweste und eine gelbliche Seidenkrawatte in glattem Stahlring. Die beiden andern begrüßten ihn erfreut und äußerten einige Überraschung.
Leo setzte sich zu ihnen: »Ich habe ja gehört«, sagte er, »wie Sie gestern Abend Ihre Partie verabredet haben, und als wir heute schon um neun aus der Kaserne entlassen wurden, dacht ich mir gleich, es wäre doch hübsch mit zwei klugen, sympathischen Menschen eine Stunde im Freien zu verplauschen. So bin ich nach Haus, hab mich in Zivil geworfen und auf den Weg gemacht.« Er sagte das in seinem gewöhnlichen, liebenswürdigen, fast naiv klingenden Ton, der Georg immer wieder gefangen nahm, aber in der Erinnerung für ihn einen Beiklang von Ironie, ja von Falschheit zu bekommen pflegte. Doch schien dieser gleichsam schillernde Klang Leos Worten nur in gleichgültiger Unterhaltung eigen; ernste Gespräche wußte er mit einer Bestimmtheit zu führen, die Georg geradezu imponierte. In der letzten Zeit hatte er einigemale Gelegenheit gehabt, im Kaffeehaus Diskussionen zwischen Leo und Heinrich über kunsttheoretische Fragen, insbesondere über die Beziehungen zwischen den Gesetzen der Musik und der Mathematik anzuhören. Leo glaubte der Ursache auf der Spur zu sein, aus der Dur-und Molltonarten die menschliche Seele in so verschiedener Weise berührten. Gerne folgte Georg seinen klaren und scharfsinnigen Auseinandersetzungen, wenn sich auch etwas in ihm gegen den verwegenen Versuch wehrte, allen Zauber und alles Geheimnis der Klänge aus dem Walten von Gesetzen gedeutet zu hören, die, ebenso unerbittlich wie diejenigen, nach denen sich Erde und Sterne drehten, mit jenen ewigen aus gleicher Wurzel stammen sollten. Nur wenn Heinrich die Theorien Leos weiterzuführen und gelegentlich auf Schöpfungen der Wortkunst anzuwenden suchte, wurde Georg ungeduldig und fühlte sich sofort als stillen Verbündeten Leos, der zu Heinrichs phantastischen und wirren Ausführungen mild zu lächeln pflegte.
Das Essen wurde aufgetragen, und die jungen Leute ließen sichs schmecken; Heinrich nicht weniger als die andern, trotzdem er sich über die Minderwertigkeit der Küche höchst mißbilligend äußerte und das Vorgehen des Wirts nicht nur als Ausdruck persönlich niedriger Gesinnung, sondern als charakteristisch für den Niedergang Österreichs auf vielen andern Gebieten aufzufassen geneigt war. Das Gespräch kam auf die militärischen Zustände des Landes, und Leo gab Schilderungen von Kameraden und Vorgesetzten zum besten, über die die beiden andern sich sehr amüsierten. Insbesondere ein Oberleutnant gab zur Heiterkeit Anlaß, der sich der Freiwilligenabteilung mit den gefahrverkündenden Worten vorgestellt hatte: »Mit mir wern S’ nix zu lachen haben, ich bin eine Bestie in Menschengestalt.«
Während sie noch aßen, trat ein Herr an den Tisch, schlug die Hacken aneinander, legte die Hand salutierend an die Radfahrkappe, grüßte mit einem scherzhaften »all Heil«, fügte für Leo noch ein kameradschaftliches »servus« hinzu und stellte sich Heinrich vor: »Josef Rosner ist mein Name«. Hierauf begann er jovial die Unterhaltung mit den Worten: »Die Herren machen auch eine Radpartie…« Da man nicht widersprach, fuhr er fort: »Die letzten schönen Tage muß man benützen, lange wird ja die Herrlichkeit nicht mehr dauern.«
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Rosner?« fragte Georg höflich.
»Küß die Hand, aber…«, er wies auf seine Gesellschaft… »wir sind soeben im Aufbruch begriffen, haben noch viel vor, fahren bis Tulln hinunter und dann über Stockerau nach Wien. Die Herren erlauben…« er nahm ein Zündhölzchen vom Tisch und brannte seine Zigarette vornehm an.
»Bei was für einem Klub bist du denn eigentlich?« fragte Leo, und Georg wunderte sich über das »du«, bis ihm einfiel, daß die beiden Jugendbekannte waren.
»Das ist der Sechshauser Radfahrklub«, erwiderte Josef. Obzwar kein Staunen geäußert wurde, setzte er hinzu: »Die Herren werden sich wundern, daß ich als Margaretner Kind diesem vorortlichen Klub angehöre, aber es ist auch nur, weil ein guter Freund von mir dort Obmann ist. Sehen Sie dieser Dicke dort, der jetzt gerade in den Rock hineinschlieft. Es ist nämlich der junge Jalaudek, der Sohn von dem Stadtrat und Abgeordneten.«
»Jalaudek…«, wiederholte Heinrich mit deutlichem Ekel in der Stimme und sagte nichts weiter.
»Ah«, meinte Leo, »das ist ja der, der neulich in einer Debatte über den Volksbildungsverein diese prachtvolle Definition von Wissenschaft gegeben hat. Haben Sie nicht gelesen?« wandte er sich zu den andern.
Diese erinnerten sich nicht.
»Wissenschaft«, zitierte Leo, »Wissenschaft ist das, was ein Jud vom andern abschreibt.«
Alle lachten. Auch Josef, der aber sofort erläuterte: »Eigentlich ist er gar nicht so, ich kenn ihn ja. Nur im politischen Leben ist er so grob… weil also nämlich da die Gegensätze aufeinanderplatzen in unserm lieben Österreich. Aber für gewöhnlich ist er ein sehr umgänglicher Herr. Da ist der Junge viel radikaler.«
»Ist euer Klub christlich-sozial oder deutsch-national?« fragte Leo verbindlich.
»O, da wird bei uns kein Unterschied gemacht, nur natürlich, wie das schon so ist…«, er unterbrach sich plötzlich verlegen.
»Nun ja«, ermutigte ihn Leo, »daß euer Klub judenrein ist, das ist doch selbstverständlich. Man merkt’s auch schon von weitem.«
Josef hielt es für das richtigste zu lachen. Dann sagte er: »O bitte sehr, auf den Bergen schweigt die Politik; überhaupt die Herren machen sich da falsche Begriffe, wenn wir schon über dieses Thema reden. Wir haben zum Beispiel einen im Klub, der ist mit einer Israelitin verlobt. Aber sie winken mir schon. Habe die Ehre, meine Herrschaften, servus Leo, all Heil.« Er salutierte wieder und entfernte sich wiegenden Schrittes. Die andern, unwillkürlich lächelnd, blickten ihm nach.
Dann fragte Leo plötzlich zu Georg gewandt: »Wie geht’s denn eigentlich seiner Schwester mit dem Singen?«
»Wie?« sagte Georg aufgeschreckt und leicht errötend.
»Therese erzählt mir«, fuhr Leo ruhig fort, »daß Sie zuweilen mit Anna musizieren. Ist denn die Stimme jetzt in Ordnung?«