Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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stand sie als Rednerin und Agitatorin mitten in der sozialdemokratischen Bewegung. Leo, ohne mit ihren Anschauungen übereinzustimmen, freute sich ihres frischen und verwegenen Wesens. Manchmal besuchte er sogar Versammlungen mit ihr; da er sich aber nicht gern von großen Worten imponieren ließ, weder von Versprechungen, die niemals einzulösen waren, noch von Drohungen, die ins Leere gingen, so machte es ihm Spaß, ihr meist schon auf dem Heimweg mit unwiderleglicher Schärfe die Widersprüche in ihren und der Parteigenossen Reden nachzuweisen. Insbesondere aber versuchte er ihr immer wieder klar zu machen, daß sie nicht, auf Tage und Wochen oft, ihrer großen Aufgabe so vollkommen vergessen könnte, wenn ihr Mitgefühl mit den Armen und Elenden wirklich ein so tiefes wäre, wie sie sich einbildete. Indes, auch Leos Leben ging nach keinem sichern Ziel. Er hörte Vorlesungen an der Technik, gab Klavierlektionen, plante zuweilen sogar eine Virtuosenlaufbahn und übte dann wochenlang fünf bis sechs Stunden täglich. Aber es war noch immer nicht abzusehen, wofür er sich am Ende entscheiden würde. Da es in seiner Art lag, unbewußt auf Wunder zu warten, die ihm Unbequemlichkeiten ersparen konnten, hatte er sein Freiwilligenjahr so lang verschoben, bis der letzte Termin herangerückt war, und diente darum erst jetzt, in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahre. Die Eltern ließen Leo und Therese gewähren, und so viel Meinungsverschiedenheiten, so wenig ernstlichen Streit schien es im Hause Golowski zu geben. Die Mutter saß meistens daheim, nähte, stickte und häkelte, der Vater ging seinen Geschäften immer saumseliger nach und sah lieber im Kaffeehaus den Schachspielern zu, ein Vergnügen, in dem er den Niedergang seines Daseins zu vergessen vermochte. Seinen Kindern gegenüber schien er seit dem Ruin des Geschäftes eine gewisse Befangenheit nicht los zu werden, so daß er beinahe stolz war, wenn Therese ihm gelegentlich einen von ihr verfaßten Artikel zu lesen gab, oder wenn Leo sich herbeiließ, mit ihm am Sonntag Nachmittag eine Partie auf dem geliebten Brett zu spielen.

      Georg kam es manchmal vor, als stünde seine eigene Sympathie für Leo mit jener längst verflossenen Neigung Annas für ihn in einem tiefern Zusammenhang. Denn nicht zum ersten Male fühlte er sich in ganz sonderbarer Weise zu einem Manne hingezogen, dem früher eine Seele zugeflogen war, die jetzt ihm gehörte.

      Georg und Heinrich hatten ihre Räder bestiegen und fuhren eine schmale Straße, durch dichten, dunkelnden Wald. Später, da dieser sich wieder zu beiden Seiten zurückschob, hatten sie die sinkende Sonne im Rücken, und die langgestreckten Schatten ihrer eigenen Gestalten auf den Rädern liefen ihnen voraus. Entschiedener senkte sich die Straße und führte bald zwischen niedern Häusern hin, die von rötlichem Laub überhangen waren. Ein uralter Mann saß vor einer Haustür auf einer Bank, zu einem offenen Fenster sah ein bleiches Kind heraus. Sonst war kein menschliches Wesen zu sehen.

      »Wie ein verzaubertes Dorf«, sagte Georg.

      Heinrich nickte. Er kannte den Ort. Auch hier war er mit der Geliebten gewesen, an einem wundervollen Sommertag dieses Jahres. Er dachte daran, und brennende Sehnsucht zuckte ihm durchs Herz. Und er erinnerte sich der letzten Stunden, die er in Wien mit ihr gemeinsam verbracht hatte, in seinem kühlen Zimmer, mit den herabgelassenen Jalousien, durch deren Spalten der heiße Augustmorgen geflimmert war; des letzten Spazierganges durch steinernkühle sonntagsstille Gassen und durch alte, menschenleere Höfe, – und seiner Ahnungslosigkeit, daß all dies zum letzten Male war. Denn am nächsten Tag erst war der Brief gekommen, der furchtbare Brief, in dem es geschrieben stand, daß sie ihm den Schmerz des Abschieds hatte ersparen wollen, und daß sie, wenn er diese Worte läse, längst über die Grenze sei, auf der Fahrt nach der neuen, fremden Stadt.

      Die Straße belebte sich. Freundliche Villen erschienen, von kleinen Gärtchen behaglich umgeben; gelinde hinter den Häusern stiegen bewaldete Hügel empor. Noch einmal breitete das Tal sich aus, und der scheidende Tag ruhte über Wiesen und Feldern. In einem großen, leeren Wirtshausgarten waren die Laternen angezündet. Eilige Dämmer schienen von allen Seiten zugleich heranzuschleichen. Nun war die Wegkreuzung da. Georg und Heinrich saßen ab und zündeten sich Zigaretten an.

      »Rechts oder links?« fragte Heinrich.

      Georg sah auf die Uhr: »Sechs… und ich muß um acht in der Stadt sein.«

      »Da können wir also nicht miteinander nachtmahlen?« sagte Heinrich.

      »Leider nein.«

      »Schade. So fahren wir gleich den kürzeren Weg, über Sievering, hinein.«

      Sie zündeten ihre Laternen an und schoben die Räder auf langgestreckten Serpentinen durch den Wald. Der Reihe nach sprang ein Baum nach dem andern aus dem Dunkel in den Schein der Lichtkegel und trat wieder in die Nacht zurück. Stärker rauschte der Wind durchs Laub, und Blätter raschelten nieder. Heinrich fühlte ein ganz leises Grauen, wie es ihn manchmal bei Dunkelheit in der freien Natur überfiel. Daß er den Abend allein verbringen sollte, empfand er wie eine Enttäuschung. Er war verstimmt gegen Georg und ärgerte sich daher auch über dessen Verschlossenheit ihm gegenüber. Er nahm sich nicht zum erstenmal vor, von jetzt an auch über seine eigenen, persönlichen Angelegenheiten nicht mehr mit Georg zu reden. Es war besser so. Er bedurfte niemandes Vertrauen, niemandes Teilnahme. Am wohlsten war ihm doch immer zumute gewesen, wenn er allein seines Weges ging. Das hatte er nun oft genug erfahren. Wozu also einem andern seine Seele erschließen? Ja, Bekannte zu gemeinsamen Spaziergängen und Fahrten, zu kühlen, klugen Gesprächen über allerlei Dinge des Lebens und der Kunst, – Frauen um sie flüchtig zu umarmen; doch keines Freundes, keiner Geliebten bedurfte er. So floß das Dasein würdiger und ungestörter hin. Er schwelgte in diesen Vorsätzen, fühlte sich hart und überlegen werden. Die Waldesdunkelheit verlor ihre Schauer, und er wandelte durch die leise rauschende Nacht wie durch ein verwandtes Element.

      Die Höhe war bald erreicht. Sternenlos lag der dunkle Himmel über der grauen Straße und über den nebelhauchenden Wiesen, die sich beiderseits in täuschender Weite zu den Waldhügeln dehnten. Vom nahen Mauthäuschen schimmerte ein Licht. Wieder bestiegen sie die Räder und fuhren nun so rasch nach abwärts, als die Dunkelheit es gestattete. Georg wünschte sich bald am Ziel zu sein. Seltsam unwahrscheinlich kam es ihm vor, daß er in anderthalb Stunden schon das stille Zimmer wiedersehen sollte, von dem niemand wußte als Anna und er; den dämmrigen Raum mit den Öldrucken an der Wand, dem blausamtenen Sofa, dem Pianino, auf dem die Photographien unbekannter Leute und eine gipsweiße Schillerbüste standen; mit den hohen, schmalen Fenstern, gegenüber denen die alte, dunkelgraue Kirche ragte.

      Laternen brannten längs des Weges. Noch einmal wurde die Straße freier, und ein letzter Blick nach den Höhen öffnete sich. Dann ging es eiligst, zuerst noch zwischen wohlgehaltenen Landhäusern, endlich über eine menschenerfüllte, lärmende Hauptstraße, tiefer in die Stadt hinein. Bei der Votivkirche stiegen sie ab.

      »Adieu«, sagte Georg, »und auf Wiedersehen morgen im Kaffeehaus.«

      »Ich weiß nicht…«, erwiderte Heinrich; und als Georg ihn fragend ansah, fügte er hinzu: »Es ist möglich, daß ich verreise.«

      »O, ein so plötzlicher Entschluß!«

      »Ja, es packt einen eben zuweilen…«

      »Die Sehnsucht«, ergänzte Georg lächelnd.

      »Oder die Angst«, sagte Heinrich und lachte kurz.

      »Dazu haben Sie wohl keine Ursache«, meinte Georg.

      »Wissen Sie das ganz sicher?« fragte Heinrich hämisch.

      »Sie haben mir doch selbst erzählt…«

      »Was?«

      »Daß Sie jeden Tag Nachricht haben.«

      »Ja, das ist schon wahr, jeden Tag. Zärtliche, glühende Briefe bekomme ich. Jeden Tag zur selben Stunde. Aber was beweist das? Ich schreibe ja noch viel glühendere und zärtlichere und doch…«

      »Nun ja«, sagte Georg, der ihn verstand. Und er wagte die Frage: »Warum bleiben Sie eigentlich nicht bei ihr?«

      Heinrich zuckte die Achseln. »Sagen Sie doch selbst, Georg, käme es Ihnen nicht ein wenig komisch vor, wenn man so einer Liebschaft wegen seine Zelte abbräche, mit einer kleinen Schauspielerin in der Welt herumzöge…«

      »Ich persönlich würde es natürlich sehr bedauern… aber


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