Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman. Patricia Vandenberg
»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich an Weihnachten vermisst habe?«
»Und ich euch erst«, gestand Felix. »Dabei hätte ich das nie für möglich gehalten. Ich dachte immer, es wäre total cool, Weihnachten endlich mal ganz anders zu feiern. Ohne den ganzen Wahnsinn mit geschmücktem Baum und einem Berg Päckchen und Festessen und so.« Während er sprach, bestrich er eine Brötchenhälfte mit Butter. »Ich dachte, das wird richtig gechillt.«
»Und? Wie war es wirklich?«, fragte Felicitas, obwohl sie die Antwort längst kannte. Schließlich war sie selbst einmal jung gewesen und hatte dieselben Gedanken gedacht wie ihr Sohn.
»Stinklangweilig«, platzte er heraus. »Wir waren auf so einer alternativen Weihnachtsfeier mit Palmen und Sandstrand und Cocktails und so.«
»Klingt doch nett!« Sie löffelte Zucker in ihren Kaffee und rührte um.
»Das hätte es sein können, wenn wir nicht die ganze Zeit in Erinnerungen geschwelgt hätten. Jeder hatte eine Geschichte aus seiner Kindheit auf Lager. Die haben wir uns so lange erzählt, bis wir alle ganz sentimental waren.«
Fee lachte.
»Dann kann ich ja nur hoffen, dass dein Silvester besser war.«
»Ganz nett«, erwiderte Felix und biss in sein Brötchen.
»Ganz nett?«, wiederholte seine Mutter gedehnt. »Richtig prickelnd klingt das auch nicht.«
Prickelnd war nur die Begegnung mit April gewesen, die Felix in diesem Augenblick wieder einfiel. Schnell schob er den Gedanken an das verrückte Mädchen weg.
»Das liegt vielleicht daran, dass mir im Moment einfach alles zu viel ist. Die Ausbildung ist wahnsinnig anspruchsvoll und anstrengend. Der Druck ist irre.« Um seine Worte zu unterstreichen, drückte er das verbliebene Brötchen zusammen und schob es in den Mund. Er sah aus wie in Hamster. Trotzdem lachte Fee nicht.
»Aber es macht dir doch Spaß?« Wie jeder Mutter lag ihr das Wohl ihres Kindes am Herzen. Egal, wie alt es sein mochte.
»Klar. Es ist super. Vor allen Dingen, weil der erste theoretische Teil bald abgeschlossen ist. Im Anschluss geht es für für vier Monate zu einer Flugschule nach Amerika.«
»Vier Monate?« Überrascht sah Fee ihren Sohn an. »Dann sehen wir uns ja eine ganze Weile nicht.«
»Deshalb war ich ja so scharf darauf, meine liebe Familie noch einmal um mich zu scharen.« Allmählich kam Felix‘ schelmische Art wieder zum Vorschein.
Fee nahm es als gutes Zeichen und wollte eben einen Plan schmieden, wie sie ihre Lieben an diesem Abend möglichst vollzählig vereinen konnte, als sie einen Schatten durch den Vorgarten huschen sah.
»Was war denn das?«
»Wer? Wo?« Felix’ Augen folgten ihrem Blick.
»Draußen. Da ist doch jemand.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als zuerst ein großer Hut und darunter ein Gesicht im Fenster auftauchte.
Vor Schreck schrie Fee auf. Felix sprang so schnell vom Stuhl auf, dass er krachend umfiel.
Von draußen ertönte ein helles Lachen. Mit wenigen Schritten war er an der Tür.
»April, verdammt, was soll denn das? Und was machst du überhaupt hier?« Er warf einen Blick über ihre Schulter. Doch an diesem ersten Januarmorgen war keine Menschenseele auf der Straße zu sehen. Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Wie bist du hergekommen?«
»Na, mit dir?«, antwortete sie keck und schob sich den überdimensionalen Hut aus der Stirn.
»Mit mir?« Felix verstand die Welt nicht mehr.
April verdrehte die Augen.
»Du hast mir so von deiner Familie vorgeschwärmt, dass ich dachte: Diese Wundertiere musst du unbedingt kennenlernen! Also hab ich mir’s auf deiner Rücksitzbank bequem gemacht.«
In diesem Moment fiel es Felix wie Schuppen von den Augen.
»Du hast den Wagen aufgesperrt! Woher hattest du den Schlüssel?«
»Du hast es mir leicht gemacht.« April lächelte wie eine Elfe. »Als du auf die Party gekommen bist, hab ich gesehen, wie du deine Jacke an die Garderobe gehängt hast.« Sie zog ihren Poncho enger um sich. »Willst du mich nicht reinlassen? Es ist arschkalt hier draußen.«
Felix sah sich nach seiner Mutter um, die sich trotz aller Neugier diskret zurückhielt. Aus dem Tuscheln hatte sie blitzschnell geschlossen, dass Felix das Mädchen kannte.
»Nur, wenn du dich benimmst und nicht mit solchen Ausdrücken um dich wirfst«, verlangte er. »Wir sind eine anständige Familie.«
»Ach ja?« April streckte die Hand aus, zog ihn zu sich und küsste ihn leidenschaftlich. Bevor sie sich zurückzog, biss sie ihn in die Lippe.
»Aua! Spinnst du?«, entfuhr es Felix. Mit den Fingerspitzen betastete er die Wunde, die leicht blutete.
April lachte aus vollem Herzen.
»Dieser Ausdruck … Ich muss schon sehr bitten, Herr Norden«, spottete sie und blitzte ihn vergnügt an. »Also was ist? Darf ich jetzt rein?«
Auf eine Antwort wartete sie nicht mehr. Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, marschierte sie schnurstracks an ihm vorbei.
*
»Macht dreißig Euro!« Die Floristin im Blumengeschäft der Behnisch-Klinik nahm den prächtigen Strauß – ein wahres Feuerwerk an Farben – aus der Vase und ließ ihn abtropfen. »Soll ich ihn einpacken?«
»Nein, danke. Nicht nötig.« Manfred Lohmeier suchte in seiner Brieftasche nach passenden Scheinen und reichte sie über den Tresen. »Ich bringe ihn sowieso gleich an den Mann respektive die Frau.« Er verabschiedete sich mit einem Lächeln und verließ das Geschäft.
Nach Dr. Nordens Worten vom vergangenen Abend blickte er zuversichtlich in die Zukunft. Er glaubte fest daran, dass seine Ricarda schon bald wieder gesund war und das Krankenhaus verlassen konnte. Um ihr die Zeit bis dahin so angenehm wie möglich zu machen, hatte er eine Überraschung mitgebracht.
Als er klopfte, ahnte er nicht, dass sich seine Frau schnell ein Lächeln auf die Lippen zwang.
»O mein Gott, ist der schön!«, hauchte sie beim Anblick des Straußes.
»Fast so schön wie du!« Manfred stellte die Blumen in eine Vase, ehe er sich einen Stuhl ans Bett zog.
»Du machst dich über mich lustig«, beschwerte sich Ricky. »Ich sehe aus wie ein Gespenst.«
»Ich hatte schon als Kind ein Faible für Hui Buh und Konsorten.« Manfred beugte sich vor und nahm ihre Hand zwischen die seinen. Dabei ließ er sie nicht aus dem Blick. »Wie fühlst du dich heute, mein Schatz?«
Seine Miene war so hoffnungsvoll, dass ihr das Herz weh tat. Die Stunde der Wahrheit war unweigerlich gekommen.
»Dr. Norden war heute früh schon bei mir.« Sie wagte es kaum, ihn anzusehen.
»Und? Was hat er gesagt? Mir wollte er gestern nichts mehr verraten.«
Ricarda kämpfte mit sich. Eigentlich hatte sie sich dazu durchgerungen, ihm alles zu sagen. Doch als es so weit war, schaffte sie es nicht. Sie entzog ihrem Mann ihre Hand, legte sie ihm in den Nacken und zog ihn an sich. Wenn sie schon lügen musste, wollte sie ihm dabei wenigstens nicht in die Augen sehen. Das machte es irgendwie weniger schlimm.
»Mein Zustand ist nicht so schlecht, wie es gestern ausgesehen hat«, erklärte sie und war dankbar dafür, dass ihre Stimme nicht wackelte. »Er ist zuversichtlich, dass er mich wieder hinkriegt.«
Manfred schickte ein Stoßgebet in den Himmel.
»Ein Glück!« Mit sanfter Gewalt löste er sich aus der Umarmung. »Und um auch einen Teil dazu beizutragen, damit es dir hier nicht zu gut gefällt, hab ich dir was mitgebracht.« Feierlich zog er einen Umschlag aus der Innentasche des Anoraks und überreichte ihn