Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Patricia Vandenberg
»Die Frage ist, ob wir Carlas Bitte nachkommen oder einfach ablehnen sollen.« Diese schwierige Entscheidung raubte ihr den Appetit, und sie stocherte in ihrem Salat mit geschmolzenem Ziegenkäse und Pistazien herum.
»Ich denke, das kommt ganz darauf an, wie sich der junge Mann inzwischen entwickelt hat«, gab Daniel zu bedenken und biss in eine Scheibe des Olivenbrots, das er nach der Sprechstunde noch schnell in der Bäckerei geholt hatte. Selbst ohne Familie in Deutschland, hatte Tatjana die Nordens kurzerhand adoptiert. Ihre Zuneigung stieß auf Gegenliebe, und Danny und sie waren gern gesehene Gäste beim Abendbrot. Diesmal trafen sie sich aber mit Freunden in einem Restaurant, und so musste der Rest der Familie mit Tatjanas Brot vorlieb nehmen. »Ob Urs einsieht, dass das, was er getan hat, Unrecht war. Und ob er wirklich vorhat, ein neues Leben zu beginnen.«
»Offenbar sieht er die Zeit im Gefängnis als positive Erfahrung«, berichtete Felicitas von dem, was die entfernte Verwandte erzählt hatte. »Er hat eingesehen, dass er auf die schiefe Bahn geraten ist und etwas ändern muss.«
»Es wäre ja schön, wenn das wirklich so wäre«, gab Daniel zurück, und seine Frau sah ihn fragend an.
»Du glaubst nicht daran?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand er. »Schließlich kann man den Leuten nur vor die Stirn und leider nicht dahinter sehen. Aber wie denkst du denn darüber?« Anders als Fee hatte der Arzt einen guten Appetit und nahm sich noch einmal von Lennis leckerem Salat, den die Haushälterin der Familie wie jedes Gericht mit viel Liebe zubereitet hatte.
Fee pickte ein Stück Tomate auf die Gabel und sah es fragend an, als ob sie eine Antwort von ihm erwartete. Im nächsten Moment steckte sie es in den Mund und kaute nachdenklich.
»Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient«, sagte sie endlich. »Mal abgesehen davon bricht es mir das Herz, wenn ich an den kleinen Kerl denke, der er mal war. Er war so süß und witzig damals. Schwer vorstellbar, dass er unter die Räder gekommen ist.«
»Das klingt so, als ob du deine Entscheidung längst getroffen hast.« Nach einer weiteren Scheibe Brot war Daniel endlich satt und lehnte sich zurück. Er trank einen Schluck Wasser und sah seine Frau über den Rand des Glases an.
Sie knabberte sichtlich an seinem Kommentar.
»Weißt du, dass du mir manchmal unheimlich bist?«, fragte sie nach einer Weile.
»Nein, warum?«
»Weil du offenbar meine Gedanken lesen kannst. Du scheinst mir tatsächlich hinter die Stirn sehen zu können.«
Daniel lächelte wie ein Schuljunge. »Aber keine Sorge. Bei dir ist das überhaupt nicht furchteinflößend«, beruhigte er seine Frau und legte seine Hand auf die ihre. »Da gibt es andere Kandidaten, bei denen ich lieber nicht wissen will, was in ihren Köpfen vor sich geht.«
»Zum Beispiel bei diesem Lammers«, warf Felix ein.
»Zum Beispiel«, stimmte Felicitas ihrem Zweitältesten zu. Doch diesmal zuckte ein Lächeln um ihre Lippen. »Hab ich eigentlich schon erzählt, dass ich einen Teilsieg gegen ihn errungen habe?«
»Nein, wie hast du das denn angestellt?« Plötzlich dachte niemand mehr an Urs Hansen, und die geballte Aufmerksamkeit richtete sich auf Fee, die nur zu gern davon berichtete, wie sie Volker Lammers den Laborbefund unter die Nase gehalten hatte, der eindeutig bewies, dass Kevin Trostmann doch nicht an Typhus litt.
*
Daniel Norden behielt recht mit seiner Einschätzung. Seine Frau hatte ihre Entscheidung getroffen und meldete sich wie versprochen am nächsten Tag bei Carla Hansen, um die Kontaktdaten von Urs zu erfragen. Das Gespräch verlief angenehm und kreiste nicht nur um das schwarze Schaf der Familie. Hin und wieder machte Carla eine Bemerkung, die Fee zum Lachen brachte.
Dr. Lammers, der vor ihrem Büro auf und ab ging, wurde allmählich ungeduldig. Er hatte etwas mit der stellvertretenden Chefin zu besprechen und als er Fee lachen hörte, ballte er eine Hand zur Faust.
»Können Sie Ihr Kaffeekränzchen eigentlich nicht zu Hause abhalten, wie es jede anständige Hausfrau tut?«, fragte er, als er endlich vor Fee Nordens Schreibtisch stand.
Angesichts dieser Frechheit wäre sie um ein Haar wieder aus der Fassung geraten. Doch das gute Gespräch hallte nach, und so gelang Felicitas ein freundliches Lächeln.
»Nur kein Neid. Nur weil meine hausfraulichen Fähigkeiten besser sind als Ihre fachliche Kompetenz im Fall Kevin Trostmann, sollten Sie nicht ausfallend werden.«
Leider hatten ihre Worte nicht die erhoffte Wirkung. Im ersten Moment wurde Lammes zwar blass, er hatte sich aber schnell wieder im Griff und legte ihr mit einer großspurigen Geste ein Blatt Papier auf den Tisch.
»Während Sie Kochrezepte austauschen, habe ich den jungen Mann noch einmal untersucht«, triumphierte er und deutete auf die Ergebnisse.
Felicitas beugte sich vor und nahm das Papier an sich.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«, erinnerte sie sich an ihre guten Manieren, während sie den Text überflog.
»Nein, danke. Ich habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. So angenehm ist Ihre Gesellschaft nun auch wieder nicht.«
»Ihre Entscheidung. Ich fühle mich ganz wohl mit mir«, erwiderte Fee ohne aufzublicken. »Wie ich sehe, haben Sie festgestellt, was ich längst wusste. Der Patient leidet unter einem deutlich messbaren Kraftverlust in den Gliedmaßen.«
»Sie wussten aber noch nicht, dass die Muskeln am Daumen und in der Handinnenfläche schon verkürzt sind.«
Mit dieser Behauptung hatte Lammers recht. Doch Fee hatte keine Gelegenheit, sich darüber zu ärgern. Ihr Blick war auf einen Begriff gefallen, der sie in Alarmbereitschaft versetzte.
»Sie haben das Babinski-Zeichen festgestellt? Haben Sie einen Neurologen zu Rate gezogen?« Das Fehlen des Reflexes, der für das Anheben der Großzehe verantwortlich war, deutete auf eine Störung der Nervenbahnen im zentralen Nervensystem – also im Gehirn oder Rückenmark – hin.
»Ich brauche keinen Babysitter«, schnaubte Dr. Lammers. »So was kann ich gerade noch selbst diagnostizieren.«
»Schön.« Fee war Profi genug, um ihren Schrecken vor dem Kollegen zu verbergen und sofort weiterzudenken. »Aufgrund der beidseitigen Muskelschwäche und Taubheit empfehle ich eine Kernspintomographie«, traf sie eine Entscheidung über die weitere Vorgehensweise und sah ihren Kollegen an.
Doch diesmal war Volker Lammers ihr eine Nasenlänge voraus.
»Die habe ich längst angeordnet«, konterte er, und es war ihm anzusehen, wie zufrieden er mit diesem, wenn auch kleinen, Sieg war. »Ich sagte Ihnen doch: Ich brauche keinen Babysitter.«
»Richtig, ich erinnere mich«, lächelte Fee. »Dann rufen Sie mich bitte, wenn die Bilder da sind.« Sie wunderte sich selbst über ihre Ruhe, als sie Lammers den Bericht zurückgab.
Das lag auch daran, dass sie Kevin Trostberg unabhängig von ihren Sympathien für Dr. Lammers in guten Händen wusste und in Gedanken schon bei ihrem nächsten Vorhaben war.
Der Kinderarzt hatte eine andere Reaktion erwartet und zog sich sichtlich enttäuscht mit dem Versprechen zurück, Fee rufen zu lassen.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, griff sie nach dem Zettel, der auf ihrem Tisch lag, und wählte die Nummer, die Carla Hansen ihr gegeben hatte.
*
»Guten Morgen, Lieblingskollegin. Wie geht’s dir?«, fragte Wendy, als sie an diesem Vormittag später als sonst in die Praxis kam.
An ihren Armen baumelten Einkaufstaschen, die von ihrem erfolgreichen Beutezug zeugten.
»Mein Körper besteht zu 60 Prozent aus Müdigkeit«, gab Janine zu und warf einen hoffnungsvollen Blick auf die Tüte mit der Aufschrift ›Schöne Aussichten‹ »Und der Rest hat Hunger.«
Wendy lachte.
»Das