Die Entdeckung Alaskas mit Kapitän Bering. Georg Wilhelm Steller
auch unter dem Namen »Große Nordische Expedition« bekannt), deren Hauptziele die Kartierung weiter Teile Sibiriens und die Erkundung der Verbindungen des Russischen Reiches mit Amerika und Japan waren. Diesen sich über mehrere Jahre hinziehenden Expeditionen (1725–1730; 1733–1743) war später ein großer Wissenschaftlerstab zugeordnet, zu dem auch Georg Wilhelm Steller gehörte.
Während Bering als dem Kapitän-Kommandeur die Gesamtleitung und Gesamtverantwortung des Unternehmens oblag, kam Steller als »Adjunktem« (Gehilfe) der Petersburger Akademie der Wissenschaften eine eher untergeordnete Stellung zu; als Mitglied des wissenschaftlichen Stabes war ihm die naturwissenschaftliche Erforschung Kamtschatkas aufgetragen worden.
Die Bedeutung Stellers als Reiseschriftsteller und als Wissenschaftler reicht jedoch weit über seinen Status im Rahmen der Expedition hinaus. Vor allem wurde er als Teilnehmer an der Amerikafahrt Berings deren bedeutendster Chronist.
Bering, der auf der Rückfahrt von Amerika starb, wurde lange Zeit der Ruhm seiner Entdeckungstaten (zugunsten des russischen Kapitäns Tschirikow) streitig gemacht; verkannt blieben auch viele Jahre hindurch die Tragweite seiner Unternehmungen und die Größe seiner Leistungen. Doch immerhin wurde er später auch als »russischer Entdecker« rehabilitiert und fand – wie Kurt Lütgen in Anlehnung an Joseph Conrad formuliert – zumindest Eingang in die »kleine Unsterblichkeit der Lexika und Atlanten« (Beringstraße, Beringmeer, Beringinsel).
Demgegenüber blieb Steller der Welt weithin unbekannt, obwohl er zu den ersten »modernen« Naturforschern und Reiseschriftstellern gehört. In seiner Heimat Deutschland fiel er der Vergessenheit anheim; nicht einmal Embachers »Lexikon der Reisen und Entdeckungen« von 1882 oder das »Biographische Lexikon der hervorragendsten Ärzte aller Zeiten und Völker« von 1887 erwähnen ihn. Steller verstarb zu früh (mit siebenunddreißig Jahren), um sein wissenschaftliches Werk vollenden und internationale Berühmtheit erlangen zu können.
Beide Männer – Bering und Steller – gingen ein Stück ihres Lebensweges gemeinsam. Obwohl ihre Beziehungen keineswegs frei von Spannungen waren, scheinen sie sich auf ihre Weise geschätzt und ergänzt zu haben: der ältere, etwas bedächtige Däne, von Ausbildung und Beruf Seemann und Soldat, und der jüngere, etwas hitzige Deutsche, von Ausbildung und Beruf Arzt und Naturwissenschaftler. Doch ungeachtet gewisser Missstimmigkeiten hat Steller den vor ihm verstorbenen Bering fair und verständnisvoll gewürdigt. Zum Teil spiegeln ihre Beziehungen nur die allgemeinen Spannungen zwischen dem (militärischen) Seekommando und dem (zivilen) Wissenschaftlerstab der Expedition wider, wie man es auch von anderen großen Entdeckungs- und Forschungsreisen her kennt (man denke etwa nur an das schwierige Verhältnis zwischen Kapitän Cook und den beiden Försters oder zwischen Kapitän Kotzebue und Adalbert von Chamisso).
Zeitgenössische Ansicht von St. Petersburg
Sowohl Bering als auch Steller sollen im Folgenden in ihren persönlichen Lebensläufen ebenso wie im Rahmen der russischen geographischen Entdeckungen vorgestellt und gewürdigt werden, insbesondere auch vor dem Hintergrund ihres gemeinsamen Schicksals und ihrer gemeinsamen Leistung während der Amerikafahrt. Da Steller der wichtigste Berichterstatter dieser Reise war und das vorliegende Buch sich auch seinem wissenschaftlichen Werk widmet, sollen seine Leistungen als Naturforscher und Reiseschriftsteller besonders hervorgehoben werden.
Die Eroberung und Erforschung Sibiriens
Die Eroberung und Erschließung Sibiriens wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von dem Handelshaus der Stroganows, einer aus dem nordrussischen Bauerntum aufgestiegenen, durch Salzhandel reich gewordenen Unternehmerdynastie, und einer Schar verwegener Kosaken unter Jermak in Angriff genommen. Der von den Stroganows ausgerüstete und bewaffnete Jermak eröffnete 1581 seinen Feldzug über den Ural nach Westsibirien, wo er die dort lebenden Völkerschaften unterwarf und Sibir (oder Isker) eroberte, die am Irtysch gelegene Hauptstadt des Tatarenkhans Kutschum. Nach Jermaks Tod (1584) gingen die westsibirischen Eroberungen zeitweilig wieder verloren, doch wurde 1598 von Truppen des Zaren der Sieg über den sibirischen Khan endgültig errungen. Alle Rechte der Stroganows gingen nunmehr auf die Krone über, Westsibirien wurde dem Russischen Reich eingegliedert und die Eroberung Ostsibiriens betrieben.
Von Stützpunkten entlang der Flüsse Westsibiriens aus stießen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Händler, Kosaken und Pelztierjäger weiter nach Osten vor. »Die russische Expansion nach Sibirien und Fernost spielte sich in einem dünn besiedelten Raum ab. Die kleinen Naturvölker vermochten ihren Eroberern kaum Widerstand entgegenzusetzen. Es waren vor allem die natürlichen Reichtümer, die die russischen Jäger und Kosaken immer weiter nach Osten lockten. Sibirische Zobelfelle waren im 17. Jahrhundert einer der wichtigsten Exportartikel des Zarenreiches. Der Staat, interessiert am ›Jassak‹, den in Fellen erbrachten Tributzahlungen der eingeborenen Völker, unterstützte und sanktionierte die häufig aus privater Initiative unternommenen Expeditionen in ›neue Länder‹. Die Ausweitung des russischen Herrschaftsbereichs vom Ural bis an den Pazifik ist nicht das unmittelbare Ergebnis einer zielgerichteten Hegemonialpolitik, sondern die Summe zahlreicher spontaner Einzelaktionen, bei denen es anfänglich mehr um die Pelzausbeute als um die Ausdehnung des Machtbereichs ging« (Scheidegger).
Den Charakter derartiger Beuteexpeditionen bei der frühen russischen Landnahme in Ostsibirien hat Steller in seiner Beschreibung der »Ersten Okkupation des Landes Kamtschatka« anschaulich und eindringlich herausgearbeitet. Im Zuge spontaner Einzelaktionen drang der Kosak Deschnew an der Küste des Polarmeeres nach Osten vor. Er umschiffte dabei das heute nach ihm benannte asiatische Nordostkap im Jahre 1648 und gelangte bis zur Mündung des Anadyr. Damit war der (bald wieder in Vergessenheit geratene) Beweis erbracht, dass Asien und Amerika durch eine Meeresstraße voneinander getrennt sind. 1649 wurde Ochotsk gegründet, der erste befestigte russische Stützpunkt am Pazifik. Zwischen 1697 und 1699 durchzog der Kosak und Pelzhändler Atlassow die Halbinsel Kamtschatka, verleibte sie dem russischen Staat ein und schloss damit die erste Epoche der großen russischen Landnahme in Nord- und Ostasien ab.
»Im 18. Jahrhundert begann in dem durch Peter I. gewaltsam modernisierten Russland eine neue Phase der Entdeckungen. Neben die eher spontanen, von ihren Mitteln wie Zielsetzungen her begrenzten Beuteexpeditionen traten nun vom Staat organisierte und finanzierte Forschungsexpeditionen. Im Mittelpunkt des Staatsinteresses standen nicht mehr die ›Zobel für den Staatsschatz‹, sondern Informationen über die Beschaffenheit und Bevölkerung eines unermesslichen Gebietes, dessen Wert und Nutzen vom Maß seiner Durchdringung und Erschließung abhängig waren« (Scheidegger).
Hierzu bedurfte es einer wissenschaftlichen Infrastruktur, Vorbereitung, Begleitung und Auswertung der Forschungsunternehmungen. Zu diesem Zweck rief Zar Peter ausländische Wissenschaftler ins Land und ließ in seiner Hauptstadt St. Petersburg eine Akademie der Wissenschaften eröffnen. Besonderes Interesse schenkte Peter I. der Erforschung der Grenzen Russisch-Asiens und dessen möglichem Zusammenhang mit Amerika. Beeinflusst hatte den jungen Zaren hierbei der deutsche Denker, Gelehrte und Diplomat Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der ihn mehrmals persönlich auf die wissenschaftliche Bedeutung und den wirtschaftlichen Wert einer systematischen Erkundung der asiatischen Teile seines Reiches und besonders auch einer Klärung der geographischen Verhältnisse zwischen Asien und Amerika hinwies.
Auch die Pariser Akademie der Wissenschaften hatte anlässlich des Zarenbesuchs im Jahre 1717 auf eine Lösung dieses geographischen Problems gedrängt. Im entdeckungsgeschichtlichen Zusammenhang ging es hierbei um die Suche nach der Nordostpassage, nach einem Seeweg durch das Eismeer nach Japan, China und Indien, den die Kartographen des 16. und 17. Jahrhunderts oftmals – in Anlehnung an den Reisebericht Marco Polos – als »Straße von Anian« bezeichneten. Die Entdeckung der später so genannten »Beringstraße« durch Deschnew im Jahre 1648 war unbekannt geblieben oder vergessen worden. »Den im äußersten Nordosten Asiens wohnenden Tschuktschen war natürlich die gegenüberliegende Küste Amerikas gut bekannt, da die Bewohner der Tschuktschenhalbinsel mit den Bewohnern von Alaska, den Eskimos, Tauschhandel betrieben und auch manchmal mit ihnen Krieg führten. Durch die Erzählungen der Tschuktschen wussten